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Volkslied

Seit Johann Gottfried Herders Sammlung "Alte Volkslieder" (1774) ist der Begriff Volkslied eine Sammelbezeichnung für Gesänge, die mündlich von Generation zu Generation überliefert werden. Volkslieder werden vor allem in nicht organisierten, spontan sich zusammenfindenden Gruppen gesungen (Gruppenlied) und umfassen sowohl nichtstrophische Gesänge wie Betruf (Alpsegen), Juchzer, Jodel, Kuhreihen, Viehlöckler und Hirtenrufe als auch strophisch gegliederte geistliche und religiöse Gesänge, Brauchtums- und Standeslieder, Berufs- und Arbeitslieder sowie Heimat- und Jodellieder. Das regionale Volkslied ist in der Regel als Dialektlied (Dialektliteratur) an die sprachlich-kulturelle Ortsgemeinschaft und Identität gebunden und lebt vom Prozess des Umsingens sowie vom Symbolgehalt emotionaler und kultureller Wertvorstellungen.

Zu den ältesten Volksliedern zählen historische Lieder, Psalmen und Hymnen, die vom 16. Jahrhundert an durch Chronisten, Geschichtsschreiber und Historiker zusammengetragen wurden. Historisch-politische Lieder fanden meist als "fliegende Blätter" (Flugblätter) Verbreitung und wurden vielfach "im Ton" einer volkstümlichen Weise vorgetragen. Berühmt sind Lieder und Textsammlungen, die vom Ursprung der Eidgenossenschaft künden (u.a. "Tellenlied" um 1477, "Sempacherlied" 1482, 1532 und 1836), insbesondere aber die "Liederchronik" (1532-1536) Werner Steiners sowie das "Chronicon Helveticum" (Mitte 16. Jh.) von Aegidius Tschudi. In der französischen Schweiz entstanden in Erinnerung an den misslungenen Überfall auf die Stadt Genf die "Chansons d'Escalade" (1602), in den Pruntruter Wirren (1730-1744) auch sozialkritische Volkslieder. Von der Französischen Revolution bis ins 19. Jahrhundert fanden die "Chants révolutionnaires et patriotiques" allgemeine Verbreitung. Im Bündner Oberland waren vor allem die ab 1690 gedruckten volkstümlich-geistlichen Lieder der "Consolaziun dell'olma devoziusa" ("Trost der frommen Seele") populär.

Angeregt durch den ersten Abdruck einer Kuhreihe, der "Cantilena Helvetica", begann Johann Jakob Bodmer sich um 1724 für das schweizerische Liedgut zu interessieren. Bodmer wie auch Laurenz Zellweger und Albrecht von Haller standen als sogenannte Entdecker der Alpen und der Sitten ihrer Bewohner den Dialektliedern aufgeschlossen gegenüber. Die Helvetische Gesellschaft hingegen verfolgte noch um 1766 die aufklärerische Absicht, "ärgerliche" und "verführerische" Volkslieder zu verbieten und an deren Stelle "nützliche" einzuführen.

Die weltlichen und geistlichen Volkslieder, die meist hochsprachlich vorgetragen wurden, waren und sind zum Teil noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts eng mit dem Kirchenjahr verknüpft (u.a. Weihnachts-, Neujahrs-, Oster-, Heiligenlieder und Psalmen). Im Unterschied dazu waren die traditionellen Brauchtumslieder, die überwiegend in Mundart gesungen wurden, dem Agrar- oder Familienzyklus zugeordnet (Ernte-, Herbst-, Hirten-, Mai- oder Kiltlieder). Arbeitslieder, die sich ursprünglich auf bestimmte Berufe und Arbeitsvorgänge bezogen (Spinner-, Weber-, Handwerks-, Berufs- und Standeslieder), sind heute kaum mehr gebräuchlich.

