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Volksfrömmigkeit

Der Begriff Volksfrömmigkeit ist umstritten, nicht zuletzt, weil er wegen früheren Verwendungen auch ideologisch belastet ist. Kritiker ordnen ihn, ähnlich wie Volkskunst und Volksmedizin, einem antiquierten Wissenschaftsverständnis zu, welches diese Bezeichnung mit einer fast magischen, irrationalen Aura umgab. Der Ausdruck sei vage, inhaltsleer und suggeriere einen Sachverhalt, der so nicht existiere. Für andere aber verweist der Begriff auf eine Befindlichkeit, die wesentlich anders geartet ist als die «offizielle» Frömmigkeit. Anstelle von Volksfrömmigkeit wurde etwa «populäre Frömmigkeit» vorgeschlagen (Gottfried Korff) und in Anlehnung an die angelsächsische und französische Begriffsbildung auch «Volkskunde des Religiösen» (Wörterbuch der deutschen Volkskunde).

Frömmigkeit ist zunächst eine Lebenshaltung, die religiöse Überzeugung, Innerlichkeit mit den äusseren Akten, dem Alltagsverhalten in Einklang bringt; sie ist die gelebte Antwort des Menschen auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens. Volksfrömmigkeit ist die synkretistische Form des religiösen Denkens, Empfindens und Handelns von Individuen und Gruppen, welche die von den offiziellen Kirchen und ihren Amtsträgern vorgegebenen Glaubensinhalte und Praxisformen den eigenen Bedürfnissen anpasst, sie amalgamiert und kreativ umwandelt. Volksfrömmigkeit spricht die Sinne und das Gemüt stärker an als den Verstand. Sie liebt expressive, ausdrucksstarke Formen, ist zeichenhaft und sucht die Nähe. Volksfrömmigkeit ist aber schwierig zu fassen, weil das Verhältnis zwischen etablierteren und weniger offiziellen Formen von Religiosität ein «kontinuierliches Spektrum» bildet, «das von der gegenseitigen Verzahnung bis zur relativen Eigenständigkeit reichte» (Kaspar von Greyerz). Fliessend waren somit auch die Übergänge zu Aberglauben, Magie und Astrologie. Zu manchen Phänomenen der Volksfrömmigkeit gaben die offizielle Kirche oder Kleriker den Anstoss. Andere gingen dagegen von Laien aus und wurden während Jahrhunderten von den Amtskirchen, die ihnen einen latent subversiven Charakter zuschrieben, argwöhnisch beobachtet und in Einzelfällen auch kriminalisiert. Gelebte und offizielle Frömmigkeit standen oft in einem oppositionellen Verhältnis.

Der Formenschatz und die historische Entwicklung der Volksfrömmigkeit in der Schweiz ähneln in vielem denen der Nachbarregionen. Die Entwicklung wurde naturgemäss von den allgemeinen geistigen und materiellen Strömungen der jeweiligen Zeit beeinflusst, ist doch Volksfrömmigkeit Ausdruck der epochalen Gesamtbefindlichkeit.

Mittelalter

Über die früh- und hochmittelalterliche Volksfrömmigkeit in der Schweiz sind wir schlecht unterrichtet, handelt es sich doch bei den Quellen meist um Äusserungen von Theologen und Klerikern, die eher auf dem Niveau der elaborierten Religion (Religionen) argumentierten. Insbesondere für das Frühmittelalter darf Volksfrömmigkeit nicht mit Laienfrömmigkeit gleichgesetzt werden, weil ihrer Herkunft und Lebensweise nach auch viele Priester dem «Volk» zugerechnet werden müssen und ihr religiöses Empfinden eher dem ihrer dörflichen Pfarreigenossen als demjenigen der kirchlichen Hierarchie entsprach. Unzulässig ist auch, die Volksfrömmigkeit schichtspezifisch auf die unteren sozialen Gruppen einzuengen. Volksfrömmigkeit und elitäre Frömmigkeit äusserten sich in grundsätzlich ähnlichen Phänomen, aber in anderer konkreter Ausbildung: So gab es im Mittelalter neben Wallfahrtszielen, die nur «einfache» Leute besuchten, auch solche, die fast ausschliesslich Ritter anzogen.

