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Freikirchen und Sekten

Die Begriffe Freikirche und Sekte sind vieldeutig und werden in der landeskirchlich geprägten Schweiz meist relational verwendet: Sie bezeichnen religiös geprägte Gruppen mit kleinerem (Freikirche) oder grösserem (Sekte) Abstand zur gesellschaftlich determinierten «Orthodoxie» der Landeskirchen. Die seit der Reformation bestehenden Freikirchen sind dadurch charakterisiert, dass die Gemeinde frei von staatlichen Abhängigkeiten sind und ihre Mitglieder aus freier Entscheidung – und nicht durch Geburt – beitreten. Der Begriff Freikirche stammt aus dem 19. Jahrhundert. Er ist weitgehend wertfrei und wird nur auf Gemeinden angewendet, deren Glauben und Struktur als vertretbare Varianten des Christentums gelten. Wichtiges Kriterium ist dabei die Bereitschaft der Gemeinde zu ökumenischer Zusammenarbeit.

Der Begriff Sekte steht seit dem antiken Christentum für eine stets negative Bezeichnung von dissidenten und zu verwerfenden christlichen Gruppen. Die vielen Definitionen des Begriffs sind zeit- und situationsgebunden: in der Antike meist dogmatisch, im Mittelalter meist kirchenrechtlich, in der Neuzeit oft politisch, in der Gegenwart grundrechtsorientiert. Wertneutrale Definitionen haben sich im Alltag nie durchgesetzt.

Dissidente Gruppierungen haben seit der Christianisierung Anteil am schweizerischen Christentum. Der Arianismus hat im Altertum nicht zu überdauernder Gruppenbildung geführt. Im Spätmittelalter sind Spuren der Waldenser, die häufig verfolgt wurden, feststellbar. Mit den Täufern entstanden in der Reformationszeit erste eigenständige Gemeinschaften, die dem soziologischen Typus der Freikirchen entsprachen und trotz jahrhundertelanger Verfolgungen bis heute fortbestehen; keine Möglichkeit zur Kirchenbildung in der Schweiz fanden die Antitrinitarier. Der Aufbruch des Pietismus führte trotz vorhandener separatistischer Tendenzen meist zur Ausdifferenzierung kirchlicher Positionen. Gemeinschaftsbildungen wie die der Heimberger Brüder bildeten Ausnahmen. Hingegen gewannen ausländische Gemeinschaften wie vorerst die Herrnhuter Brüdergemeine und später der Methodismus (Methodisten) Einfluss. Das 19. Jahrhundert kann als Zeit der doppelten Erweiterung gesehen werden: Im Zug der Erweckungsbewegungen entstanden neue Gemeinschaften wie die freien evangelischen Gemeinden, die Chrischona-Gemeinden sowie die Neutäufer. Die allmähliche Lockerung der starren Staatskirchlichkeit ermöglichte auch ein langsames (und nicht unbehelligtes) Eindringen nichtschweizerischer Gruppierungen vor allem aus dem englischsprachigen Raum (Adventisten, Darbysten, Heilsarmee, Mormonen, Zeugen Jehovas). Aus Deutschland kamen die katholisch-apostolische Kirche und die neuapostolische Kirche. Einen innenpolitischen Sonderfall bilden die territorial bestimmten evangelischen Freikirchen Genfs, Neuenburgs und der Waadt.

Der Prozess der Pluralisierung schritt im beginnenden 20. Jahrhundert fort. Neue Gemeinschaften entstanden (u.a. der evangelische Brüderverein), andere fanden von aussen her Eingang in die Schweiz (Christengemeinschaft, christliche Wissenschaft, pfingstliche Freikirchen, Quäker). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es immer mehr Sekten und Freikirchen, die in der Schweiz Fuss fassten. Einige haben ihre Wurzeln im Christentum (u.a. Einzelgemeinden im Kontext der charismatischen Bewegung, Geistige Vereinigung Methernitha, Missionswerk Mitternachtsruf, Orden Fiat Lux, St. Michaelsvereinigung, Universelles Leben, Vereinigungskirche), andere in einer oder mehreren anderen Religionen (Baha'i, Hare-Krishna-Bewegung bzw. Sonnentempler, Pro Beatrice). Wiederum bei anderen ist der Religionsanspruch grundsätzlich umstritten (Scientology, transzendentale Meditation, Verein für psychologische Menschenkenntnis). Entstehungs-, Verschiebungs- und Erneuerungsprozesse sind fortwährend im Gang.

Einerseits sorgen ökumenisches Denken und Handeln für zunehmende Vernetzungen der christlichen Konfessionen in dogmatischer und praktischer Hinsicht. Neuere überkonfessionelle Aufbruchsbewegungen können diese Tendenz zum Teil stützen, wobei gesprächsbereite Gemeinden eine «Entwicklung zur Freikirche» durchlaufen. Andererseits sorgten in letzter Zeit Konflikte mit verschiedenen Neureligionen, eigentliche «Sektendramen» (1994 Selbstmorde und Morde von 53 Sonnentemplern in Cheiry und Salvan sowie Kanada) und Spekulationen um den Wechsel des Jahrtausends für polemische Auseinandersetzungen um religiöse und gesellschaftliche Werte.

Quellen und Literatur

  • TRE 11, 550-563
  • Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz, hg. von A. Dubach, R.J. Campiche, 1993
  • M. van Wijnkoop Lüthi, Die Sekte ... die anderen? 1996
  • L'Etat face aux dérives sectaires, hg. von F. Bellanger, 2000
  • Kirchen, Sekten, Religionen, hg. von G. Schmid, G.O. Schmid, 72003
Weblinks

Zitiervorschlag

Marc van Wijnkoop Lüthi: "Freikirchen und Sekten", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 12.06.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011437/2012-06-12/, konsultiert am 29.03.2024.