Bedeutendste religiöse Reformbewegung im europäischen Protestantismus zwischen Reformation und Aufklärung. Ziel des Pietismus war die biblische Erneuerung des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens mittels der geistlichen Wiedergeburt des Individuums. Die Bewegung war in den Städten und auf dem Land verankert, wurde von Frauen und Männern, Laien und Theologen getragen und barg kirchliche und separatistische Tendenzen. In der reformierten Schweiz erreichte der Pietismus 1690-1750 seinen Höhepunkt. Frühe Zentren entstanden in Bern, der Waadt, Zürich, St. Gallen und Schaffhausen. Beträchtliche Wirkung entfaltete der Pietismus in Graubünden und Basel. Genf und Neuenburg wurden später erfasst.
Als komplexe soziale Bewegung ohne feste Organisation trat der Pietismus in Bern Ende der 1680er Jahre hervor. Die Bewegung geriet wegen offener Kirchenkritik, Hausversammlungen und Missachtung des Parochialprinzips mit der kirchlichen und staatlichen Ordnung in Konflikt und in den Verdacht täuferischer Umtriebe (Täufer). 1698-1699 versuchte die Obrigkeit den Pietismus im sogenannten Pietistenprozess auszumerzen. Mit Samuel Güldin und Samuel König wurden zwei Hauptakteure aus Bern ausgewiesen. Obschon sich in Zürich vorerst keine vergleichbare Reformströmung entwickelte, wurden 1698 pietistische und täuferische Bücher beschlagnahmt und Kontakte zum bernischen Pietismus entdeckt. 1699 entstand in Vevey um den Stadtschreiber François Magny ein pietistischer Kreis. Staatlicher Druck, interne separatistische Tendenzen und der Einfluss der Inspirationsbewegung förderten die Radikalisierung der Bewegung. In Bern nahm Beat Ludwig von Muralt für die Pietisten Partei. Während der Waadtländer Nicolas Samuel de Treytorrens 1716 Berns religiöse Intoleranz brandmarkte, gingen hingegen St. Gallen, Zürich und Schaffhausen mit Mandaten gegen den Pietismus vor. Mehrere Schweizer Pietisten erlangten im Exil bzw. im Ausland Bedeutung, so etwa Ursula Meyer und Friedrich von Wattenwyl in deutschen Landen.
1720-1730 begann die partielle Integration des Pietismus ins kirchliche Leben. Sie wurde gefördert vom Berner Samuel Lutz als Vertreter der ersten und vom Bündner Daniel Willi sowie vom Basler Hieronymus Annoni als Vertreter der zweiten Generation. In den 1730er und 1740er Jahren begann der Prozess der Gemeindebildung. Es entstanden Inspirationsgemeinden, von Heimberg aus verbreiteten sich im Berner Oberland die Heimberger Brüder, in den Städten und auf dem Land bildeten sich Herrnhuter Sozietäten (Herrnhuter Brüdergemeine). In den Hausversammlungen erstarkte im Pietismus das Selbstbewusstsein der Laien und vor allem auch der Frauen. Mit Bibelausgaben, Gebet-, Andachts- und Gesangbüchern trug der Pietismus wesentlich zur gemeinschaftlichen und individuellen Erbauung bei und leistete auf den Gebieten der Diakonie, Pädagogik und Mission (Missionen) Pionierarbeit. Der schweizerische Pietismus war gesamteuropäisch vernetzt; es bestanden Beziehungen zum englischen Puritanismus, zum protestantischen Pietismus in den Niederlanden und Deutschland, zur französischen quietistischen Mystik bis hin zum Spener'schen, hallischen, herrnhutischen und radikalen Pietismus in den deutschen Landen. Wenn die schweizerische Aufklärung im Vergleich zur französischen moderat blieb, so ist dies auch auf die emanzipatorischen Impulse des Pietismus zurückzuführen, der zudem Wegbereiter der Erweckungsbewegungen war. Originale Positionen zwischen Pietismus, Aufklärung und Erweckung wurden von Johann Kaspar Lavater, Ulrich Bräker oder Anna Schlatter-Bernet vertreten.