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Kirche und Staat

Eines der Leitthemen in der Geschichte des Christentums ist das Verhältnis zwischen kirchlichen und staatlichen Ordnungssystemen. Im Folgenden wird dieses Verhältnis in seinen Grundzügen und mit seinen Hauptveränderungen vom Mittelalter an skizziert. Die Beziehungen der nichtchristlichen Religionen zum Staat werden in den einschlägigen Religionsartikeln behandelt.

Bis zum Ende der Alten Eidgenossenschaft

Das kirchliche und das weltliche Ordnungssystem des mittelalterlichen Abendlandes standen einerseits in einem Spannungsverhältnis, das auf seinem Höhepunkt durch die konkurrierenden Spitzen Papsttum und Kaisertum repräsentiert wurde, andererseits aber in vielfacher und sich wandelnder Verflechtung. Die Kirche (Katholische Kirche) hatte ihre eigene unabhängige Rechtsordnung, die den Klerus der weltlichen Gerichtsbarkeit weitgehend entzog; sie verfügte auch über ein eigenes Abgabensystem (Zehnt). Ihre teilweise Eingliederung ins Lehenswesen führte zur Ausstattung kirchlicher Einrichtungen (Bistümer, Klöster, Stifte) mit herrschaftlichen und gerichtlichen Befugnissen. Weite gesellschaftliche Bereiche, die heute einer staatlichen Kontrolle unterstehen, wurden von der Kirche verwaltet und geprägt (Zivilstandswesen, Fürsorge, zum grossen Teil auch Bildungswesen und Kulturtätigkeit). Dagegen übten weltliche Instanzen (Fürsten, Adlige, Städte) in kirchlichen Angelegenheiten Kompetenzen aus, etwa durch Ernennung geistlicher Amtsträger (Patronatsrecht).

Die sich im Zuge der feudalistischen Auflösung alter staatlicher Hoheit neu bildende Staatlichkeit der Territorialherren sowie der städtischen und ländlichen Kommunen und Korporationen begann vom 13. Jahrhundert an den Machtbereich der Kirche zurückzudrängen. Gefördert wurde diese Entwicklung durch die schwere Krise der Kirche im 14. und 15. Jahrhundert (Grosses Schisma). Weltliche Machtträger, vor allem die Städte, nahmen mehr und mehr Einfluss auf die Ausübung kirchlicher Funktionen (z.B. Kontrolle der Disziplin der Kleriker und der Verwaltung kirchlicher Einrichtungen, Ansiedlung und Reform von Bettelorden) und schränkten den unabhängigen Rechtsbereich der Kirche ein (Pfaffenbrief). Sie beteiligten sich auch an den Reformkonzilien von Konstanz und Basel. Dabei handelten die Inhaber staatlicher Machtbefugnisse ebenso im Namen der vom christlichen Glauben geprägten Normen- und Wertwelt wie die kirchlichen Amtsträger. Andererseits ermöglichte die Entwicklung geistlicher Territorialherrschaften einzelnen Kirchenfürsten eine wirksame Betätigung in der weltlichen Machtpolitik (z.B. Matthäus Schiner).

Die Reformation brachte die Spaltung der abendländischen Kircheneinheit. Zugleich bot sie den aufstrebenden Territorialstaaten Gelegenheit zur Erweiterung ihres Einfluss- und Funktionsbereichs. Mit dem Entscheid für den neuen Glauben übernahm der Staat die Oberaufsicht über die reformierte Kirchenorganisation (Evangelisch-reformierte Kirchen) und eignete sich die kirchlichen Güter als materielle Basis für die neu anfallenden, bisher kirchlichen Aufgaben auf sozialem und kulturellem Gebiet an (Säkularisation). Zwar vermochten Reformatoren wie Zwingli und Calvin ihren Einfluss über religiöse und organisatorische Belange hinaus auf staatspolitische Fragen auszudehnen, doch die oberste Leitung der kirchlichen wie der weltlichen Angelegenheiten lag auf die Dauer in der Hand der staatlichen Behörden. Diese verfolgten und verdrängten auch – im Einvernehmen mit den kirchlichen Instanzen – die Angehörigen konfessioneller Minderheiten (z.B. die Täufer). Wie die staatlichen Behörden der vorreformatorischen Zeit handelten auch die Inhaber der obrigkeitlichen Gewalt in den reformierten Orten bei der Ausübung der Kirchenhoheit im Namen des christlichen Glaubens. Eine Freiheit der Wahl zwischen alter und neuer Religion auf Gemeindeebene gab es nur in Glarus, Appenzell, Graubünden und einigen gemeinen Herrschaften (Konfessionelle Parität).