Vierte Auflage der Liedersammlung von Johann Rudolf Wyss mit Zierbildchen von Gabriel Lory (Père) und Franz Niklaus König, 1826 (Schweizerische Nationalbibliothek).
Vierte Auflage der Liedersammlung von Johann Rudolf Wyss mit Zierbildchen von Gabriel Lory (Père) und Franz Niklaus König, 1826 (Schweizerische Nationalbibliothek).

Abgesehen von zahlreichen geistlichen und religiösen Liedern sowie von einigen wenigen Zaubersprüchen, Balladen, Nachtwächter-, Kinder- und Wiegenliedern entstammt das heute vorhandene Liedrepertoire der Heimat-, Jodel-, Tanz- und Liebeslieder vorwiegend dem 19. Jahrhundert. Weite Verbreitung fanden insbesondere die neueren volkstümlichen Lieder (Schweizer-, Vaterlands-, Heimat-, Soldaten-, Turner- und Studentenlieder). Mit dem Erwachen eines nationalen Bewusstseins nach der Französischen Revolution kamen die in Büchern gesammelten "Schweizer Lieder" oder die neu geschaffenen Lieder "im Volkston" oder "fürs Volk" durch Schützen-, Turner- und Studentenverbände (z.B. Zofinger Liederbücher) zu Hunderten in Umlauf. Mit der inszenierten Wiederbelebung bekam das Volkslied eine neue Zweckbestimmung und wurde zum ästhetisierenden, historisch vor- und aufgeführten Gegenstand bei Festumzügen und Festivals (Feste).

Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an wurden die mundartlich ausgerichteten Regionalstile durch die zunehmende Mobilität und Migration sowie das überregionale hochsprachliche Melodiegut der publizierten Lieder verändert. Volkslieder wurden öfters im Chorsatz arrangiert, andere wurden volkstümlich nachempfunden und zu Kunstliedern im Volksmund. Im Unterschied zu den meist einstimmig und mündlich überlieferten traditionellen Volksliedern wurden die mehrstimmig komponierten Lieder in publizierten Ausgaben unter anderem durch Gesangsvereine (Chorwesen), Schulen und (Jugend-)Verbände (z.B. Pfadfinder, Wandervogel) verbreitet. Um 1905 begann die Heimatschutzbewegung mit der organisierten Pflege der schweizerischen Bräuche, Trachten, Mundarten und Volkslieder. Auf der Suche nach einer vergangenen und häufig verklärten musikalischen "Bodenständigkeit" entwickelte sich über Jahrzehnte hindurch eine konservierende Kultur des Volksliedes wie auch der Volksmusik im heimatideologischen und nationalen Sinn. Dies führte in den 1960-1970er Jahren zum direkten Widerspruch im engagierten und politisierten Lied der Umweltschutzbewegung, die letztlich in der Liedpraxis der Folksongs bewusst das globale Denken mit dem lokalen Handeln zu verbinden trachtete.

Quellen und Literatur

  • Schweiz. Volkslieder, hg. von L. Tobler, 1882-84 (21975)
  • J. Urbain, La chanson populaire en Suisse romande, 3 Bde., 1977-94
  • M.P. Baumann, Bibl. zur ethnomusikolog. Lit. der Schweiz, 1981
  • N. Berther, Bibliografia retorumantscha (1552-1984) e Bibliografia da la musica vocala retorumantscha (1661-1984), 1986
  • C. Burckhardt-Seebass et al., "... im Kreise der Lieben": eine volkskundl. Unters. der populären Liedkultur in der Schweiz, 1993
  • M.P. Baumann, Die schönsten Schweizer Volkslieder, 1994, (mit Bibl. und Diskographie)
  • M.P. Baumann, «Die Älplerfeste zu Unspunnen und die Anfänge der Volksmusikforschung in der Schweiz», in Schweizer Töne, hg. von A. Gerhard, A. Landau, 2000, 155-186
  • J.-P. Moulin, Une histoire de la chanson française, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Max Peter Baumann: "Volkslied", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.07.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011886/2013-07-24/, konsultiert am 18.04.2024.