de fr it

Erweckungsbewegungen

Réveil

Der Begriff Erweckungsbewegungen bezeichnet religiös motivierte Erneuerungsbemühungen im europäischen und nordamerikanischen Protestantismus des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Erweckungsbewegungen in den angelsächsischen Ländern hatten durch ihren zeitlichen Vorsprung und bedeutungsmässigen Vorrang auch Vorbildcharakter für die Schweiz. Insgesamt ist die Erweckung als Teil des neuzeitlichen Modernisierungsprozesses der Gesellschaft zu verstehen.

"Madame K***, die unglückliche Prophetin". Anonymer Holzschnitt, 1817 (Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD Visch. F 40).
"Madame K***, die unglückliche Prophetin". Anonymer Holzschnitt, 1817 (Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD Visch. F 40). […]

In der Schweiz entstanden zwei Zentren: Die 1780 in Basel nach englischen und schwedischen Vorbildern gegründete Deutsche Christentumsgesellschaft setzte sich unter Betonung traditioneller Glaubenslehren zum Ziel, der rationalistischen Aufklärungstheologie entgegenzuwirken. Von Basel aus organisierte sie ein internationales Netz, bestehend aus Einzelpersönlichkeiten und kleinen Zirkeln, in denen der private Austausch gepflegt und einschlägiges Schrifttum verbreitet wurde. Aus der Christentumsgesellschaft ging nach der Jahrhundertwende eine Reihe missionarischer, pädagogischer und karitativer Organisationen hervor wie etwa 1802 die Gesellschaft zur Verbreitung erbaulicher Schriften, 1804 die Bibelgesellschaft, 1815 die Basler Mission und 1840 die Pilgermission St. Chrischona (Chrischona-Gemeinden). Daneben entstanden im Geist der Erweckungsbewegungen zahlreiche soziale Einrichtungen wie 1820 die Schulanstalt Beuggen (Baden, D) und 1833 die Basler Taubstummenanstalt. An der Universität Basel wurde ein Lehrstuhl für Theologie gestiftet, dessen erster Inhaber Johann Tobias Beck war. Das überregional orientierte Basler Patriziat und auswärtige Unterstützungsvereinigungen waren die wichtigsten Träger dieser christlichen Werke. Dies trug zur Öffnung des traditionell kantonal ausgerichteten Protestantismus bei. Nach 1850 gingen Impulse der Erweckung in der entstehenden kirchlich-konservativen Richtung auf.

Junge Theologen unter der Führung von Ami Bost begründeten den sogenannten Réveil in Genf, wo das zweite Zentrum entstand. Auf Traditionen des Herrnhutertums zurückgreifend, suchten sie ab etwa 1810 – zum Teil in enger Beziehung zur Freimaurerloge L'Union des cœurs – nach einer Alternative zu dem in Kirche und Akademie vorherrschenden Rationalismus. Barbara Juliane von Krüdener unterstützte sie dabei, doch erst die Begegnung mit den britischen Evangelikalen Richard Wilcox, Robert Haldane und Henry Drummond führte zur Separation und zu Gemeindebildungen. Treibende Kraft war unter anderem César Malan. Drummond beschäftigte oppositionelle Theologen, die in Genf keine Anstellung mehr finden konnten, in der sich bildenden Gesellschaft zur Evangelisation des europäischen Kontinents. Mit der Errichtung der Evangelischen Gesellschaft 1831 konnte der Réveil seine gesellschaftliche Basis in Genf wesentlich vergrössern. Zu den Gründungsmitgliedern der Evangelischen Gesellschaft gehörten die seit 20 Jahren dem Réveil verpflichteten Theologen Antoine Jean-Louis Galland und Louis Gaussen sowie Angehörige von Genfs bürgerlicher Elite, welche dem Verein die finanzielle Grundlage sicherten. Ihre Hauptaufgabe sah die Evangelische Gesellschaft in der Organisation und Finanzierung von Evangelisationskampagnen in Frankreich sowie in Errichtung und Unterhalt einer «Predigerschule» in Genf. Diese 1832 gegründete Lehranstalt bekannte sich in antiliberaler Frontstellung zu orthodoxen christlichen Fundamentalartikeln. 1849 schlossen sich die separierten Gemeinde zur Église libre (Evangelische Freikirchen) zusammen. Die Genfer Staatsregierung griff nicht in die kirchlichen Konflikte ein und liess die ungehinderte Entfaltung des Réveil zu.

Vom Genfer Réveil gingen wesentliche Impulse aus, die nicht nur die protestantischen Kirchen in den Nachbarkantonen erreichten, sondern auch Frankreich – und in bescheidenem Mass auch die Niederlande und Grossbritannien (Evangelisch-reformierte Kirchen). Galland, der 1816-1824 an der Französischen Kirche wirkte, brachte den Réveil nach Bern. Hier wurde 1831 ähnlich wie in Genf die Evangelische Gesellschaft ins Leben gerufen. Diese widmete sich neben karitativen Anliegen insbesondere dem christlichen Schulwesen sowie der Lehrerbildung und lehnte den Separatismus ab. Der Réveil hatte auch Einfluss auf die Etablierung einer staatsfreien, dem calvinistischen Bekenntnis verpflichteten Kirche im Kanton Neuenburg (1873-1943) sowie einer Freikirche im Kanton Waadt (1845-1966).

Zwischen den von Basel und Genf ausgehenden Bewegungen bestanden mehrere Parallelen, zum Beispiel in Bezug auf ihre theologische Begründung, Motivation, Aufgabenfelder, gesellschaftliche Verankerung und ihren Verlauf. Konstitutiv waren Vorbild und Beispiel des britischen Evangelikalismus. Die Bedeutung der Erweckungsbewegungen geht über die organisatorisch sichtbaren Aktivitäten ihrer Mitglieder hinaus und ist noch unzureichend erforscht.

Quellen und Literatur

  • R. Dellsperger et al., Auf dein Wort, 1981
  • R. Pfister, Kirchengesch. der Schweiz 3, 1984, 171-259
  • H. Hauzenberger, Basel und die Bibel, 1996
  • Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jh., hg. von U. Gäbler, 2000, 25-84
Weblinks

Zitiervorschlag

Ulrich Gäbler: "Erweckungsbewegungen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.03.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011425/2011-03-23/, konsultiert am 18.03.2024.