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Volksmusik

Wurde Volksmusik bis Ende des 19. Jahrhunderts vorwiegend auf bäuerliche und dörfliche Gemeinschaften bezogen und von der höfischen bzw. gehobenen bürgerlichen Musik abgegrenzt, war sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine populäre Stilrichtung mit einem regionalen, nationalen oder alpenländischen Image. Im engeren Sinn umfasst sie Lärmbräuche zur Winter-, Frühjahrs- und Osterzeit (Glocken- und Viehgeläute, Carillons, Ratschen und Klappern), instrumentales Solospiel (z.B. Alphorn, Hackbrett, Zither, Maultrommel, Handharmonika) sowie instrumentale Volks- und Tanzmusik und deren Ensembles in wechselnder Besetzung. Wie die Geschichte des Volkslieds wurde auch diejenige der Volksmusik und des populären Tanzes durch Einflüsse aus den Nachbarländern mitgeprägt. Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Volksmusik zunehmend als Ausdrucksmittel schweizerischer Eigenart und uralter Traditionen empfunden und diente der nationalen Identitätsstiftung: Das Bild des freien, jodelnden und Alphorn blasenden Hirten (Alpen) wurde ins Repertoire der nationalen Selbstdarstellung aufgenommen, auch wenn sich diese Vorstellung als Mythos erwies.

Von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert

Tanz während der Fasnacht von Schwyz zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Aus der Luzerner Chronik von Diebold Schilling, 1513, Fol. 259r (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).
Tanz während der Fasnacht von Schwyz zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Aus der Luzerner Chronik von Diebold Schilling, 1513, Fol. 259r (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern). […]

Zu den ältesten Trägern der traditionellen Volksmusik in der Schweiz gehören die fahrenden Spielleute, Stadtpfeifer, Turmbläser sowie die Trommler und Pfeifer, zu deren Weisen in Friedenszeiten gelegentlich auch getanzt wurde. In Graubünden, an Landsgemeinden und im Wallis ertönen zuweilen Märsche, die auf die Söldnerzeit zurückgehen. Trummler und Pfyffer waren vor allem in den italienischen Feldzügen des 16. Jahrhunderts und bei den in fremden Diensten stehenden Regimentern des 16. bis 18. Jahrhunderts beliebt. Auch der Dudelsack war einst ein Heeresinstrument, das um 1610 aus Frankreich in die Westschweiz gelangt war und Ende des 18. Jahrhunderts im Tessin als zampogna bezeugt ist. Frühe Darstellungen bestehen auch für die Schalmei und cornemuse, die zusammen mit der Drehleier, dem Dudelsack und der Einhandtrommel auf dem «Totentanz» (1516-1519) des Niklaus Manuel zu sehen sind. Ab dem 16. Jahrhundert dürften Schalmei und Hackbrett, später auch Violine und Hackbrett, eine erste Grundlage für die Appenzeller, Toggenburger und Walliser Streichmusik des 19. Jahrhunderts gebildet haben.

Vor 1700 handelte es sich bei den Tänzen meist um gesungene Reigen- und Kreistänze, etwa die branle simple oder die coraules in Freiburg. Für Chur sind um 1765 28 Tänze vom Typ der contredanse allemande belegt. Ab 1800 wurden diese Gruppentänze durch modische Paartänze abgelöst, die sich vor allem von Paris aus über ganz Europa verbreiteten und ihre volkstümliche Ausprägung durch lokale Überlieferungstraditionen erlangten. Zu ihnen zählen die unterschiedlichsten Genres, so die geradtaktigen Tänze Schottisch, Polka, Rheinländer, Marsch und Galopp sowie die ungeradtaktigen Tänze Walzer, Ländler, Polonaise und Mazurka.

Neben der Streichmusik in der Besetzung von einer bis zwei Geigen, Hackbrett und Bass, die als Tafelmusik, beim Sennenball oder zum Tanz bei den Alpstubeten aufspielte (Feste), entwickelten sich neuere Formen der sogenannten Holzmusik. Dabei wurden die Geigen durch Holzblasinstrumente (Klarinetten, Schwegelpfeifen) ersetzt oder mit ihnen kombiniert. Das Aufkommen der ersten Blechblasinstrumente um 1820 führte zur Gründung verschiedener Blas- und Feldmusikvereinigungen (Musikvereine). Viele Dorfmusiken formierten sich je nach Anzahl der vorhandenen Blasinstrumente zur sogenannten Vierer-, Sechser- oder Neunermusig. Im Tessin wurde die Blasmusikkapelle als bandella (z.B. Klarinette, Trompete, Posaune, Baritonhorn, Flügelhorn und Tuba) bekannt und liess sich oft von einer grossen Trommel begleiten.

