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Romanisierung

Romanisierung bezeichnet eine allmählich fortschreitende, vielfältige Entwicklung, welche die meisten der von Rom unterworfenen Völker erfasste. Sie bestand in einem mehr oder weniger tiefgreifenden Wandel der indigenen Gesellschaften infolge der Aneignung einer fremden Kultur. Dieser komplexe Prozess, der durch die Begegnung zweier Kulturen ausgelöst wurde, beschränkte sich nicht auf die blosse, vom Sieger aufgezwungene Akkulturation. Bei der schrittweisen Übernahme neuer Lebensweisen verhielten sich die keltische und die rätische Gesellschaft (Kelten, Räter) keineswegs passiv, sondern brachten selbst viel ein, indem sie kulturelle Modelle umgestalteten oder neu schufen und gleichzeitig einige ihrer Traditionen bewahrten. Somit ist die Welt der Galloromanen das Ergebnis einer grundlegenden Veränderung der Lebensbedingungen, wobei sich wegen der lückenhaften Kenntnis der keltischen Kultur nur schwer bestimmen lässt, was von ihr erhalten blieb. Die lange vor der Eingliederung in den römischen Herrschaftsbereich einsetzende Romanisierung wurde nicht nur durch die rasche Anpassung der Eliten an die römische Gesellschaftsordnung vorangetrieben, sondern auch durch den politischen Realismus der Römer, die es verstanden, den unterworfenen Völkern ihren identitätsstiftenden Rahmen zu belassen und die aristokratische gallische Führungsschicht in die neuen Machtstrukturen zu integrieren. Je nach Region und Gegebenheiten erfolgte die Romanisierung mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität: Im Genferseegebiet und Unterwallis setzte sich die römische Kultur stärker durch als im nordwestlichen Mittelland oder in den Alpentälern, die länger an ihren Traditionen festhielten. In den römischen Kolonien Nyon (Colonia Iulia Equestris), Avenches (Aventicum) und Augst (Augusta Raurica) sowie im Südtessin war die Romanisierung ausgeprägter als in der weniger dicht besiedelten Nordostschweiz, die etwas abseits der grossen Verkehrsachsen lag.

Anfänge

Bevor sich der römische Einfluss bemerkbar machte, trugen die griechische Expansion gegen Westen und insbesondere die Gründung der phokäischen Kolonie Marseille um 600 v.Chr. massgeblich zur Entwicklung der keltischen Gesellschaft bei. Diese übernahm städtebauliche und architektonische Muster, landwirtschaftliche Techniken, neue Handelsformen sowie soziale, künstlerische und religiöse Praktiken. Die Wanderung der Kelten im 4. Jahrhundert v.Chr., die 387 v.Chr. Rom einnahmen und sich in Norditalien niederliessen, die ab dem 3. Jahrhundert v.Chr. zunehmenden Beziehungen mit städtischen Zivilisationen im Mittelmeerraum, der Einsatz vieler keltischer Söldner in den hellenistischen Armeen sowie die römische Eroberung der Gallia Cisalpina sowie später der Gallia Transalpina förderten die Kontakte und führten zur Umstrukturierung der gallischen Gesellschaft sowie zur Entstehung der Oppidazivilisation (Oppidum), mit der erstmals eine Urbanisierung fassbar wird. Der Austausch mit der römischen Welt intensivierte sich. Rom schloss Bündnisse, um die Hauptverkehrswege zu kontrollieren, und römische Händler zogen durch Gallien (Gallia). Mehrere Völker, darunter die Helvetier, glichen ihre Währung dem römischen Währungssystem an, was einer wirtschaftlichen Revolution gleichkam. Während des Gallischen Kriegs dienten Angehörige der keltischen Aristokratie in Cäsars Stab und Einheimische schlossen sich den römischen Hilfstruppen an. Damit ergaben sich vielerlei Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten. Als Kaiser Augustus an die Macht kam, war die Romanisierung bereits seit mehreren Jahrhunderten im Gang.

Die Eingliederung des schweizerischen Gebiets in das Römische Reich

Territoriale, politische und Verwaltungsorganisation

Ab dem 2. Jahrhundert v.Chr. gelangten die oberitalienischen und Tessiner Seenregion sowie ein Teil des Genfer Gebiets unter römische Kontrolle. Die um 50/46 v.Chr. bzw. 44 v.Chr. in Nyon und Augst gegründeten Kolonien bildeten erste Zentren der Romanisierung. Doch erst nach der Eroberung der Alpen, die 25 v.Chr. begann und wahrscheinlich 13 v.Chr. abgeschlossen war, gehörte das gesamte Gebiet der heutigen Schweiz zum Römischen Reich. Die Errichtung von Militärposten in Zusammenhang mit der römischen Offensive gegen die Germanen und später der durch die Niederlage des Varus 9 n.Chr. ausgelöste Rückzug der Truppen bis zum Rhein lassen darauf schliessen, dass das Römische Heer das Gebiet fest im Griff hatte. Nach und nach wurden manche oppida aufgegeben, während andere offenbar ununterbrochen bewohnt blieben.