Im Sinne der allgegenwärtigen Religiosität, die das Mittelalter kennzeichnete, kann man annehmen, dass Äusserungen der Volksfrömmigkeit den ganzen Alltag durchwirkten. Die Volksfrömmigkeit war familienzentriert, solidarisch vor allem in der Sorge um die verstorbenen Angehörigen (Arme-Seelen-Kult, Jahrzeitstiftungen und Jahrzeitfeiern), und sie war dämonie- und wundergläubig; sie ging davon aus, dass das Göttliche unmittelbar ins Leben der Menschen eingreife nach dem Prinzip des «do ut des», etwa im Sinne der Fruchtbarkeitsriten, wie sie bis in die Moderne noch im katholischen Jura anzutreffen waren (Verehrung von Quellen und heiligen Bäumen, zum Beispiel Saint-Fromond in Bonfol). Geprägt durch rituellen Formalismus äussert sich die Volksfrömmigkeit auch bei Laienbewegungen, etwa den Humiliaten sowie bei den Beginen und Begarden. Mittelalterliche Volksfrömmigkeit strebt nach Sinnen- und Bildhaftigkeit, was nicht zuletzt die Popularität der durch die Franziskaner eingeführten Kreuzwege und Kalvarienberge belegt.

Volksfrömmigkeit in der Neuzeit

Katholische Volksfrömmigkeit

Die katholische Geistlichkeit (Klerus), die sich nicht ausschliesslich aus der Stadt rekrutierte, war aufgrund einer langen Kirchentradition eher als die reformierte dazu bereit, die ländlich-dörflichen Glaubenspraktiken zu akzeptieren (Katholizismus). Insofern war der Raum für eine Entfaltung für die katholische Volksfrömmigkeit grösser. In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, dass die überkommenen Frömmigkeitspraktiken der frühneuzeitlichen Gesellschaft durch den Rhythmus des Agrarjahres und den entsprechenden Heiligenkalender geprägt waren (Kirchenjahr).

In der Zeit der katholischen Reform förderte die Kirche (Katholische Kirche) volksreligiöse Äusserungen als Abwehrkräfte gegen die Reformation, in der nachfolgenden Aufklärung suchte sie aber den Überschwang zu dämpfen und zu unterdrücken. Der Josephinismus beeinflusste auch die deutschsprachige Schweiz, etwa durch das Wirken des Generalvikars des Bistums Konstanz Ignaz Heinrich von Wessenberg. Dieser tendenziell vernunftorientierte Zugang zur Religion wich ab dem frühen 19. Jahrhundert, später dann auch unter dem Einfluss des Kulturkampfs und des Modernismusstreits, einer neuen Innigkeitskultur, die der Volksfrömmigkeit wieder viel Raum liess und ihren Bedürfnissen entgegenkam. Das Gleiche gilt für den Triumphalismus, der bis nach dem Zweiten Weltkrieg das katholische Leben mit kennzeichnete. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) leitete eine erneute Phase der Nüchternheit ein, wobei die Volksfrömmigkeit aber eine gewisse Eigendynamik behielt.

Exvoto. Hinterglasmalerei des Lötschentaler Künstlers Josef Murmann für die Kapelle Mariä Heimsuchung in Kühmatt (Gemeinde Blatten), um 1860 (Bibliothèque de Genève, Archives Nicolas Bouvier).
Exvoto. Hinterglasmalerei des Lötschentaler Künstlers Josef Murmann für die Kapelle Mariä Heimsuchung in Kühmatt (Gemeinde Blatten), um 1860 (Bibliothèque de Genève, Archives Nicolas Bouvier).