Auch in den katholisch bleibenden Orten verstärkte der Staat die Kontrolle über die Kirche, jedoch im Sinn einer Abwehrmassnahme gegen den neuen Glauben. Dabei fand die katholische Reform in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mangels Förderung durch die für die Schweiz zuständigen Bischöfe die Unterstützung von Behörden altgläubiger Stände. Ihre gegenreformatorischen Aktivitäten beschränkten die katholischen Orte im Sinne des Zweiten Landfriedens von 1531 (Landfriedensbünde) auf ihre eigenen Hoheitsgebiete sowie auf mehrheitlich katholisch gebliebene gemeine Herrschaften.

Im 17. Jahrhundert verfestigte sich in den meisten reformierten Orten das Staatskirchentum. In den für Kirche und Schule zuständigen Gremien waren staatliche und kirchliche Amtsträger in unterschiedlichen Verhältnissen vertreten und einflussreich; dabei nahm – dem autoritären Zug der Zeit entsprechend – das Gewicht der kirchlichen Synoden stark ab. Bloss in Neuenburg und Graubünden lag die Kirchenleitung in der Hand rein geistlicher Organe. In den katholischen Orten dagegen gewann die Kirche nach dem Konzil von Trient – vor allem in Fragen der Stellung und Tätigkeit des Klerus – wieder an Boden, da ihre Institutionen durch die katholische Reform eine Erneuerung erfahren hatten. Im 18. Jahrhundert wurden vor allem in den katholischen Patriziatskantonen Luzern, Freiburg und Solothurn von Jansenismus und Aufklärung beeinflusste staatskirchliche Tendenzen wirksam. In den gemeinen Herrschaften gewährte der Zweite Landfriede nur den katholischen Minderheiten, der Vierte Landfriede von 1712 dann auch den reformierten Glaubensfreiheit.

Entwicklung seit der Helvetik

Die Verfassung der Helvetischen Republik von 1798 sah nicht nur für den Staat, sondern auch für die Kirche eine völlige Neugestaltung vor. Sie verkündete unbeschränkte Gewissens- sowie Kultusfreiheit. Die Kirchen verloren ihre gesellschaftliche Sonderstellung wie ihre materielle Basis; die staatliche Oberaufsicht wurde nunmehr ohne Anerkennung einer christlichen Grundlage ausgeübt. Die Geistlichen wurden vom politischen Leben ausgeschlossen, die Klöster enteignet und die Aufnahme von Novizen verboten. Trotz der grundsätzlichen Privatisierung aller Religionsgemeinschaften versuchte der Kultusminister Philipp Albert Stapfer, die Geistlichen als besoldete Lehrer einer Moralreligion in den Dienst des aufklärerischen Staates zu stellen; dessen politische und finanzielle Krise liess dieses Vorhaben allerdings scheitern.

Mit der Mediationsakte von 1803 erhielten die Kantone wieder die Zuständigkeit für die kirchlichen Angelegenheiten, wobei für jeden infolge der neuen Grenzziehungen eine oder zwei Staatsreligionen (die reformierte, die katholische oder beide) festgesetzt und die Restituierung der Klostergüter vorgeschrieben wurden. Unter dem Bundesvertrag von 1815 blieben diese Verhältnisse im Wesentlichen bestehen. Mehr als die Hälfte der Kantone besass nun Territorien mit unterschiedlicher (oder paritätischer) konfessioneller Tradition. Sie anerkannten meist jede Konfession bloss in ihrem angestammten Gebiet; nur wenige gewährten beiden überall Kultusfreiheit.