Wahrscheinlich zwischen 16 und 13 v.Chr. wurde Gallien reorganisiert; Augustus liess die Provinzen (Provincia) neu einteilen, eine Volkszählung durchführen, das Strassennetz erweitern und ausbauen sowie zahlreiche Haupt- und Nebenorte gründen. Jedes gallische Stammesgebiet wurde zu einer administrativen und politischen Einheit, einer Civitas. Diese hatte einen Hauptort, ein städtisches Zentrum, das den römischen Kriterien der urbanitas entsprach und in dem die einheimischen Eliten die Macht ausübten. So wurde Aventicum der Hauptort der Helvetier, Augusta Raurica das caput gentis der Rauriker und Forum Claudii Vallensium der Hauptort der Walliser Stämme, die Kaiser Claudius zu einer einzigen Einheit zusammenfasste. Einige Stämme (Helvetier, Allobroger) behielten im Römischen Reich ihre alte Einteilung in pagi (Gau) als Überbleibsel aus der Zeit ihrer Unabhängigkeit. Kleinere städtische Siedlungen (Vicus), die administrativ dem Hauptort unterstanden und eine Art Verbindungsglied zwischen Stadt und Land bildeten, wurden ab augusteischer Zeit umgestaltet oder völlig neu geschaffen, wahrscheinlich aufgrund eines kaiserlichen Erlasses. In ländlichen Gegenden verdrängten die villae (Römischer Gutshof), landwirtschaftliche Betriebe nach römischem Vorbild, die mehrheitlich in den Händen der bedeutendsten Familien der gallischen Aristokratie blieben, nach und nach einen Teil der einheimischen Höfe. Die römische Katastration schuf eine Bemessungsgrundlage für die Bodensteuer und ermöglichte allfällige Umverteilungen des Landes (Vermessung).

Zu den städtischen Institutionen, die den römischen nachgebildet waren, gehörten ein örtlicher Senat (ordo decurionum) und zwei für ein Jahr gewählte duumviri iure dicundo, die an der Spitze der Verwaltung standen. Ädilen, Quästoren oder Präfekte ergänzten die Exekutive der Kolonien. In den vici hielten die Bewohner (vicani) Versammlungen ab, die von ebenfalls für ein Jahr gewählten curatores oder magistri geleitet wurden. Es galt das komplexe, vollständig kodifizierte Römische Recht, das insbesondere für Nichtbürger durch örtliche Regelungen ergänzt wurde. Die Rechtsprechung oblag entweder den genannten duumviri in den Städten, dem Provinzstatthalter oder in schweren Fällen dem Kaiser als oberstem Richter. Obwohl die Gallier eigene Gesetze und Gerichte gekannt hatten, bedeutete die Einführung des neuen Rechtssystems einen Bruch mit der Vergangenheit. Dagegen entstand die territoriale Organisation, die sich ab augusteischer Zeit herausbildete, nicht von Grund auf neu: Die oppida und Streusiedlungen (einheimische Höfe), die im 2. Jahrhundert v.Chr. aufgekommen waren, sowie das gut belegte, umfangreiche Strassen- und Parzellennetz nahmen einzelne Elemente der Landschaftsstruktur in gallorömischer Zeit vorweg.

Die Rolle der Armee

Der Rückzug der römischen Truppen auf das linke Rheinufer 9 n.Chr. und die Befestigung der Rheingrenze durch die Kaiser Tiberius und später Claudius führten zur Errichtung des Legionslagers Vindonissa (Windisch) und von Militärposten (castella), unter anderem in Augst und Zurzach. Nacheinander waren drei Legionen und Hilfstruppen, d.h. ständig rund 6000 Soldaten, stationiert, die einen wichtigen Faktor der Romanisierung darstellten: Über die Armee kam die einheimische Bevölkerung in direkten Kontakt mit römischer Kultur und Lebensart. Indem sie sich um die Versorgung der Truppen kümmerte, beim Transport von Waren aus fernen Gegenden mitwirkte und den Soldaten Güter und Dienstleistungen anbot, erlebte sie einen offensichtlichen wirtschaftlichen Aufschwung und öffnete sich dabei zunehmend gegenüber der Zivilisation der Sieger. Die Rekrutierung von Einheimischen für die Hilfstruppen förderte ebenfalls die Aneignung neuer Lebensgewohnheiten. Auf Inschriften werden Kohorten erwähnt, die aus Helvetiern, Raurikern oder Soldaten aus den Walliser Stämmen bestanden. Epigrafisch belegt sind auch mehrere Soldaten aus dem Gebiet der heutigen Schweiz, die in der Ferne gestorben sind. Am Ende ihrer Dienstzeit (meist nach 20 bis 25 Jahren) erhielten die peregrinen Auxiliarsoldaten ein kaiserliches Diplom, das sie und ihre Nachkommen zu römischen Bürgern erhob. Legionen, denen hauptsächlich Bürger angehörten, wurden nur sehr selten von einheimischen Adligen befehligt; der Helvetier Caius Iulius Camillus, ein Militärtribun, war eine der wenigen Ausnahmen.

