Als zentrales Element grosser eidgenössischer Feste und Jubiläen erlebte das Festspiel – eine neuere Variante der Gedenkfeiern – seine Blütezeit zwischen 1886 und 1914. Fast immer unter freiem Himmel wurden Schlüsselereignisse der nationalen Geschichte in sogenannten lebenden Bildern mit Chören, Massenszenen und dramatischen Dialogen aufgeführt. Die Festspiele wurden nahezu ausschliesslich von Laien dargeboten; nur schwierige und exponierte Gesangs- und Musikpartien wurden gelegentlich von Berufsmusikern bestritten.
Das Festspiel des ausgehenden 19. Jahrhunderts griff auf Elemente des traditionellen Volkstheaters (Theater), des historischen Umzugs und der patriotischen Kantate zurück. Diese Formen nationaler Selbstdarstellung waren im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bestandteile der grossen politischen Feste geworden (Nationalspiele der Schweiz). In Abgrenzung zu höfischen Formen der Repräsentation sollten hier das Volk als Souverän sich selbst zur Darstellung bringen und Aufführende und Zuschauer eins werden. Nicht zu übersehen sind aber auch Anleihen an die grosse Oper (Musiktheater) und an die Festinszenierungen der Revolution in Frankreich.
Schon Jean-Jacques Rousseau forderte eine wahrhaft republikanische und dramatische Kunst, was die Zustimmung vieler schweizerischer Aufklärer fand. Während der Helvetischen Republik und nach der Gründung des Bundesstaates 1848 erhielt diese Diskussion neue Aktualität. Gottfried Keller legte 1861 in der «Studie am Mythenstein» sein Projekt nationaler Festspiele ausführlich dar und verhalf der Idee zum Durchbruch. Einen ersten Höhepunkt der schweizerischen Festspiele bildete die Fünfhundertjahrfeier von Sempach 1886 (Schlachtjahrzeiten). In der Folge nahmen die Festspiele zunehmend gigantische Ausmasse an. In Bern traten 1891 900 Darstellerinnen und Darsteller in rund 2500 Rollen auf der 100 m breiten Bühne auf; der Zuschauerraum fasste an die 20'000 Personen. Am Lausanner Festspiel von 1903 waren gar über 2000 Aufführende beteiligt.
Das erklärte Ziel der Festspiele war das unmittelbare Erleben von Geschichte durch ihren Nachvollzug. Damit erweist sich das Festspiel als Phänomen des Historismus, der die Geschichtsdeutung um die Jahrhundertwende beherrschte. Die Krise des Historismus bedeutete in der Folge auch die Krise des historischen Festspiels. Die 1914 von Emile Jaques-Dalcroze und Adolphe Appia inszenierte «Fête de Juin» markiert den Wendepunkt. Auch nach 1914 wurden Festspiele zu Jubiläumsanlässen und bei grossen eidgenössischen Festen aufgeführt, doch als Medium der historischen Evokation verloren sie zunehmend an Bedeutung. An die Stelle der historischen Rekonstruktion traten vermehrt symbolische und allegorische Handlungen. Markantes Beispiel dieser Entwicklung ist das 1941 in Schwyz aufgeführte «Bundesfeierspiel» von Cäsar von Arx. Auch das anlässlich der Expo.02, der schweizerischen Landesausstellung von 2002, dargebotene Festspiel lässt sich in dieser Tradition ansiedeln. Auffallend war hier die deutliche Absage an konkrete Bezüge zur schweizerischen Geschichte.
Festspiele 1886-1914
1886 Sempach | Sempacher Schlachtfeier (Text Heinrich Weber, Musik Gustav Arnold) |
1891 Bern | Gründungsfeier der Stadt Bern (Text Heinrich Weber, Musik Carl Munzinger) |
1892 Basel | Festspiel zur Kleinbasler Gedenkfeier (Text Rudolf Wackernagel, Musik Hans Huber) |
1896 Genf | Poème alpestre (Text Daniel Baud-Bovy, Musik Emile Jaques-Dalcroze) |
1898 Neuenburg | Neuchâtel suisse (Text Philippe Godet, Musik Joseph Lauber) |
1899 Calven | Calvenfestspiel (Text Michael Bühler und Georg Luck, Musik Otto Barblan) |
1899 Solothurn | Die Dornacher Schlacht (Text Adrian von Arx, Musik Edmund Wyss) |
1901 Basel | Basler Bund (Text Rudolf Wackernagel, Musik Hans Huber) |
1901 Schaffhausen | Jahrhundertfeier (Text Arnold Orr, Musik Karl Flitner) |
1903 Aarau | Aargauische Centenarfeier (Text G. Fischer, Musik Eugen Kutscherra) |
1903 Lausanne | Festival vaudois (Text und Musik Emile Jaques-Dalcroze) |
1914 Genf | Fête de Juin (Text Daniel Baud-Bovy und Albert Malche, Musik Emile Jaques-Dalcroze) |