Karikatur zum Kampf zwischen laizistischem Staat und katholischer Kirche, erschienen im Nebelspalter, 1875, Nr. 5 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern; e-periodica).
Karikatur zum Kampf zwischen laizistischem Staat und katholischer Kirche, erschienen im Nebelspalter, 1875, Nr. 5 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern; e-periodica). […]

Im 19. Jahrhundert lockerte eine bereits durch die Aufklärung eingeleitete Emanzipation der gebildeteren Schichten die Bindung eines wachsenden Teils der Bevölkerung an die traditionellen religiösen Vorstellungen. Diese Bewusstseinsentwicklung verstärkte sich infolge der beginnenden konfessionellen Durchmischung der meisten Kantone, eine Auswirkung der neuen Grenzziehungen von 1803 und 1815 sowie der sich im Zuge der Modernisierung erweiternden Niederlassungsfreiheit. Ein erster Durchbruch gelang den liberalen Kräften in der Regeneration, die in einigen der erneuerten Kantone die individuelle Glaubensfreiheit brachte. Als Gegenkräfte wirkten auf reformierter Seite die der Romantik nahestehenden Erweckungsbewegungen wie auch eine Tendenz zur Wiederbetonung der traditionellen Bekenntnisse; beides führte zur Bildung besonderer Organisationen, die sich zum Teil als evangelische Freikirchen vom Staat trennten (Waadt, Genf). Auf katholischer Seite kam es dagegen zu einer Konzentration der konservativen Kräfte auf die Autorität des Papsttums; dieses nahm, vor allem vom Jesuitenorden unterstützt, den Kampf mit den progressiven Zeitströmungen auf. Dadurch sahen sich wiederum die Liberalen herausgefordert, da sie eine so stark auf Rom ausgerichtete katholische Kirche (Ultramontanismus) als Hindernis für die Errichtung eines gesamtschweizerischen liberal-demokratischen Staates betrachteten. Der Konflikt eskalierte über Klosteraufhebungen im Aargau und Jesuitenberufung durch Luzern zum Sonderbundskrieg, der den Sieg der liberalen Kantone und die Durchsetzung einer bundesstaatlichen Ordnung brachte.

Die Bundesverfassung von 1848 überliess jedoch das Kirchenwesen weiterhin der Zuständigkeit der Kantone. Sie begnügte sich im Wesentlichen mit einer Garantie der Kultusfreiheit für die beiden Hauptkonfessionen in der ganzen Schweiz, einem Verbot des Jesuitenordens und dem Ausschluss der Geistlichen aus National- und Bundesrat. Im Zusammenhang mit dem Kulturkampf dehnte dann die Bundesverfassung von 1874 diese staatskirchenrechtlichen Rahmenbestimmungen noch aus: einerseits allgemeine Gewährleistung der Religionsfreiheit sowie des Rechts auf Ehe (bei Verstaatlichung des Zivilstandswesens), andererseits Verschärfung der vor allem gegen die katholische Kirche gerichteten Ausnahmeartikel. Fragen der Bistumsorganisation regelten die Kantone mit dem Heiligen Stuhl in Konkordaten.

Auf kantonaler Ebene verlief die Entwicklung des Staatskirchenrechts unterschiedlich. In traditionell reformierten Kantonen, die nach der Regeneration zunehmend von Liberalen regiert wurden, erfolgte eine gewisse Distanzierung des Staates von der reformierten Kirche, was einerseits in der Respektierung der Religionsfreiheit begründet war, andererseits aber im Bestreben, die Kirchen dem liberalen Staat anzugleichen; dies wirkte sich in einer Verselbstständigung der Kirchgemeinden (analog zur Entwicklung der politischen Gemeinden) wie auch in einer Demokratisierung der Kirchenorganisation (nach dem Vorbild der Staatsordnung) aus. So wurde aus der einst von einer konfessionell verpflichteten Obrigkeit geleiteten Staatskirche eine den liberal-demokratischen Ordnungsprinzipien entsprechende Landeskirche, welcher der Staat eine gewisse Autonomie zuerkannte. In traditionell katholischen Gebieten versuchten liberale Regierungen im Kulturkampf vergeblich, den Katholiken eine entsprechende Umstrukturierung aufzudrängen; die Gründung von christkatholischen Gemeinden (Christkatholische Kirche) erfasste nur eine kleine Minderheit. Es gelang aber unter Duldung durch den Apostolischen Stuhl, in den römisch-katholischen Kirchen neben der kanonischen Ordnung staatskirchenrechtliche Strukturen einzurichten, die den reformierten Landeskirchen nachgebildet wurden.