Ehemalige Soldaten (Veteranen) liessen sich oft in dem Gebiet nieder, in dem sie Dienst geleistet hatten, wurden Grundeigentümer und knüpften enge Beziehungen zu den städtischen Aristokratien. Die Armee wirkte auch an der regionalen Entwicklung mit, indem sie den lokalen Behörden Ingenieure und Spezialisten für den Bau von Strassen, Brücken, Aquädukten oder öffentlichen Gebäuden zur Verfügung stellte. Nach der Aufgabe des Legionslagers Vindonissa 101 n.Chr. infolge der Verlegung der Reichsgrenze (Limes) nach Norden war sie bis in spätrömische Zeit kaum mehr präsent. Es wurden lediglich einige Abteilungen zur Überwachung der Strassen eingesetzt, unter anderem in Genf, Vevey und Solothurn.

Besiedlung und Gesellschaft

Die römische Besetzung prägte die Zivilisation nachhaltig, was vermuten lassen könnte, die Bevölkerungsstruktur habe sich damit völlig verändert. Die literarischen, epigrafischen und archäologischen Quellen bestätigen jedoch nur die indigene Abstammung der Bevölkerung und die Romanisierung der Eliten, insbesondere durch Erwerb des Bürgerrechts. Vor der Eroberung umfasste die gallische Gesellschaft drei Hauptklassen, die aristokratische Elite (Ritter und Druiden), welche die Macht innehatte, das fast völlig rechtlose Volk und die Sklaven. Im Römischen Reich gliederte sich die Gesellschaft – abgesehen vom Kaiser und dessen Familie – in den Senatoren-, den Ritter- und den Dekurionenstand, die reichen Freigelassenen sowie die unteren Schichten, die aus Freien, Freigelassenen und Sklaven bestanden. In den von Rom unterworfenen Gebieten wurden die Freien zu «Peregrinen».

Die Aufnahme ins römische Bürgerrecht war eine der wichtigsten Triebfedern der Romanisierung. Dieses wurde einzelnen Personen oder ganzen Gruppen erteilt. In den Kolonien und civitates latinischen Rechts, wie in Avenches oder im Wallis, erhielten Angehörige der Oberschicht, die alle städtischen Ämter durchlaufen hatten, automatisch die Rechte und Privilegien eines römischen Bürgers. Auch über den Dienst in der Armee war ein solcher Aufstieg möglich. Bereits zu Beginn des Römischen Reichs fügte sich die lokale Aristokratie in die römische Gesellschaftsstruktur ein, indem sie zivile Ämter und militärische Funktionen übernahm. So hatten einige Mitglieder der bedeutenden Familie der Camilli aus Aventicum, welche die höchsten Ämter in der Civitas der Helvetier ausgeübt hatten, das römische Bürgerrecht bereits von Kaiser Augustus oder vielleicht sogar schon von Caius Julius Caesar erhalten. Einem von ihnen, Caius Iulius Camillus, gewährte Galba das seltene Vorrecht, in den Ritterstand aufzusteigen. Diese Eliten, deren Einfluss auf Grundbesitz beruhte, passten sich bereitwillig an die römische Gesellschaftsordnung an und trugen entscheidend zum raschen, tiefgreifenden Wandel der einheimischen Gesellschaft bei.

Die oberen und mittleren Schichten erhielten nach und nach das römische Bürgerrecht. Dieser Prozess beschleunigte sich zusehends, bis Kaiser Caracalla 212 n.Chr. mit einem Edikt dieses Recht allen freien Bewohnern des Reichs gewährte. Den Frauen, die meist dieselbe soziale Stellung hatten wie ihre Männer, waren von den öffentlichen Funktionen nur die Priesterinnenämter zugänglich, insbesondere im Kaiserkult (acht Belege). Gemäss dem römischen Recht, das nur für Bürger galt, stand die römische Frau – je nach der vereinbarten Eheform – unter der Vormundschaft ihres Mannes, ihres Vaters oder eines Verwandten. Abgesehen von den erwähnten Kaiserpriesterinnen finden sich in der Schweiz nur wenige Belege über die Tätigkeit von Frauen (Händlerinnen, Ärztinnen, Angestellte oder Dienstmägde). Zu erwähnen ist jedoch die in Aventicum bezeugte Pompeia Gemella, die Amme und vielleicht auch Erzieherin des späteren Kaisers Titus.

