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Ökumene

Der aus dem Griechischen stammende Begriff Ökumene bezeichnet nach antikem Sprachgebrauch die von den Menschen bewohnte Erde. In der Theologie beinhaltet der Begriff mehrere Bedeutungen, meint hier aber, in einem innerchristlichen Sinn, die Bemühungen der christlichen Kirchen um Wiederherstellung der sichtbaren Einheit der Kirche.

In der Schweiz war das religiöse und öffentliche Leben ab der Reformation vom Antagonismus zwischen katholischer und reformierter Konfession geprägt, der in der Frühneuzeit in verschiedene innere, schwere Auseinandersetzungen mündete (Konfessionalismus). Doch die verfeindeten Eidgenossen fanden dank gemeinsamen Interessen – zum Beispiel der Verwaltung der lukrativen gemeinen Vogteien – nach jedem Konflikt wieder einen Modus vivendi. Auch auf kirchlich-theologischer Seite gab es Versuche, den konfessionellen Zwist zu überwinden. Zu den Vertretern der «frühökumenischen» Irenik zählte etwa im 17. Jahrhundert der Basler Weihbischof Thomas Henrici. Auf reformierter Seite stand die Überwindung der innerprotestantischen Spaltung im Vordergrund. Die Reformrichtung der «vernünftigen Orthodoxie» setzte sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert für die Einheit mit Lutheranern und Anglikanern auf der Grundlage der sogenannten Fundamentalartikel ein.

Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts kam es im Zeichen von Aufklärung und religiöser Toleranz zu vermehrten Begegnungen über die Konfessionen hinweg und zu einer vor allem politisch-humanitär motivierten Gesprächsbereitschaft innerhalb der Eliten, etwa in der Helvetischen Gesellschaft. Die ab den 1830er Jahren einsetzende Rekonfessionalisierung erschwerte aber diese Annäherungen. Ansätze zu einer religiösen Verständigung waren selten und zeigten sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert innerhalb der Bewegungen des Pietismus, der katholischen Aufklärung, der Erweckungsbewegung und der Romantik. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es vereinzelt «ökumenisch» gesinnte Visionäre. Die 1871-1876 entstandene christkatholische Kirche folgte einer ökumenischen Zielvorstellung, die sie in engere Beziehungen zur anglikanischen und orthodoxen Kirche führte. Doch als mögliche «Brückenkirche» im schweizerischen katholisch-protestantischen Kontext blieb ihr Einfluss gering. Namentlich die beiden grossen Konfessionen hielten an einem ausgeprägten Konfessionalismus fest, sodass sich das Zusammenleben von Katholiken und Reformierten in der Schweiz bis Ende der 1950er Jahre als ein nicht konfliktfreies, überwiegend distanziertes Nebeneinander gestaltete.

Im 20. Jahrhundert gab es auf allen Seiten auch Pioniere und Vordenker, die trotz Kritik aus den eigenen Reihen wichtige Aufbauarbeit leisteten – abgesehen davon, dass gesellschaftlicher Wandel und konfessionelle Durchmischung in der Diaspora die Bereitschaft zur Ökumene förderten. In der Zwischenkriegszeit pflegten protestantische Theologen wie Adolf Keller, Alphons Koechlin, Emil Brunner und der Jurist Max Huber das ökumenische Gespräch im innerevangelischen Bereich, während sich auf christkatholischer Seite Arnold Gilg und Ernst Gaugler engagierten. In Bern bildete sich ein ökumenischer Kreis um den reformierten Pfarrer Richard Bäumlin. Nachhaltige Impulse gaben auf katholischer Seite der Theologe Charles Journet und Bischof Marius Besson. Nach dem zweiten Weltkrieg kam es unter dem Einfluss der von Deutschland ausgehenden Una-Sancta-Bewegung zu verstärkten ökumenischen Bestrebungen. Bahnbrechend wirkten der katholische Theologe Otto Karrer und der reformierte Pfarrer Richard Kraemer. Auf ihre Initiative hin entstanden unter anderem in Luzern, Zürich, Bern und Basel sogenannte ökumenische Arbeitskreise, die mit Tagungen in Stans (1947) und Einsiedeln (1962) eine überregionale Ausstrahlung erreichten. Eine noch kaum erforschte Rolle für die interkonfessionelle Kooperation und den Abbau konfessioneller Vorurteile dürfte die schweizerische Milizarmee gespielt haben, insbesondere in der Zeit des Aktivdienstes. Die ökumenischen Bemühungen der Zwischen- und unmittelbaren Nachkriegszeit liefen parallel und standen teilweise in enger Wechselwirkung mit der ökumenischen Bewegung, die im 20. Jahrhundert weltweit in Gang kam. Wichtige Stationen waren die Weltmissionskonferenz in Edinburgh (1910), die Weltkonferenz für praktisches Christentum in Stockholm (1925) und die Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Lausanne (1927). Diese ökumenische Bewegung konstituierte sich 1948 im Ökumenischen Rat der Kirchen mit Sitz in Genf, einem Zusammenschluss von damals 147 protestantischen, altkatholischen und orthodoxen Kirchen, denen seit 1961 ein trinitarisches Bekenntnis als Basisformel dient.

