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Religiöse Toleranz

Der Begriff religiöse Toleranz leitet sich vom lateinischen tolerare (ertragen) ab und bezeichnete lange Zeit die Duldung religiöser Auffassungen und Glaubensrichtungen, die sich nicht unterdrücken liessen. Mit der Aufklärung und der fortschreitenden Trennung von Kirche und Staat erfuhr der Ausdruck eine Aufwertung. Gleichzeitig verlor der Kampf gegen die heterodoxen Bewegungen (Ketzer), der im Mittelalter intensiviert worden war und sich bis ins 18. Jahrhundert erstreckte, an Überzeugungskraft. 1798 wurde die Gewissens- und Glaubensfreiheit in die helvetischen Verfassung aufgenommen.

Da die Bundesverfassung (BV) von 1848 die «freie Ausübung des Gottesdienstes» nur den «anerkannten christlichen Konfessionen» zugestand, dauerte es bis zur BV von 1874, bis die volle Religionsfreiheit garantiert wurde. Dieses Recht wurde 1948 auch in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aufgenommen. Nichtsdestotrotz kam es bis ins 21. Jahrhundert zu Ungleichbehandlungen, die manchmal mit anderen Faktoren wie Fremdenfeindlichkeit oder wirtschaftlichen und politischen Problemen einhergingen. Bis in die 1950er Jahre betrafen diese vor allem Konflikte unter den christlichen Konfessionen (Ökumene) und weniger Differenzen zwischen Christentum und Judentum, während sie in den letzten Jahrzehnten vermehrt auf den Islam zielten.

Ancien Régime

Titelseite des 1659 veröffentlichten Werks Irenicum Catholicum von Thomas Henrici (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern).
Titelseite des 1659 veröffentlichten Werks Irenicum Catholicum von Thomas Henrici (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern). […]

Nachdem die Reformation zu einem ganz neuen religiösen Pluralismus geführt hatte, sprachen sich nur wenige Gelehrte und Kirchenvertreter für die religiöse Toleranz aus. Vielmehr herrschte die Vorstellung vor, dass nur die «wahre» und somit alleinige Religion zum Heil führte. In der Debatte um die Hinrichtung von Michel Servet in Genf 1553 gehörte Sebastian Castellio zu den seltenen Verfechtern der religiösen Toleranz. Zur Überwindung der konfessionellen Schranken schlugen die Anhänger der Via media wie Valentin Tschudi, Bruno Amerbach oder Konrad Pellikan erfolglos vor, dass sich Reformierte, Lutheraner und Katholiken bezüglich ihrer Lehrmeinungen im Schoss einer erneuerten katholischen Kirche annähern sollten. Die Verhärtung der konfessionellen Gegensätze (Konfessionalismus) setzte solchen Bestrebungen ein Ende. Ausnahmen bildeten John Duries Projekt zur Vereinigung der reformierten Kirchen oder Thomas Henricis Aufruf zur friedlichen Wiedervereinigung der christlichen Kirchen im 17. Jahrhundert.

Die Obrigkeiten blieben ihrer Staatsraison verpflichtet. In den gemischtkonfessionellen Gebieten und den gemeinen Herrschaften regelten die Landfriedensbünde und Ordnungen die friedliche Koexistenz zwischen Katholiken und Reformierten (Konfessionelle Parität). Gleichzeitig verfochten die Orte auf ihrem eigenen Gebiet im Namen des konfessionellen Territorialitätsprinzips die Einheit der Kirche und bekämpften religiöse Minderheiten wie die Antitrinitarier, die Täufer oder die Anhänger des Pietismus unnachgiebig, vor allem dann, wenn diese sich des Ungehorsams gegenüber der Obrigkeit schuldig gemacht hatten. Aus diesen Kreisen wurden denn auch ab Ende des 17. Jahrhunderts Stimmen laut, die sich für religiöse Toleranz aussprachen, so Bernhard Ludwig Göldlin oder Nicolas Samuel de Treytorrens. Auch einige Hugenotten wie Jean Barbeyrac und Antoine Court, die in die Schweiz geflüchtet waren und in Kontakt mit ihren Glaubensgenossen in den Vereinigten Niederlanden standen, machten sich dafür stark. Naturrecht und Rationalismus begünstigten die Toleranzidee, die im 18. Jahrhundert im Zug der sogenannten vernünftigen Orthodoxie eines Samuel Werenfels, Jean-Alphonse Turrettini oder Jean-Frédéric Ostervald weiter an Boden gewann.

Neben politischen, religiösen und philosophischen Argumenten wurden auch ökonomische Überlegungen zugunsten der religiösen Toleranz angeführt. Um die Wirtschaftsentwicklung in der Schweiz zu beschleunigen, sprachen sich deren Befürworter für die Aufnahme und Einbürgerung von Fremden ohne Rücksicht auf die konfessionelle Zugehörigkeit aus. In Zürich forderte gar ab Ende des 17. Jahrhunderts ein Teil einer Ratskommission für Handelsfragen vergeblich das Niederlassungsrecht für Juden. Die in Lengnau (AG) und Endingen tolerierten jüdischen Gemeinden bauten sich 1750 bzw. 1764 Synagogen.

Auch wenn die Orte keine Toleranzedikte verkündet hatten, so begann der Gedanke der religiösen Toleranz ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den aufgeklärten Gesellschaften (Freimaurerlogen, Helvetische Gesellschaft), die ihre Mitglieder aus beiden Konfessionen rekurrierten, Fuss zu fassen. Mit der Säkularisierung kam zudem ein neues Staatsverständnis auf. Der Souverän verteidigte nicht mehr die Orthodoxie, sondern beschränkte sich auf das Überwachen, indem er dafür sorgte, dass die Religionen die öffentliche Ordnung nicht störten.