Stadt und Land

Der städtische Raum

Die oppida, in denen sich die wirtschaftliche, administrative, politische und religiöse Macht konzentrierte, werden heute meist als «keltische Städte» angesehen. Sie sind nicht mit den Stadtgründungen im Mittelmeerraum zu vergleichen, deren Urbanität als Inbegriff der griechisch-römischen Zivilisation gilt. In Gallien entsprachen die höchst vielgestaltigen Umfassungsmauern nicht immer den Anforderungen einer wirksamen Verteidigung, noch fügten sich die Wege und Plätze in ein streng rechtwinkliges System. Die öffentlichen Anlagen (Tempel, heilige Bezirke) blieben bescheiden, die Wasserversorgung war offenbar von untergeordneter Bedeutung und die Wohnungen der Oberschicht zeichneten sich eher durch die Qualität der Alltagsgegenstände sowie die raffinierte Küche als durch architektonischen Prunk aus. Der Urbanisierungsprozess, der mit der Reorganisation Galliens unter Augustus einherging und in dem sich der Wille der Zentralgewalt äusserte, wurde von den lokalen Eliten entscheidend vorangetrieben. Zur Machtausübung schufen sie – häufig auf eigene Kosten – dem römischen Modell entsprechende Rahmenbedingungen. Die Entwicklung verlief in den Städten je nach den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen unterschiedlich rasch. In Nyon, Avenches und Augst begannen sich unter Augustus und Tiberius, in Martigny unter Claudius städtebauliche Strukturen zu entfalten, die dem politischen, religiösen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben nach römischem Vorbild angemessen waren: Stadtraster mit breiten, von Rinnsteinen und Portiken gesäumten Strassen, Forum mit klassischem römischem Podiumstempel (Tempel), Basilika und Thermen, Stätten für Erholung, Freizeit und Begegnung (Amphitheater, Theater), Märkte, Aquädukte, Abwasseranlagen, Brunnen und Wasserspiele (Wasserversorgung), Abfallentsorgung sowie neben einfacheren Wohngebäuden auch reich verzierte Häuser (domus) der Oberschicht mit Innenhöfen mediterraner Prägung, welche die soziale Stellung ihrer Besitzer widerspiegelten. Diese städtischen Zentren, deren Erscheinungsbild sich mit der allmählichen Verdrängung der Holz-Lehm-Bauten ab der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. grundlegend veränderte, führten die römische Wesensart plastisch vor Augen und leisteten dadurch dem Wandel der Lebens- und Denkweisen Vorschub.

Auch die vici, in denen die einheimischen Traditionen deutlicher hervortraten, strebten nach einem Stadtbild römischen Zuschnitts, doch blieb dieses wegen ihrer untergeordneten Stellung und mangels finanzieller Mittel eher bescheiden. Das Wegnetz war weniger streng angelegt, römische Tempel fehlten, in den meist länglichen Häusern verbanden sich handwerkliche Nutzung und Wohnfunktion und domus waren nur vereinzelt anzutreffen. In den Alpen folgten Siedlungen wie Gamsen-Waldmatte (Brig-Glis), die fast ausnahmslos auf die Eisenzeit zurückgehen, ebenfalls einem – allerdings eher lockeren – Leitschema. Sie zeichneten sich durch traditionelle Bauweisen (Lehm und Holz) aus, die perfekt an die Umgebung angepasst waren und weit über die gallorömische Zeit hinaus fortbestanden.

Der ländliche Raum

Die villae strahlten als Zentren der Romanisierung auf dem Land städtisches Flair und städtischen Wohlstand aus. In der Zeit des Augustus und Tiberius entstanden, häufig auf neuen Parzellen, die ersten Gutshöfe. Diese waren zuerst aus Holz erbaut und ab der Mitte des 1. Jahrhunderts n.Chr. vermehrt auch gemauert. Die Gutshöfe verbreiteten sich allmählich und ersetzten die einheimischen Gehöfte, die aus Lehm und Holz gefertigt und von einem Graben umgeben waren; sie wurden entweder am gleichen Ort wie Letztere oder etwas entfernt von diesen angelegt. Ihre maximale Dichte und Ausbreitung erreichten die Gutshöfe im 2. Jahrhundert n.Chr. In dieser Zeit nahm der luxuriöse Wohnbereich (pars urbana) zuweilen palastähnliche Gestalt an (z.B. Orbe-Boscéaz) und der für die landwirtschaftliche und handwerkliche Nutzung bestimmte Bereich (pars rustica) erlangte seine grösste Ausdehnung.