Historisch überlieferte Tanzmelodien sind die voèyerie im Jura, die rondes von Estavayer oder der Alewander (Appenzell, Innerschweiz, Graubünden). Bei Letzterem handelt es sich um einen geradtaktigen Tanz des 16. bis 18. Jahrhunderts, der sich von dem deutschen Tanz, der allemande, herleitet. Die in der Westschweiz übliche montferrine stammt vermutlich aus Norditalien und gelangte über Frankreich ins Rhonetal. Für das Maggiatal im 18. Jahrhundert sind Tanzgeiger bezeugt, die zu einem Hasentanz (caccia-lepri) sowie zu einem Drescher- und Hirsetanz (balà l panigh) aufspielten. Zahlreiche der alten Tänze wurden von der Schweizerischen Trachtenvereinigung wieder aufgegriffen. Zu den bekanntesten Figurentänzen zählen das appenzellische Buuchryberli (dem Stepptanz ähnlich), die Langüs im Wallis, die Langmus in Zug, die Berner Lüderepolka, der Emmentaler Mistträppeler (Mazurka) und der Innerschweizer Vögeli-Schottisch.

Vom 20. Jahrhundert bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts

Eine Ländlerkapelle mit Schwyzerörgeli und Klarinette am Markt von Chaindon in Reconvilier, 31. August 1952 (Ringier Bildarchiv, RBA1-17060; Fotografie Schocher) © Staatsarchiv Aargau / Ringier Bildarchiv.
Eine Ländlerkapelle mit Schwyzerörgeli und Klarinette am Markt von Chaindon in Reconvilier, 31. August 1952 (Ringier Bildarchiv, RBA1-17060; Fotografie Schocher) © Staatsarchiv Aargau / Ringier Bildarchiv.

Die Volksmusik des 20. Jahrhunderts zeichnet sich durch grosse Veränderungen in der ersten und einen Stillstand in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts aus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hielt die Handorgel (Akkordeon und Schwyzerörgeli), die in der häuslichen Laienmusik während Jahrzehnten verbreitet gewesen war, in den professionellen Tanzkapellen Einzug und verdrängte die Streicher und Blechbläser. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann die ländliche Tanzmusik (Burämusigen), die neu als «Ländlermusik» bezeichnet wurde, sich auch in den Städten als Tanz- und Unterhaltungsmusik durchzusetzen. Durch Einflüsse des damals in den Städten ebenfalls populären Jazz entstand Ende der 1920er Jahre die neue Gattung des sogenannten Ländler-Fox. Gegen die Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Standardbesetzung mit einer bis zwei Klarinetten, einer bis zwei Handorgeln und Kontrabass durch, nicht zuletzt dank der Verbreitung durch das Radio, das diese technisch einfach zu produzierende Besetzung gern und oft ausstrahlte.

Die Gründung der ersten Jodlerklubs um die Wende zum 20. Jahrhundert im Umfeld der Turnvereine und die Einführung des Jodelchorlieds (ein vierstimmiger Männerchorsatz mit Jodelrefrain) etablierten das Jodeln, das vorher als typische Tiroler Spezialität bekannt war, als nationale Gesangskultur (Jodel). In den 1920er Jahren gelang es der Schweizerischen Jodlervereinigung, das beinahe verschwundene Alphorn durch gezielte Förderung wieder populär zu machen.

Ab den 1950er Jahren beschränkten sich die Träger der Volksmusik darauf, ihre Musik möglichst unverändert weiterzupflegen, und wurden dabei vom Schweizer Fernsehen nach Kräften unterstützt. Weite Teile der Bevölkerung verloren in der Folge das Interesse an der Volksmusik, weil sie diese als stereotyp empfanden. Daran änderte auch ein kurzes Revival durch die Folkbewegung der 1970er Jahre nichts. Hingegen erfreut sich seit den 1980er Jahren der volkstümliche Schlager, eine medial vermittelte Mischform von Schlagermelodien und volkstümlichen Elementen, grosser Beliebtheit. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts nahm das Interesse, ausgelöst durch den Boom der Worldmusic, an der einheimischen Volksmusik wieder zu.

Quellen und Literatur

  • Schweizer Volksmusik im Jahreskreis, 1991-93 (Schweizer Nationalphonothek)
  • Schweizer Volksmusik-Slg., 11 Bde., 2002
  • B. Bachmann-Geiser, Die Volksmusikinstrumente der Schweiz, 1981
  • M.P. Baumann, Bibl. zur ethnomusikolog. Lit. der Schweiz, 1981
  • Ur-Musig [DVD], Regie: C. Schläpfer, 2003
  • D. Ringli, Schweizer Volksmusik, 2006
  • M. Steiner, Musiques traditionnelles romandes, du XVIIIe siècle à nos jours, 2012
Weblinks

Zitiervorschlag

Max Peter Baumann; Dieter Ringli: "Volksmusik", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 22.04.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011885/2015-04-22/, konsultiert am 18.04.2024.