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Nationalliteratur

Das Konzept der Nationalliteratur, das eng mit jenem der Nationalsprache verbunden ist, taucht gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf und bezeichnet eine in ein und derselben Sprache geschriebene Literatur, die eine positive nationale Identität stiftet. Es wurde vor allem durch Johann Gottfried Herder und die deutsche Romantik bekannt. Die Idee der Nationalliteratur fusst nicht nur auf dem an sich schon anfechtbaren Kriterium einer einzigen Nationalsprache, sondern bezieht auch in unterschiedlichem Ausmass ethnische, psychologische und insbesondere politische Vorstellungen bei. Während die Frage nach der Beziehung zwischen Literatur und Nation nichts an Aktualität verloren hat, gilt der Begriff Nationalliteratur zu Beginn des 21. Jahrhunderts als überholt.

In der Schweiz wurde das Konzept der Nationalliteratur insbesondere zur Zeit der Epoche des Nationalismus in intellektuellen Kreisen diskutiert. Da der Hinweis auf die Nationalsprache keinen Sinn machte, insistierten die Verfechter einer schweizerischen Nationalliteratur auf den gemeinsamen Themen (Alpen, Natur, bäuerliche Welt) der verschiedenen Landessprachen, den sich darin manifestierenden Bürgersinn, dem – didaktisch oder antiromantischen – Realitätssinn sowie der Bedeutung, die den diskursiven Gattungen (Essay) zukam. Schon 1782 sah Doyen Philippe-Sirice Bridel in der Eigenständigkeit der Landschafts- und Sittenbeschreibung das Wesen der «nationalen Poesie». Solche Vorstellungen wurden aber oft von der literarischen Produktion selbst widerlegt, und ein grosser Autor wie Gottfried Keller wies die Idee einer spezifisch schweizerischen Literatur jenseits der grossen deutschen, französischen oder italienischen Spracheinheiten zurück (Deutschsprachige Literatur). Demnach wäre nämlich die rätoromanische Literatur die einzige «schweizerische Nationalliteratur»; umso mehr, als Texte in deutschem, französischem oder italienischem Dialekt selten als Literatur galten. In der Wissenschaft wurde eine ähnliche Haltung vertreten, so in Jakob Bächtolds «Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz» (1887-1892). Allerdings setzte sich zur gleichen Zeit der von Virgile Rossel geprägte Begriff der Littérature de la Suisse romande oder der von Philippe Godet ins Spiel gebrachte Ausdruck der Littérature de la Suisse française durch (Französischsprachige Literatur). 1913 beschrieb Francesco Chiesa das Tessin als «loyale Schwester» der «eidgenössischen Familie», aber als Tochter Italiens, als Tochter della Gran Madre (Italienischsprachige Literatur).

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs und angesichts der Notwendigkeit, den kulturellen Graben zwischen den beiden grossen Sprachräumen des Landes zuzuschütten, stellte die Synthese «Geschichte der schweizerischen Literatur» (2 Bde., 1910) von Rossel und Henri Ernest Jenny das Bild einer literarischen Einheit der Schweiz wieder her. Die jeweiligen Sprachräume würden zwar unabhängig voneinander arbeiten, nährten sich jedoch aus dem gleichen Geist und huldigten dem gleichen Ideal. Die überzeugendste Opposition gegenüber dieser Form des literarischen Helvetismus stammte von Edmond Gilliard, der die fundamentale Bedeutung der Sprache im Vergleich zu allen anderen Klassifizierungskriterien hervorhob. Arminio Janner vertritt eine ähnliche Haltung, wenn er feststellt, es gäbe zwar Tessiner Schriftsteller, aber keine «Literatur der italienischen Schweiz».

Mit dem Aufkommen der totalitären Ideologien erstarkte in den 1930er Jahren erneut die Idee eines nationalen oder gar nationalistischen Ganzen der schweizerischen Literaturen (Geistige Landesverteidigung, Landi von 1939). 1955 gab der Komparatist Fritz Ernst eine vermutlich abschliessende Antwort auf die Frage nach der Existenz einer schweizerischen Nationalliteratur: Diese sei «keine willkürliche Konstruktion, aber freilich mehr eine Idee als eine Institution». Ein Vierteljahrhundert später nahm Adolf Muschg diese Definition wieder auf und unterstrich das Anfechtbare, aber manchmal auch Nützliche der Vorstellung einer Nationalliteratur. Der «kritische Patriotismus» (Peter von Matt) der Schriftsteller, vor allem jener aus der Deutschschweiz, in der zweiten Häfte des 20. Jahrhunderts trug kaum zu einer neuen Nationalliteratur bei. Friedrich Dürrenmatt war der Ansicht, die Kultur als nationales Kapital sei eine Fiktion. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird zwar der kulturelle Wert der Mehrsprachigkeit in der Schweiz anerkannt, doch die Trennung zwischen nationaler und literarischer Identität scheint unwiderruflich zu sein. Man könnte höchstens die paradoxe Ansicht formulieren, dass die Literaturen der Schweiz «eine Nationalliteratur, die keine ist», darstellen.

Quellen und Literatur

  • E. Gilliard, «De l'usage du mot national et, en particulier, de son sens dans l'expression "littérature nationale"», in Cahiers vaudois 2, 1914, 5-19
  • G. Calgari, «Svizzera italiana e letteratura nazionale», in Storia delle quattro letterature della Svizzera, 1958, 333-342
  • F. Ernst, «Gibt es eine schweiz. Nationalliteratur?», in Späte Essays, 1963, 93-115, (1955)
  • F. Jost, «Y a-t-il une littérature suisse?», in Essais de littérature comparée 1, 1964, 315-338
  • J.R. von Salis, Schwierige Schweiz, 1968, 107-172
  • M. Gsteiger, «Nation und Literatur», in Die zeitgenöss. Literaturen der Schweiz, 1974, 57-59
  • M. Gsteiger, «Littérature et nation en Suisse», in Revue de littérature comparée 14, 1980, 403-410
  • A. Muschg, «Gibt es eine schweiz. Nationalliteratur?», in Ich hab im Traum die Schweiz gesehn, hg. von J. Jung, 21983, 119-128 (1980)
  • Lex. der Schweizer Literaturen, hg. von P.-O. Walzer, 1991
  • Nationale Literaturen heute – ein Fantom?, hg. von C. Caduff, R. Sorg, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Manfred Gsteiger: "Nationalliteratur", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.09.2009, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011214/2009-09-24/, konsultiert am 12.02.2025.