Wichtigste Tätigkeiten waren Getreideanbau, Viehzucht, Obst- und Gemüsebau. Die Romanisierung brachte neue Pflanzen wie Koriander, Fenchel, Dill, Roggen, Hafer, Weizen und Weinreben. Das Veredeln führte zu einer Weiterentwicklung des Obstbaus; die bereits bekannten Arten wurden zum Beispiel durch den Nuss- und den Zwetschgenbaum ergänzt. Esel, Maultier, Katze und Taube erweiterten das Spektrum der Haustiere. Bessere Zuchtbedingungen und die Kreuzung mit Rassen aus Italien oder Südgallien führten zu einer Grössenzunahme der Viehsorten. Auch viele landwirtschaftliche Techniken und Gerätschaften wurden verbessert (Steigerung des Bodenertrags durch Mergel- und Mistdüngung, Perfektionierung des Pflugs, Zuchtwahl des Saatguts, Aufkommen von Wassermühlen, Einführung von Fässern, Räucherkammern und Dörröfen für Früchte und Getreide).

Im Alpenraum entstanden Gutshöfe im unteren Rhone- und Rheintal, die sich aufgrund ihrer Topografie und der ausgedehnten Flächen für grosse oder mittlere Landwirtschaftsbetriebe eigneten. In höher gelegenen Tälern bewirkte die römische Eroberung keine grundlegende Veränderung der Bewirtschaftung (vorwiegend Agrar- und Viehwirtschaft), die von den topografischen und klimatischen Bedingungen abhing. Die herkömmliche Holzbauweise und Trockenmauertechnik wurden weiter gepflegt, und wie schon im Neolithikum genoss die Ziegenzucht eine Vorrangstellung, die sie bis mindestens ins 5. Jahrhundert n.Chr. behielt.

Alltagsleben

Ziegelfragment mit eingeritztem Vergilzitat aus Eschenz, 1.-3. Jahrhundert n.Chr. (Amt für Archäologie des Kantons Thurgau, Frauenfeld).
Ziegelfragment mit eingeritztem Vergilzitat aus Eschenz, 1.-3. Jahrhundert n.Chr. (Amt für Archäologie des Kantons Thurgau, Frauenfeld). […]

Das Latein, die Verwaltungs- und Kultursprache des Römischen Reichs, war in den Schulen, die den Unterricht der Druiden ersetzten und allen Bevölkerungsschichten, Mädchen wie Jungen, offen standen, stark verbreitet und setzte sich rasch durch. Gleichwohl ist insbesondere der mündliche Gebrauch der Vernakularsprache mindestens bis in die spätrömische Zeit belegt. Die Verwendung der Schrift, die in Gallien im 2. Jahrhundert v.Chr. eingeführt wurde, um den Anforderungen des Handels gerecht zu werden, setzte sich ebenfalls sehr rasch durch. Die neu aufkommenden amtlichen oder privaten Inschriften, in Stein oder Bronze graviert, Schreibtafeln, Gegenstände mit Aufschriften sowie Graffiti bezeugen die Alphabetisierung der einheimischen Bevölkerung ab augusteischer Zeit. Mit der neuen Urbanität und den vielen Veränderungen auf dem Land wandelte sich der Alltag. Im Wohnbereich zeigt sich der römische Einfluss bei der Bauweise (Mauerwerk, Ziegel), den Verzierungen (Wandmalereien, Mosaiken, Skulpturen, Stuck), der Einteilung und der Zweckbestimmung der Räume (Wohn-, Ess- oder Schlafzimmer, Küche), dem Komfort (Hypokaustheizung), der Beleuchtung (Öllampen, Laternen) oder der Möblierung (keltische Häuser hatten meist keine Bänke, Tische, Betten oder erhöhte Feuerstellen aufgewiesen, da sich alle Aktivitäten auf dem Boden abgespielt hatten). Das verwendete Geschirr lässt auf eine Entwicklung des Essverhaltens schliessen, das jedoch je nach sozialer Schicht und Region variierte. Ab dem 1. Jahrhundert v.Chr. waren neue Geschirrtypen, die teils aus dem Mittelmeerraum stammten, teils in örtlichen Werkstätten nach römischem Muster hergestellt wurden (Mörser, Krüge, rotes Glanztongeschirr, Feinkeramik), und traditionelle einheimische Formen nebeneinander in Gebrauch. Zusammen mit den importierten Amphoren zeugen sie von mediterranen Ernährungsgewohnheiten, d.h. der Vorliebe für Olivenöl, Wein und scharfe Würzstoffe wie Essig oder Fischsaucen (garum), aber auch für das Dämpfen und Schmoren. Der Löffel wurde gebräuchlich, erst viel später folgte die Gabel.

