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Neue religiöse Bewegungen

Mit der wertfreien Bezeichnung neue religiöse Bewegungen wird seit den 1980er Jahren versucht, die aktuelle religiöse Vielfalt zu umgreifen. Trotzdem ist sie problematisch als Sammelbegriff für alles, was nicht in den Kategorien traditioneller oder neuer christlicher Konfessionen oder der klassischen Weltreligionen aufgeht, denn sie vereint höchst ungleiche Phänomene. «Neu» bezieht sich auf das Auftauchen in der Schweiz, in Europa, im Abendland, nicht aber zwingend auf das tatsächliche Alter eines Phänomens. Der unscharfe Begriff «religiös» vereinigt explizit religiöse mit nur peripher ritualisierten Phänomenen. Der Ausdruck «Bewegung» lässt offen, ob es sich um reelle Körperschaften oder um frei flottierendes Gedankengut handelt.

Eine traditionelle Kategorisierung schlägt Georg Schmid vor: Demnach könnten Neuoffenbarer (z.B. St.-Michaelsvereinigung in Dozwil), esoterische Gruppen (Esoterik), UFO-Bewegungen (z.B. Rael in Fully), hinduistische Gemeinden und Techniken (z.B. Schweizerische Gesellschaft für Krishna Bewusstsein in Zürich), Neuheidnisches (z.B. Wicca in Neuenhof), Okkultismus (z.B. Schwarzer Orden von Luzifer in Rothenburg) oder Psychogruppen (z.B. Vereinigung zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis) als neue religiöse Bewegungen genannt werden. Jede Auswahl bleibt aber zufällig und wird der quantitativen Vielfalt der Phänomene nicht gerecht. Claude-Alain Humbert benannte 2004 allein für Zürich 370 Einrichtungen. Gesamtschweizerische und gleichzeitig präzise Statistiken stehen nicht zur Verfügung, weil die neuen religiösen Bewegungen in Umfragen nicht ausdifferenziert werden. 2000 bezeichneten sich 57'126 Personen bzw. 0,8% der Bevölkerung als zu «anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften» gehörend.

Weil viele neue religiöse Bewegungen nicht umfassende und bindende Lebensentwürfe anbieten, sondern etwa kumulierbare Techniken wie beispielsweise Yoga vermitteln, einen einzelnen Sinnkreis (z.B. Amway) berühren oder sich als Produkteangebot im Rahmen des Marktes (z.B. Esoterikmessen) positionieren, sind Aspekte der neuen religiösen Bewegungen auch bei religiös anderweitig gebundenen Bevölkerungsschichten anzutreffen. Zudem sind viele Phänomene der neuen religiösen Bewegungen angesichts ihrer Person- bzw. Marktorientiertheit kurzlebig. Die Allgegenwärtigkeit des Internets dürfte in diesem Bereich dazu führen, dass für die Schweiz – anders als bei Kirchen, Freikirchen und Weltreligionen – kein vom übrigen Westen unterscheidbares Religionsprofil erstellbar ist.

Aspekte der neuen religiösen Bewegungen haben unübersehbare Rückwirkungen auf die klassischen religiösen Institutionen. Phänomene aus dem Bereich der Esoterik und der östlichen Spiritualität, aber auch neuheidnische Impulse (z.B. Kirchengebäude als Kraftorte) zwingen Kirchen zur Selbstreflexion. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive arbeiten das Observatoire des Religions en Suisse der Universität Lausanne, das Religionswissenschaftliche Seminar der Universität Luzern, die Institute für Religionsrecht und für Religionswissenschaft der Universität Freiburg und die Inforel in Basel zum Thema neue religiöse Bewegungen. Christlich gebunden sind die Ökumenische Beratungsstelle Religiöse Sondergruppen und Sekten in Luzern, die Katholische Arbeitsstelle Neue religiöse Bewegungen in der Schweiz in Balgach und die Evangelische Informationsstelle Kirchen – Sekten – Religionen in Rüti (ZH).

Quellen und Literatur

  • Kirchen, Sekten, Religionen, hg. von G. Schmid et al., 72003
  • R.J. Campiche, Die zwei Gesichter der Religion, 2004
  • C.-A. Humbert, Religionsführer Zürich, 2004
  • P. Bleisch Bouzar et al., Kirchen, Wohnungen, Garagen, 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Marc van Wijnkoop Lüthi: "Neue religiöse Bewegungen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.09.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011394/2010-09-07/, konsultiert am 02.12.2023.