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Wildkirchli

Ansicht der Wildkirchli-Höhlen. Kolorierte Radierung von Georg Leonhard Hartmann, 1785 (Kantonsbibliothek Appenzell Innerrhoden, Appenzell).
Ansicht der Wildkirchli-Höhlen. Kolorierte Radierung von Georg Leonhard Hartmann, 1785 (Kantonsbibliothek Appenzell Innerrhoden, Appenzell). […]

Drei untereinander verbundene weite Höhlen (Altarhöhle oder Kirchlihöhle, Untere Höhle, Obere Höhle) auf 1488-1500 m Höhe in der bis zu 120 m hohen Felswand am Ostrand der Ebenalp, südwestlich von Weissbad im Bezirk Schwende-Rüte des Kantons Appenzell Innerrhoden. Die Altarhöhle mit flachem Tonnengewölbe, deren Eingang sich vorhallenartig erweitert, wurde von Pfarrer Paulus Ulmann 1657 als Kapelle eingerichtet. Diese erhielt 1785 eine Altarrückwand, 1860 ein neues Glockentürmchen. Eine Mauer schliesst gegen den hinteren Höhlenteil (Kellerhöhle) unter dem nassen Querspalt ab. In der Unteren Höhle wohnten 1658-1853 während der Sommermonate Eremiten. Danach wurde sie als Festhütte (Gasthaushöhle) des Gasthauses Aescher benutzt. Seit 1972 dient das erneuerte Eremitenhäuschen als Museum. Die Untere Höhle verengt sich hinten zu einem Gang, der im Berginnern in eine hohe, weite Höhle führt (Obere Höhle). Darin erreicht man über eine mächtige Schutthalde 12 m höher das Höhlentor. Frühe Funde von Knochen und Zähnen des Höhlenbären aus dem Bereich des Felsenpfades vor den unteren Höhlen kamen ins Naturhistorische Museum St. Gallen. Zum Ausbau der Sammlung führte Emil Bächler 1903-1908 in den drei Höhlen Ausgrabungen durch. Er entdeckte 1904 in feuersteinartigen Gesteinsstücken aus einer oberen Schicht der Altarhöhle urgeschichtliche Geräte. Ihre Ähnlichkeit mit Typen des Moustérien (Paläolithikum) bewies erstmals die Anwesenheit des Neandertalers im Gebirge. Man sprach von der Wildkirchli-Kultur. Spätere Funde in anderen Gebirgshöhlen führten zur Bezeichnung Alpines Paläolithikum. Beide Begriffe gelten heute nicht mehr allgemein.

Der Forschungsstand um 1900 liess die Beziehung der Höhlenbärenknochen zu den Kulturresten im Verlauf der jüngeren Eiszeit nur ungenau erkennen. Erst nach 1950 ermöglichten spezielle Sedimentanalysen, die Höhlensedimente in die inzwischen erfolgte Feingliederung der letzten Eiszeit (Würm-Eiszeit) einzuordnen und damit auf ein Alter von ca. 60'000-10'000 Jahren zu datieren. Der grösste Teil der Altarhöhle war unberührt geblieben. Hier konnte der alte Grabungsschutt rasch ausgehoben und ein vollständiges Schichtenprofil zur Beobachtung der einzelnen Sedimentteile und zur Probenentnahme freigelegt werden.

Der neue Graben entlang dem von Bächler einst freigelegten Längsprofil erreichte nach 1,5 m Grabungsschutt unberührte Schichten. Aus diesen wurden danach bis zum Felsboden in 5 m Tiefe im 1,3 m breiten Graben alle Steine und Knochen sorgfältig geborgen. In der 7 m langen und 5 m hohen Profilwand zeichneten sich drei Schichtkomplexe ab, die durch Sedimentanalysen, Tierknochen und Silexwerkzeuge erkennbar wurden: Die unteren, oft grobsteinigen und mit Lehm durchsetzten Lagen bildeten sich während der langen Frühwürm-Phase vor etwa 90'000-45'000 Jahren. Die Höhlen waren Winterlager, Wurf- und Sterbeort der Höhlenbären. Vom folgenden wärmeren Inner-Würm-Interstadial (vor etwa 45'000-30'000 Jahren) zeugt ein stark zersetzter Lehm. In dessen oberem Teil wie auch zu Beginn des darüberliegenden kleinsteinigen, unruhigen Schichtkomplexes lagen Silexgeräte. Diese sowie häufige Gemsen-, Steinbock- und Wolfknochen belegen sommerliche Jagdzüge der Neandertaler ins Gebirge (Prähistorische Temporärsiedlungen). Die Feuerstellen im damaligen Eingangsbereich der Höhle sind mit der Rückverwitterung der ganzen Felswand über dem Säntisgletscher (Säntis) während der Hauptwürm-Vereisung vor 30'000-20'000 Jahren abgestürzt. In jenem Zeitraum ist auch der Höhlenbär verschwunden. Am heutigen Höhleneingang dokumentieren von der Höhlenstirn abgebrochene Felsblöcke das Ende der Eiszeit. Die neue Bestandesaufnahme weist die von Bächler ergrabenen und die neu gefundenen Silexgeräte der späten Phase des Moustérien (um 40'000 Jahre vor unserer Zeit) zu.

Quellen und Literatur

  • Bächler, Emil: Das alpine Paläolithikum der Schweiz im Wildkirchli, Drachenloch und Wildenmannlisloch. Die ältesten menschlichen Niederlassungen aus der Altsteinzeit des Schweizerlandes, 1940.
  • Schmid, Elisabeth: «Zum Besuch der Wildkirchli-Höhlen», in: Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte, 29, 1977, S. 2-12.
  • Le TensorerJean-Marie; Niffeler, Urs: Paläolithikum und Mesolithikum, 1993, S. 145-151 (Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter, 1).
  • Le Tensorer, Jean-Marie: Le Paléolithique en Suisse, 1998, S. 122-124.
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Zitiervorschlag

Elisabeth Schmid: "Wildkirchli", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.11.2022. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012768/2022-11-10/, konsultiert am 17.04.2024.