Protestantische Orthodoxie bezeichnet einerseits Methode, Inhalt und Gestalt evangelischer Theologie, andererseits die kirchengeschichtliche Epoche, in der diese Form theologischen Denkens gepflegt wurde. Als Epoche umfasst sie den Zeitraum nach der Reformation bis zu Pietismus und Aufklärung, der in der neueren Forschung auch Zeitalter der Konfessionalisierung genannt wird (Konfessionalismus). In dieser Zeit entwickelten sich territoriale, konfessionell geprägte Kirchen, die eng mit der weltlichen Obrigkeit verbunden die Gesellschaften nach den Normen und Werten der jeweiligen Konfessionen durchdrangen. Um die wahre Lehre (Orthodoxie) und das rechte Leben zu bewahren, bildete sich an den Universitäten und Hohen Schulen eine Methode der Theologie aus, die mit Hilfe der Philosophie die Wahrheit der biblischen Offenbarung in einem theologischen System einsichtig machte. Innerhalb des Protestantismus und gegenüber dem Katholizismus sollten Inhalt und Gestalt des Lehrsystems die Einheit, die Abgrenzung und die Orientierung der eigenen Konfession gewährleisten. Protestantische Orthodoxie bedeutet daher in der Eidgenossenschaft reformierte Orthodoxie. Pietismus und Aufklärung prägten die abwertende Beurteilung, die sich bis in das 20. Jahrhundert hielt. Protestantische Orthodoxie wurde mit lebloser Erstarrung von Theologie und Kirche gleichgesetzt.
Frühorthodoxie (1566-1618)
Das von Heinrich Bullinger verfasste Zweite Helvetische Bekenntnis (1566) fand über die Eidgenossenschaft hinaus breite Anerkennung. Diese theologische Einigung hatte weitreichende kirchenpolitische Folgen. Die Verbindungen zwischen Zürich und Genf sowie dem Ausland wurden bestärkt und die reformierten Kirchen bei aller Verschiedenheit als ein Ganzes sichtbar. Dieses Vorgehen hatte Theodor Beza unterstützt. Unter seiner Leitung wurde an der Genfer Akademie mit Hilfe aristotelischer Kausalität die Lehre von der Prädestination zu einem grundlegenden Artikel der reformierten Orthodoxie. Die Bibel wurde als Urkunde der Offenbarung Gottes mit Hilfe rechter Lehre und Logik ausgelegt und in der Predigt gehört. Bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts richteten sich die Kirchen von Basel (Johann Jakob Grynaeus, Amandus Polanus von Polansdorf), Bern (Abraham Musculus) und Zürich (Johann Wilhelm Stucki, Markus Bäumler) mit gewissen Unterschieden auf diese orthodoxe reformierte Tradition hin aus.
Hochorthodoxie (1618-1675)
Die Dordrechter Synode 1618-1619 bestätigte gegen die Kritik des Jacobus Arminius und seiner Anhänger die calvinistische Lehrauffassung der Prädestination. Die Beschlüsse erlangten kirchliche Geltung in den Niederlanden, der Schweiz und in Frankreich. Das Zweite Helvetische Bekenntnis wurde nun auf dieser Linie interpretiert. Allerdings hielten die theologischen Kämpfe an. Angegriffen wurden die Prädestinationslehre durch Moyse Amyraut und die Lehre von der Inspiration der Bibel durch Louis Cappel. Umstritten war nach dem Aufkommen des Cartesianismus auch die Frage nach der richtigen Philosophie. Die Formula Consensus (1675) sollte die Kritik abwehren und die Lehrauffassungen der Dordrechter Synode bestärken. An der Abfassung waren Lukas Gernler und Peter Werenfels (beide aus Basel), François Turrettini (Genf) und Johann Heinrich Heidegger (Zürich) beteiligt.
Spätorthodoxie (1675-1725)
Dieses letzte Bekenntnis der reformierten Orthodoxie konnte sich nicht durchsetzen. In Basel wurde die Verpflichtung der Pfarrer bereits 1686 wieder aufgehoben. In Genf blieb es bis 1725 in Kraft. Am Übergang zu Pietismus und Aufklärung stand die sogenannte «vernünftige Orthodoxie» (französisch «Orthodoxie libérale»). Herausragende Vertreter waren Samuel Werenfels (Basel), Jean-Frédéric Ostervald (Neuenburg) und Jean-Alphonse Turrettini (Genf). Sie kritisierten die Streitigkeiten der Schultheologie, betonten den lebendigen Glauben und die Heiligung des Lebens und suchten nach Gemeinsamkeiten der protestantischen Kirchen (Ökumene).
Quellen und Literatur
- R. Pfister, Kirchengesch. der Schweiz 2, 1974
- O. Fatio, «L'orthodoxie protestante», in L'aventure de la Réforme, hg. von P. Chaunu, 1986
- TRE 25, 485-497
- Ökumen. Kirchengesch. der Schweiz, hg. von L. Vischer et al., 21998
- Die Religion in Gesch. und Gegenwart 6, 42003, 702-708