Plakat zur eidgenössischen Abstimmung vom 2. März 1980 über die Volksinitiative betreffend die vollständige Trennung von Kirche und Staat. Die Initiative wurde von 78,9% der Abstimmenden abgelehnt (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat zur eidgenössischen Abstimmung vom 2. März 1980 über die Volksinitiative betreffend die vollständige Trennung von Kirche und Staat. Die Initiative wurde von 78,9% der Abstimmenden abgelehnt (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, namentlich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Vatikanische Konzile), entspannte sich das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche sowohl in politisch liberalen wie in kirchlich reformierten Kreisen weiter. Dies führte einerseits zur Aufhebung zweier konfessioneller Ausnahmeartikel 1973 (Abschaffung des letzten 2001), andererseits zu vermehrter Zusammenarbeit der beiden grossen Konfessionen, gerade auch im Verhältnis zum Staat, das stärker partnerschaftlichen Charakter annahm (Ökumene). Während auf kantonaler Ebene Landeskirchen schon früher ein Mitspracherecht in für sie relevanten Fragen erlangt hatten, beteiligten sich nun gesamtschweizerische Organe der grossen Kirchen aufgrund eines gesteigerten sozialethischen Interesses auch vielfach im eidgenössischen Rechtsetzungsprozess. Das stärkere politische Engagement der kirchlichen Seite ist von rechtsbürgerlichen Kreisen kritisiert worden; es wurden Forderungen nach staatsrechtlicher Disziplinierung oder nach einer Trennung von Staat und Kirche laut. Volksinitiativen für eine solche Trennung wurden jedoch im Bund (1980) wie im Kanton Zürich (1977 und 1995) verworfen.

Eine Gliederung der kantonalen staatskirchenrechtlichen Systeme der Gegenwart ist aufgrund der komplexen Vielfalt der 26 verschiedenen kantonalen Ordnungen schwierig. Verallgemeinernd ist in den ehemals reformierten Kantonen eher eine engere Bindung der einstigen Staatskirche an den Staat festzustellen, während die traditionell katholischen Kantone den Kirchen mehr Freiheit für ihre Selbstorganisation gewähren; die Entwicklung tendiert in Richtung einer stärkeren Entflechtung. In den meisten Kantonen bilden die beiden grossen Kirchen – nur als Kirchgemeinde oder auch als Kantonalorganisationen – öffentlich-rechtliche Körperschaften mit unterschiedlich gestalteter Autonomie, deren Finanzierung auf vom Staat eingezogenen Kirchensteuern und zum Teil auf staatlichen Beiträgen beruht. Dem einstigen Staatskirchentum am nächsten kommt der Kanton Waadt, wo die reformierte Mehrheitskirche bis 2003 ohne eigene Rechtspersönlichkeit in den Staat eingeordnet war und dieser sie auch heute noch fast vollständig finanziert. In Bern und Zürich haben die reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische Kirche zwar Rechtspersönlichkeit, doch beruht ihre landeskirchliche Organisation weitgehend auf Staatserlassen; der Staat ist auch an der Finanzierung der Kirchen relativ stark beteiligt. Eine Art Gegenstück zu diesen traditionell reformierten Kantonen bilden die historisch katholisch geprägten Kantone: Hier nimmt der Staat auf die kanonische römisch-katholische Kirchenordnung weitgehend Rücksicht. Am stärksten vom Staat gelöst sind die Kirchen in Genf und Neuenburg ("Trennung von Kirche und Staat"), wo sie nur öffentlich und nicht öffentlich-rechtlich anerkannt sind, was aber gewisse staatliche Hilfeleistungen nicht ausschliesst (vgl. auch die "hinkende Trennung" in Basel-Stadt).

Quellen und Literatur

  • E. His, Gesch. des neuern Schweiz. Staatsrechts, 3 Bde., 1920-38
  • R. Pfister, Kirchengesch. der Schweiz, 3 Bde., 1964-84
  • Ökumen. Kirchengesch. der Schweiz, hg. von L. Vischer et al., 1994 (21998)
  • Trennung von Kirche und Staat, hg. von L. Carlen, 1994
  • Kirche – Staat im Umbruch, hg. von A. Loretan, 1995
  • F. Hafner, «Trennung von Kirche und Staat», in Basler jurist. Mitt., 1996, 225-256
  • D. Kraus, Schweiz. Staatskirchenrecht, 21998 (mit Bibl.)
  • Das Religionsrecht der neuen Bundesverfassung, hg. von R. Pahud de Mortanges, 2001
Weblinks

Zitiervorschlag

Peter Gilg: "Kirche und Staat", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.10.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011457/2008-10-16/, konsultiert am 25.03.2025.