An offiziellen Zeremonien trugen die Bürger die Toga. Sonst bestand die übliche Kleidung aus der Tunika, einem häufig mit einer Fibel zusammengehaltenen Mantel und meist genagelten Schuhen. Die Frauen richteten sich nach der Mode der Kaiserinnen (Frisur, Schminkstil, Schmuck). Hygiene und Wohlbefinden verbesserten sich erheblich durch Thermenbesuche und Sport, das Anlegen von Abwasserkanälen und Latrinen sowie die Weiterentwicklung der Medizin und der Heilmittel. Die Lebenserwartung stieg deutlich, blieb jedoch im Durchschnitt eher niedrig. Auch das Freizeitangebot nahm römische Züge an, insbesondere mit dem Aufkommen des Theaters als wichtiger Plattform für die römische Kultur. Neben der Leier und dem gallischen Carnyx bereicherten Flöte, Becken, Laute, Zitter und Wasserorgel das Spektrum der Musikinstrumente.

Wirtschaftsleben

Der von der Hallstattzeit an betriebene Fernhandel intensivierte sich im ausgehenden 2. Jahrhundert v.Chr., und einige gallische Stämme passten ihre Währung an das römische System an. Überdies ist seit dieser Zeit ein vorrömisches Strassennetz belegt. Erst in augusteischer Zeit begann aber ein eigentlicher Aufschwung, der in der zweiten Hälfte des 1. und im 2. Jahrhundert n.Chr. zu einer wirtschaftlichen Blüte führte. Die Übernahme des römischen Gewichts- und Währungssystems, eine flexible und effiziente Verwaltung, präzise Rechtsnormen sowie der Aus- bzw. Aufbau eines Netzes von sichereren Verkehrsverbindungen zu Land und zu Wasser begünstigten den Handel. Entlang der grossen Transitwege reihten sich Raststationen (mansio oder mutatio), Zollstellen, die anstelle des vorrömischen Wegzolls eine Steuer erhoben, und militärische Kontrollposten. Neue Hafenanlagen (Genf, Lausanne-Vidy, Avenches) erleichterten die Nutzung der Wasserwege.

Die Angehörigen verschiedener Berufsgruppen organisierten sich in Korporationen. Die Genfersee-, Aare- und Zihlschiffer, die negotiatores cisalpini et transalpini oder die negotiatores salsarii et leguminari (Gemüse- und Olivenhändler) betrieben und kontrollierten den Handel. Viele Waren kamen aus dem Mittelmeergebiet, aus Afrika, dem Orient, aus Gallien oder Britannien (Nahrungsmittel, Geschirr, Glas, Metall, Marmor, Mühlsteine, aber auch selten archäologisch überlieferte Produkte wie Stoffe oder Gewürze). Im Gegenzug wurden eingesalzene Lebensmittel, Holz, Specksteingefässe, Bergkristalle und Gebrauchsgegenstände, vor allem aus Bronze, ausgeführt. Das Gebiet der heutigen Schweiz lag am Schnittpunkt der grossen Handelsstrassen über die Alpen und den Jura sowie des Rhonekorridors, der in der Kaiserzeit eine Vorrangstellung bekam, und fügte sich früh in das internationale Handelsnetz ein.

Technik, Handwerk und Kunst

Die herkömmliche Lehm- und Holzbauweise hielt sich während der gesamten Römerzeit, doch zeigt sich die Romanisierung in der Übernahme der Mörtelmauertechnik, der Verwendung von Quadersteinen, Marmor (v.a. aus dem Mittelmeerraum), Ziegeln, Kalkmörtelverputz und Hartböden (Mörtel, Baustoffgemisch mit Ziegelmehl, Stein- oder Terrakottaplatten). Neben Wandmalereien und Mosaiken wurden zur Dekoration auch Steinverkleidungen, Intarsien oder Stuck verwendet. Mit der Heissluftheizung (Hypokaust) und einer ausgereiften Wasserversorgung und Abwasserentsorgung (Drainagen, Leitungen aus Stein, Holz, Blei oder Ton, Kloaken) erhöhte sich der Komfort. Systematisch ausgebeutete Steinbrüche lieferten Baumaterialien, Mühlsteine oder Speckstein für die Gefässherstellung.