Seit der Gründung des Bundesstaats

Abgesehen vom kurzen Intermezzo der Helvetischen Republik, deren Verfassung die Religionsfreiheit garantierte, bestimmten bis 1848 die Kantone das Niederlassungsregime, wobei sie religiöse Minderheiten von ihrem Kantonsgebiet fernzuhalten suchten. Eine Brückenfunktion übten die konfessionell gemischten Kantone aus, die beide christliche Konfessionen akzeptieren mussten. In Bezug auf die Heirat von Eheleuten unterschiedlicher Konfessionen bestanden zum Teil unüberwindbare Hindernisse. 1850 wurde das Bundesgesetz betreffend die gemischten Ehen verabschiedet. Dieses hob kantonale Regelungen auf, welche die Eheschliessung zwischen Brautleuten unterschiedlicher Konfession erschwerten. 1861 wurde es gegen den Willen katholischer Kreise um die Erleichterung der Scheidung von Paaren unterschiedlicher Konfession ergänzt. Die konfessionellen Gegensätze verschärften sich mit dem Kulturkampf und mündeten in die Ausnahmeartikel der totalrevidierten BV von 1874, die erst 1973 (Kloster- und Jesuitenverbot) bzw. 2001 (Bistumsartikel) abgeschafft wurden.

Die Schweizer Juden waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einigen Gemeinden und Kantonen geduldet, durften sich aber nicht überall niederlassen und bestimmte Gewerbe sowie der Erwerb von Grundeigentum blieben ihnen untersagt. Die BV von 1848 garantierte die freie Niederlassung, die Kultusfreiheit und die Gleichbehandlung der Kantonsbürger nur Schweizern christlicher Konfession. Nachdem die Schweiz verschiedene Niederlassungsverträge (u.a. 1850 und 1855 mit den USA) sowie 1864 einen Handels- und Niederlassungsvertrag mit Frankreich, der allen französischen Staatsangehörigen und damit auch französischen Juden die Rechtsgleichheit und die Freizügigkeit in der Schweiz einräumte, abgeschlossen hatte, wurden 1866 den Schweizer Juden die Niederlassungsfreiheit und die Rechtsgleichheit zugestanden. Aber erst 1874 gewährleistete die neue BV die volle rechtliche Gleichstellung. Allerdings brachte 1893 die Annahme der Initiative für ein Schächtverbot in der Verfassung einen Rückschlag. Der Antisemitismus der Zwischenkriegsjahre belastete die Politik der Schweiz gegenüber den Flüchtlingen. So wurde das Flüchtlingsrecht nicht an die Situation der Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes angepasst: Wer aus «rassischen», religiösen oder ethnischen Gründen verfolgt wurde, erhielt keinen Asylschutz. Dies führte während des Zweiten Weltkriegs zu einer harten und umstrittenen Praxis der Behörden, die noch Jahrzehnte später heftige Diskussionen provozierte.

Mit der Einwanderung von Arbeitnehmern und Flüchtlingen aus der ganzen Welt seit den 1970er Jahren, namentlich von Muslimen und begrenzt von Mitgliedern der orthodoxen Kirchen, nahm die Vielfalt der Religionen zu. Die interkulturelle Realität erforderte rechtliche Klärungen durch das Bundesgericht: Religiöse Feiertage konnten Vorrang vor der Schulpflicht beanspruchen, einem muslimischen Mädchen wurde der Dispens vom Schwimmunterricht gewährt und religiöse Minderheiten erhielten auch im Gefängnis die entsprechende religiöse Betreuung. Ein Recht auf einen Friedhof mit ewiger Grabesruhe lehnte das Bundesgericht hingegen ab, doch stellten die Kantone und Gemeinden ausserhalb eines Rechtsanspruchs spezielle Gräberfelder bereit. Das Tragen eines Kopftuchs wurde einer Lehrerin verboten. 2009 änderte das Bundesgericht seine Haltung zum Dispens im Schwimmunterricht. Zudem wurde im gleichen Jahr die sogenannte Minarett-Initiative deutlich angenommen, die den Bau von Minaretten verbot. Die Annahme wurde als Unbehagen weiter Bevölkerungskreise gegen den politischen Islam gedeutet und löste eine breite politische und staatsrechtliche Debatte aus.

Quellen und Literatur

Ancien Régime
  • J. Lecler, Histoire de la tolérance au siècle de la Réforme 2, 1955
  • H.R. Guggisberg, «Parität, Neutralität und Toleranz», in Zwingliana 15, 1982 632-649
  • M. Turchetti, Concordia o tolleranza?, 1984
  • La liberté de conscience (XVIe-XVIIe siècles), hg. von H.R. Guggisberg et al., 1991
  • S. Zurbuchen, Naturrecht und natürl. Religion, 1991
  • Union - Konversion - Toleranz, hg. von H. Duchhardt, G. May, 2000
Seit der Gründung des Bundesstaats
  • Muslime und schweiz. Rechtsordnung, hg. von R. Pahud de Mortanges, E. Tanner, 2002
  • Jüd. Lebenswelt Schweiz, hg. von G. Rosenstein et al., 2004
  • Eine Schweiz - viele Religionen, hg. von M. Baumann, J. Stolz, 2007
Weblinks

Zitiervorschlag

Danièle Tosato-Rigo; Andreas Kley: "Religiöse Toleranz", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.11.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011452/2011-11-08/, konsultiert am 17.04.2024.