Zu den wichtigsten Formen der katholischen Volksfrömmigkeit des 19. und 20. Jahrhunderts gehören das Pilgerwesen und das Wallfahrtswesen, jenes seit dem Mittelalter, dieses seit dem Barock, wobei jede Wallfahrt durch die populäre Ausgestaltung ihre besondere Physiognomie erhielt. Solche Wallfahrten sind zum Beispiel jene vom aargauischen Hornussen nach Todtmoos im Schwarzwald, jene nach Vorbourg bei Delsberg und diejenige zur Kapelle St.-Mariä-Heimsuchung auf dem Bergsattel Ziteil. Wichtige Elemente waren auch die mit dem Wallfahrtswesen verbundenen Exvotos, die Prozessionen unter Mitführung von Insignien (Palmesel, Fahnen, Statuen), die Reliquienverehrung mit ihrem Höhepunkt in den prunkvollen Translationen des 17./18. Jahrhunderts, die Andenken, die man von den Wallfahrten heimbrachte, die Devotionalien, wie sie etwa die Firma der Brüder Benziger in Einsiedeln anbot (Marien-, Christus- und Heiligenfiguren aus Gips). Ausdruck der Volksfrömmigkeit waren die religiös motivierten Theateraufführungen, die Osterspiele, die Weihnachtskrippen, vor allem in Graubünden und heute noch in den Kirchen des Kantons Freiburg, Passionsumzüge, wie sie sich in Mendrisio und in Romont (FR) erhalten haben, Passionsspiele wie etwa in Selzach. Die Maiandachten in den mit Blumen geschmückten Kirchen waren beliebt wie auch die Heiliggrab-darstellungen mit den Ehrenwachen durch Mitglieder der Jungmannschaft. Geblieben sind vielerorts die Palmbäume, welche die Jungen am Palmsonntag in die Kirchen tragen. Ausdruck katholischer Volksfrömmigkeit sind auch die landschaftsprägenden Kleindenkmäler wie Bildstöcke, Wegkreuze und Wegkapellen, die meist auf fromme Stifter zurückgehen, sowie die populäre Druckgrafik mit den Heiligenbildern, die nicht ohne protestantisches Pendant sind (etwa den Bibelbildchen, die man in den Sonntagsschulen abgab). Der «Nickneger» – eine Sparbüchse für Spenden mit einer Pappmaschee- oder Gipsfigur, deren Kopf bei dem Einwurf einer Münze wackelte – spielte in beiden Konfessionen eine Rolle (Sonntagsschule, Katechismus).

Protestantische Volksfrömmigkeit

Volksfrömmigkeit wird meist ausschliesslich mit der katholischen Konfession in Verbindung gebracht. Es gibt jedoch eine reformierte Volksfrömmigkeit, die, weil weniger extravertiert, schwieriger zu fassen ist (Protestantismus). Infolge der kargen liturgischen Möglichkeiten und dem amtskirchlich streng reglementierten Gottesdienst konnte sich die Volksfrömmigkeit im reformierten Bereich allerdings weniger entfalten als im katholischen. Die Reformatoren (Reformation), die Bräuche nur noch als Ordnungselemente des öffentlichen Lebens duldeten, hätten eigentlich das Verschwinden der Volksfrömmigkeit bewirken müssen, da diese nach der Zeichenhaftigkeit des Brauchs als gemeinschaftsstiftendem Element verlangt. Das Gegenteil trat ein; es ist zumindest in protestantischen Gebieten ausserhalb der Schweiz zu beobachten, dass zum Beispiel an der Heiligenverehrung festgehalten wurde. Auf eidgenössischem Boden sind Praktiken des Aberglaubens bis weit in das 17. Jahrhundert hinein nachgewiesen. Mit der Reformation verschoben sich aber die Akzente: Da in den reformierten Gebieten der Schweiz die Dorfgeistlichen, die fast ausschliesslich aus städtischem Umfeld stammten, zum Sprachrohr der Obrigkeit wurden, wuchs die Distanz zwischen Geistlichen und Bevölkerung, und der Einfluss der offiziellen Kirche auf die Entwicklung der Volksfrömmigkeit verringerte sich. Praktiken der Volksfrömmigkeit und des Aberglaubens waren möglicherweise für viele Untertanen auch ein Mittel, sich der von der Obrigkeit angeordneten Reformation sowie den Versuchen der Sozialdisziplinierung zu entziehen. Wiederholte Klagen in der Waadt zwischen 1630 und 1670 über die religiöse Verehrung eines Baumstrunks, der Gichtkranke heilen sollte, oder eines Brunnens, dessen Wasser Geister vertreiben sollte, bezeugen, dass die Reformation keineswegs rasch die durchgreifende Tiefenwirkung erzielte, die viele Historiker ihr zuschrieben.