Männerkopf aus Bronze, 1. Jahrhundert n.Chr. (Bernisches Historisches Museum; Fotografie Stefan Rebsamen).
Männerkopf aus Bronze, 1. Jahrhundert n.Chr. (Bernisches Historisches Museum; Fotografie Stefan Rebsamen). […]
Bronzekopf der Diana. Fund von 1824 aus dem Heiligtum von Thun-Allmendingen, erste Hälfte 1. Jahrhundert n.Chr. (Bernisches Historisches Museum; Fotografie Stefan Rebsamen).
Bronzekopf der Diana. Fund von 1824 aus dem Heiligtum von Thun-Allmendingen, erste Hälfte 1. Jahrhundert n.Chr. (Bernisches Historisches Museum; Fotografie Stefan Rebsamen). […]

Neue Techniken hielten Einzug, wie der Formguss zur Anfertigung von Lampen, Statuetten und Reliefbildern, die Herstellung von rotem Glanztongeschirr, die Glasbläserei, die eine Produktion in grossem Umfang erlaubte, sowie die Beinschnitzerei und -drechslerei, die bei den Kelten kaum entwickelt war. Auch die Bildhauerei bzw. Skulpturen aus Holz, aus Stein und seltener auch aus Bronze sind bei den Galliern gut dokumentiert, doch fanden sie erst in der Römerzeit im öffentlichen wie im privaten Bereich allgemeine Verbreitung. Trotz einiger Anklänge oder bestimmter Bezüge zur italischen oder gallischen Volkskunst setzte sich der Kanon der griechisch-römischen Kunst durch.

Ab augusteischer Zeit wurden kostbare Kunstgegenstände importiert, die öffentliche Plätze und Gebäude sowie die prächtigen Wohnhäuser und Mausoleen der Oberschicht zierten. Andere, häufig ebenfalls hochwertige Stücke entstammten der örtlichen Produktion. Die keltische Kunst mit ihren originellen Schöpfungen wie auch die vorwiegend mündliche Literatur verschwanden fast vollständig. Für die Galloromanen waren nunmehr die Gattungen und die Formensprache der klassischen Kultur massgebend; die gallische Tradition drang nur noch in Werken von geringerer Bedeutung oder im Handwerk durch.

Religion und Bestattungspraktiken

Trotz des hohen Stellenwerts der bestehenden Traditionen brachte die Romanisierung auch grundlegende Veränderungen im religiösen Bereich. Die Druiden und ihr mit der neuen römischen Ordnung unvereinbares Wertesystem wurden ebenso verboten wie Menschenopfer und Polygamie. Dem Zusammenhalt des Reichs diente die Einführung des Kaiserkults und die Schaffung spezieller, für die Manifestation der offiziellen römischen Religion bestimmte Plätze und Zonen. Religiöse Regeln, Opferriten und priesterliche Einrichtungen folgten dem römischen Muster. Die alten Götter, die häufig ihren Namen (u.a. Cantismerta, Epona, Lugoves, Taranis und Naria), ihren natürlichen (Poeninus, die Ortsgottheit vom Grossen St. Bernhard) oder tierischen Ursprung (dreihörniger Stier, Bärengöttin Artio) und ihre Attribute behielten, wurden römischen Vorstellungen angepasst, ohne dass sich aber die von Caesar vorgeschlagene Gleichsetzung von gallischen Göttern und römischen Gottheiten (interpretatio romana) völlig durchsetzte. Das Wesen der einheimischen Götter lässt sich jedoch wegen ungenügender Kenntnis der gallischen Religion derzeit nicht genau bestimmen.

Heiligtümer ausserhalb des Stadtzentrums, wie in Avenches oder Augst, die den offiziellen Göttern der Civitas vorbehalten waren, vereinigten die Gottheiten des römischen Pantheons und die – uminterpretierten – einheimischen Götter, von denen einige wie zum Beispiel Caturix bei den Helvetiern zu Staatsgöttern wurden. Dasselbe gilt für regionale Kultanlagen, wie in Studen-Petinesca und Thun-Allmendingen, wo die alten Götter mit den römischen Bräuchen in Einklang stehende neue Werte annehmen mussten. Die religiöse Architektur wandelte sich durch die Übernahme des klassischen römischen Podiumstempels und des gallorömischen Umgangstempels mit erhöhter cella und Säulenumgang (Fanum), einer stark römisch beeinflussten, originellen Schöpfung, die einen Bruch mit der gallischen Vergangenheit erkennen lässt. Die Götter nahmen mit einigen Ausnahmen menschliche Züge an, und die Tempel, in denen ihre Bildnisse standen, dienten ihnen als Behausung. Die Weiterbenutzung von keltischen Heiligtümern wie dem durch einen Graben begrenzten Sakralbezirk in Lausanne-Vidy, der im 1. Jahrhundert n.Chr. noch in Gebrauch war, blieb die Ausnahme. Im Privatbereich fand der römische Hauskult mit dem Lararium, in dem die Götterstatuetten aufgestellt wurden, insbesondere bei den Eliten grosse Verbreitung.