Eine neue Epoche in der Geschichte der Ökumene begann mit dem von Papst Johannes XXIII. einberufenen Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965), das eine seiner besonderen Aufgaben in der Förderung der kirchlichen Einheit sah (Vatikanische Konzile). War die katholische Kirche der Ökumene bis dahin mit grosser Zurückhaltung gegenübergestanden, weil sie Einheit als Rückkehr in ihren Schoss verstand, so brachte das Konzil die Wende. Die Anwesenheit offizieller Beobachter aus zahlreichen nicht katholischen Kirchen trug massgeblich mit dazu bei, dass sich das Konzil im Dekret «Unitatis redintegratio» zur Ökumene verpflichtete.

Einweihung der Chapelle de l'Unité in Develier, 25. Juni 2000. Fotografie von Jean-Claude Gadmer © Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg, Sammlung CIRIC.
Einweihung der Chapelle de l'Unité in Develier, 25. Juni 2000. Fotografie von Jean-Claude Gadmer © Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg, Sammlung CIRIC. […]

In der Schweiz hat die ökumenische Öffnung nach dem Konzil auf kirchlicher wie gesellschaftlicher Ebene rasch einen vielseitigen Ausdruck gefunden. Bereits 1965 nahmen die reformierte, christkatholische und katholische Kirche offizielle Gespräche auf. Zur Klärung theologischer Streitfragen bildeten die Schweizer Bischofskonferenz (SBK), der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) und die christkatholische Kirche Gesprächskommissionen. Die Institutionalisierung des ökumenischen Dialogs hatte in den folgenden Jahren gemeinsame Erklärungen dieser drei Kirchen zu der konfessionell gemischten Ehe (1967), der gegenseitigen Anerkennung der Taufe (1973), zu ökumenischen Gottesdiensten (1970, 1979) und Trauungen (1973, 1993) sowie gesellschaftspolitischen Fragen im Bereich der Ausländer-, Flüchtlings- und Asylpolitik (1985, 1987) zur Folge. 1971 wurde die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz gegründet. Ihr gehören neben den drei Landeskirchen auch Frei- und Minderheitenkirchen wie die evangelisch-methodistische Kirche, der Bund der Baptistengemeinden, die Heilsarmee, seit 1973 auch der Bund evangelisch-lutherischer Kirchen an. 1990 sind der Arbeitsgemeinschaft die orthodoxen Kirchen der Schweiz beigetreten, welche unter der Koordination des orthodoxen Zentrums des ökumenischen Patriarchats von Chambésy stehen.

Der heute von den Kirchen bilateral und multilateral geführte zwischenkirchliche Dialog wird ergänzt durch die Zusammenarbeit konfessioneller Vereine und sozial-karitativer Dienste sowie anderer kirchlicher Institutionen, namentlich im Bildungs- und Medienbereich, ferner auf universitär-theologischer Ebene (ökumenische Arbeitsprojekte und Institute, Gastdozenturen an anderen theologischen Fakultäten) sowie besonders auf Gemeindeebene (ökumenische Gottesdienste und Trauungen). Eingespielt ist seit 1970 die Kooperation der kirchlichen Hilfswerke Fastenopfer und Brot für alle, mit denen seit 1992 auch die Organisation Partner sein zusammenarbeitet. Umgekehrt bot die nachkonziliare Ökumene auch Veranlassung zu irrealen Hoffnungen, gegenseitigen Verstimmungen und Spannungen zwischen Basis und Kirchenleitungen; gelegentlich kamen auch ältere Vorurteile wieder zum Vorschein. Insgesamt jedoch hat sich das ökumenische Klima seit dem Zweiten Vatikanum grundlegend gewandelt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht sich die Ökumene in der Schweiz von der fortschreitenden Säkularisierung, einer damit einhergehenden Betonung traditioneller Positionen in den jeweiligen Kirchen, mehr noch von einem schwindenden konfessionellen Bewusstsein des Kirchenvolks – vor allem der Jugend – und zugleich von der Notwendigkeit des Dialogs mit anderen Religionen herausgefordert, insbesondere mit dem Islam (interreligiöse Ökumene).

Quellen und Literatur

  • P. Vogelsanger, «Über die Anfänge der ökumen. Bewegung in der Schweiz», in Freiheit in der Begegnung, hg. von J.-L. Leuba, H. Stirnimann, 1969, 147-161
  • U.P. Forster, Kirchen auf dem Weg zur Kirche, 1972
  • A. Stoecklin, Schweizer Katholizismus, 1978, 185-194
  • TRE 15, 46-86
  • R. Weibel, Schweizer Katholizismus heute, 1989
  • Gegen die Gottvergessenheit, hg. von S. Leimgruber, M. Schoch, 1990
  • M. Brun, «Die röm.-kath. Kirche angesichts der ökumen. Bewegung», in Schweizer Katholizismus im Umbruch, 1945-1990, hg. von U. Altermatt, 1993, 289-306
  • Encyclopédie du protestantisme, hg. von P. Gisel, 1995, 1085-1104
  • F.X. Bischof, C. Dora, Ortskirche unterwegs, 1997
  • LThK 7, 1017-1028
  • Theol. Profile, hg. von S. Leimgruber, B. Bürki, 1998
  • Ökumen. Kirchengesch. der Schweiz, hg. von L. Vischer et al., 21998
Weblinks

Zitiervorschlag

Franz Xaver Bischof: "Ökumene", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.12.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011455/2013-12-10/, konsultiert am 19.03.2024.