Parallelen zur katholischen Volksfrömmigkeit zeigen die hagiografischen Wunderberichte nach dem Tode des Waadtländer Freiheitshelden Jean Daniel Abraham Davel 1723 auf. Die schöpferische Seite der reformierten Volksfrömmigkeit äusserte sich zum Beispiel in der Erneuerung oder Entwicklung gewisser Rituale, wie der Taufe im Gemeindegottesdienst oder der Konfirmation (Konfirmation und Firmung), die auf das Verlangen der Laien hin erfolgten. Dazu gehörten auch die Hausandachten oder das Lesen bzw. Vorlesen aus Andachtsbüchern, Gewohnheiten, die Anfang des 21. Jahrhunderts eher der Vergangenheit angehören. Damit waren auch abergläubische Praktiken wie zum Beispiel das Bibelorakel verbunden.

Der Pietismus brachte eine eigenständige Form der reformierten Volksfrömmigkeit hervor, etwa in privaten Frömmigkeitszirkeln, dem «Stündli» in Basel, später generell mit der Entwicklung der Freikirchen (Freikirchen und Sekten). Besonderer Ausdruck reformierter Volksfrömmigkeit sind auch die frommen Sprüche, Verse aus dem Evangelium, pietätvolle Erinnerungs-, aber auch Examensschriften. In den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Bern, Zürich, Thurgau, Neuenburg und der Waadt entwickelte sich diese Kalligrafie zu einem eigenständigen Zweig der Volkskunst. Das Schönschreiben, die Umsetzung des Bibelwortes in das Schriftbild, galt als Akt der Pietät. Lehrer, Pfarrer und Kalligrafen widmeten sich dieser Aufgabe.

Moderne Formen

Die moderne Volksreligiosität nimmt immer mehr nichtkirchliches, oft aus fremden Kulturen stammendes Gedankengut auf; sie wird zu einer auf Lebenserfahrung beruhenden Wahrheitsfindung, die sich auf das Recht zur Selbstverwirklichung beruft. Neben Elementen der Zivilreligion (Vaterlandskult, Bürgertugenden) und des Starkults sind viele esoterische Vorstellungen in die moderne Form der Volksfrömmigkeit eingegangen (Esoterik). Ihr Erscheinungsbild ist damit noch diffuser geworden. Die ursprüngliche Mündlichkeit der Wissensvermittlung ist auch hier einer Verschriftlichung gewichen.

Quellen und Literatur

  • P. Wernle, Der schweiz. Protestantismus im XVIII. Jh., 3 Bde. 1923-25
  • N. Curti, Volksbrauch und Volksfrömmigkeit im kath. Kirchenjahr, 1947
  • E. Strübin, Baselbieter Volksleben, 1952
  • R. Weiss, «Grundzüge einer prot. Volkskultur», in SAVk 6, 1965, 75-91
  • M. Mercier-Campiche, L'affaire Davel, 1970
  • P.-O. Walzer, Vie des saints du Jura, 1979
  • K. und R. Beitl, Wb. der dt. Volkskunde, 31974, 870
  • P. Kern, Heiliggräber im Bistum St. Gallen, 1993
  • I. Baumer, «Glaubenssinn-Kirchensinn», in Der Glaubenssinn des Gottesvolkes, Konkurrent oder Partner des Lehramtes?, hg. von D. Wiederkehr, 1994, 21-65
  • A. Angenendt, Gesch. der Religiosität im MA, 1997 (42009)
  • Volksfrömmigkeit in der Schweiz, hg. von E. Halter, D. Wunderlin, 1999
  • K. von Greyerz, Religion und Kultur, 2000
  • P. Hugger, Meister Tod, 2002
Weblinks

Zitiervorschlag

Paul Hugger: "Volksfrömmigkeit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.12.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011511/2014-12-27/, konsultiert am 19.03.2024.