Die Bestattungen richteten sich nach römischem Gesetz. Die bereits in der Spätlatènezeit anzutreffende Feuerbestattung setzte sich fast überall durch, ausser im Alpenraum, wo die Körperbestattung trotz der Romanisierung der Grabbeigaben und der Grabarchitektur (Tessin) während der gesamten Römerzeit praktiziert wurde. Nach römischem Brauch wurden die Nekropolen ausserhalb des Stadtgebiets angelegt. Die Verstorbenen wurden manchmal am selben Ort verbrannt, an dem sich später ihr Grab befand, während Neugeborene und Kleinkinder nicht kremiert wurden. Die Grabformen spiegelten die gesellschaftliche Hierarchie: Manche Gräber wiesen nur bescheidene überirdische Markierungen auf, die kaum Spuren hinterliessen, andere waren durch behauene oder mit Inschriften versehene Stelen, auf denen meist Name, Alter, Status und Laufbahn des Toten angegeben waren, kenntlich gemacht. Wieder andere Gräber zeichneten sich durch gemauerte Kleinbauten oder durch imposante Mausoleen aus, deren Architektur und Bildersprache sich unmittelbar an den griechisch-römischen Kanon anlehnten und als Monumente des Stolzes und des Geltungsanspruchs die herausragende soziale und kulturelle Stellung der Notabeln zum Ausdruck brachten. Selten finden sich Bezüge zu früheren keltischen Praktiken wie die Beigabe von Waffen, bezeugt in einem romanisierten Grab in Remetschwil aus dem beginnenden 1. Jahrhundert n.Chr.

Schlussbetrachtung

Die Romanisierung führte zu einem tiefgreifenden Wandel der keltischen Gesellschaft und deren Lebensbedingungen, wobei das ethnische Substrat sich nur unwesentlich veränderte. Mehrere Faktoren begünstigten diesen Prozess: der lang anhaltende Austausch zwischen zwei Zivilisationen, die viele Gemeinsamkeiten aufwiesen, eine lange Periode des Friedens und des Wohlstands nach einer schonungslosen Eroberung, die Gewährung einer weitgehenden Autonomie für die civitates, deren Bevölkerungen schrittweise das Bürgerrecht erhalten hatten, aber nach wie vor von derselben einheimischen Elite geleitet wurden, eine offene Geisteshaltung sowie das Ausbleiben von religiösem Fanatismus. Die Romanisierung, ein einzigartiges geschichtliches Phänomen, kann durchaus als Erfolg gewertet werden, doch ist eine differenzierte Betrachtung angezeigt. Die Veränderungen vollzogen sich unter dem fördernden Einfluss Roms und mit Zustimmung der Oberschicht, und die Einheimischen romanisierten sich gemäss Tacitus, ohne es zu merken. Allerdings darf weder der Identitätsverlust der Bevölkerung noch die kulturelle Entfremdung oder gar das fast völlige Verschwinden einer reichen Kultur ausser Acht gelassen werden.

Die romanisierte indigene Gesellschaft sicherte in der Westschweiz, in Rätien und im Tessin eine lang anhaltende geschichtliche und sprachliche Kontinuität, während die übrigen Teile des Landes, die ab dem 6. Jahrhundert n.Chr. von den Germanen schrittweise bis zur Saane kolonisiert wurden, nach und nach eine neue kulturelle und sprachliche Identität annahmen (Alemannen). Die Kolonien Augst, Nyon und Avenches verloren zwar zu Gunsten von Basel, Genf und Lausanne an Bedeutung, doch blieb das gallorömische Erbe überall lebendig, vor allem auch dank der Kirche, die am Gebrauch des Lateinischen und einer hierarchischen Verwaltungsorganisation nach römischem Vorbild festhielt, und durch den Fortbestand des römischen Rechts, das bis heute nachwirkt.

Quellen und Literatur

  • C. Goudineau, Regard sur la Gaule, 1998
  • D. Paunier, «Dix ans d'archéologie gallo-romaine en Suisse», in Revue du Nord 80, 1998, 235-251
  • G. Woolf, Becoming Roman, 1998
  • SPM 5
  • W. van Andringa, La religion en Gaule romaine, 2002
  • L. Flutsch, L'époque romaine ou la Méditerranée au nord des Alpes, 2005
  • La romanisation et la question de l'héritage celtique, hg. von D. Paunier, 2006
Weblinks

Zitiervorschlag

Daniel Paunier: "Romanisierung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.10.2014, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012293/2014-10-29/, konsultiert am 06.10.2024.