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Archive

Archive sind Einrichtungen, die der systematischen Sammlung, Aufbewahrung und Erschliessung von Schrift-, Ton- und Bildträgern dienen. Archive werden von Gemeinwesen, Firmen, Vereinen, Stiftungen, anderen privaten Institutionen, Familien oder Einzelpersonen unterhalten.

Geschichte

Die ältesten erhaltenen Archive in der Schweiz sind diejenigen der Benediktinerklöster. Dorsualnotizen auf den Pergamenturkunden der Abtei St. Gallen lassen für das 9. Jahrhundert auf eine topografische Klassierung schliessen; die ältesten Belege stammen sogar aus dem 8. Jahrhundert. In den später entstandenen Archiven der Bistümer und Domkapitel finden sich bereits im 13. Jahrhundert und vor allem vom 14. Jahrhundert an Spuren von Klassierungen und Inventarisierungen, als die Wiederbelebung des römischen Rechts und die Entwicklung des Notariats die Verwaltungen zwangen, ihre Bestände (Akten, Urbare, Urkunden) zu ordnen. Die beiden Adelsgeschlechter, die sich vom 13. Jahrhundert an die weltliche Macht im Gebiet der heutigen Schweiz teilten – das Haus Savoyen in der Westschweiz und das Haus Habsburg in der Zentral- und Ostschweiz – führten neue Verwaltungsmethoden ein. Die von England und vielleicht von Italien beeinflussten Neuerungen der Savoyer wurden bald von anderen Herren in der Region und von den sich ausbildenden Kommunen übernommen. Die Habsburger gaben mit der Gliederung ihres Herrschaftsbereichs in Ämter, der systematischen Erfassung ihrer Rechte, Besitzungen und Einkünfte (Habsburgisches Urbar) und dem ab 1384 nach Herrschaften geordneten Archiv auf der Feste Baden («Stein») ein Beispiel für ein modernes Ordnungssystem. Die wachsenden militärischen und steuerlichen Erfordernisse der weltlichen und geistlichen Herrschaften sowie der Stadtgemeinden führten vom 15. Jahrhundert an zu einer Zunahme und Diversifizierung des Schriftguts. In den Amtsstuben häuften sich Rechnungen, Gerichtsakten, Ratsprotokolle, Geschäftspapiere, Notariatsakten, militärische Dokumente und Steuerregister, die die Fürsten und die kommunalen Gemeinwesen zwangen, neue Ordnungssysteme zu schaffen und Inventare aufzunehmen.

Die Reformation führte in den reformierten Orten zur Säkularisation der Klöster und ihrer Güter. Für die neuen Klosterämter richteten die reformierten Städte Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen und insbesondere Genf zahlreiche Sonderarchive ein, was einige Umgestaltungen und neue Massnahmen in der Aufbewahrung erforderlich machte. Andererseits hatte die Flucht von Geistlichen, die nicht zum neuen Glauben übertreten wollten, zur Folge, dass aus den Archiven der aufgelösten oder verlegten Institutionen auch Schriftstücke verloren gingen oder Bestände verstreut wurden. Vom ausgehenden 17. Jahrhundert an führten absolutistische Ansätze in den Obrigkeiten sowie der Rationalismus der Aufklärung zur Reorganisation und Zentralisierung von Dienststellen, deren Akten zuvor auf einzelne Kanzleien und Ämter verteilt gewesen waren. Die Zunahme des Verwaltungsschriftguts, die zuweilen als Frucht der Revolutionszeit angesehen wird, hatte bereits früher im 18. Jahrhundert eingesetzt. Die Helvetische Revolution hatte aber andere wichtige Auswirkungen auf die Archive. In einigen Kantonen zog die Auflösung der alten Herrschaftsordnung die Zerstörung von Dokumenten nach sich (Bourla-Papey). Die Revolution schuf die Rechtsgrundlagen für eine neue Gesellschaftsordnung, und der Wiener Kongress führte 1814-1815 zur Neuordnung der europäischen Staaten, insbesondere auch des schweizerischen Staatenbunds. Dies hatte zur Folge, dass die Urkunden und Akten des Mittelalters und zum Teil auch des Ancien Régime ihre Rechtskraft verloren. Sie waren damit der Gefahr ausgesetzt, vernachlässigt, gestohlen oder verstreut zu werden. So entstanden mehrere private Sammlungen von öffentlichem Schriftgut. Die Ordnung der Archive und ihre Benützung zu historiografischen Zwecken begann in den Kantonen mit der Gründung von historischen Vereinen zur Zeit der Restauration. Seither werden mit grossem Aufwand Schriftstücke gesammelt, klassiert und inventarisiert.

Ausschnitt aus dem «Statut de la grande cour séculière de Lausanne», Pergament, 2. Mai 1404 (Archives de la Ville de Lausanne,​​​​​ Corps de EE 363).
Ausschnitt aus dem «Statut de la grande cour séculière de Lausanne», Pergament, 2. Mai 1404 (Archives de la Ville de Lausanne,​​​​​ Corps de EE 363). […]

Im 19. Jahrhundert wurden die Archive häufig nach dem Pertinenzprinzip, d.h. nach Sachgebieten, geordnet. Das bekannteste Beispiel ist das Archiv von Basel-Stadt, wo der Archivar Rudolf Wackernagel in beeindruckender Einzelarbeit die von seinen Vorgängern hinterlassene Sammlung völlig neu ordnete und 1904 ein Inventar veröffentlichte. Doch die Fülle von neuem Archivgut, die eine eingehende Sichtung verunmöglicht, und die Forderung der Forscher nach vollständigen, fortlaufenden Reihen zwangen die Schweizer Archivare, zum Provenienzprinzip überzuwechseln, bei dem die Bestände als Einheiten belassen werden. In jüngster Zeit werden die Archivalien vor allem aus Platzgründen zunehmend nach der Reihenfolge ihres Eingangs geordnet, ungeachtet der Institution, in der sie erzeugt und angesammelt wurden. Das Recht auf Benützung eines Archivs zu historischen Zwecken, das während des Ancien Régime ausnahmsweise Mitgliedern der Regierung oder deren Bevollmächtigten zugestanden wurde, ist heute in den öffentlichen Archiven ein demokratisches Recht, das sich manchenorts auf eine gesetzliche Grundlage, nirgends aber auf einen Verfassungsgrundsatz stützen kann.

Organisation und Bestände der Archive

Das Verhältnis zwischen den Archiven von Bund, Kantonen und Gemeinden ist nicht hierarchisch. Benutzungsrecht, Aufbewahrungs- und Mitteilungspflicht sind durch keine Verfassungsbestimmung festgelegt. Nur fünf Kantone haben ein Archivgesetz: Genf (1925), Jura (1984), Neuenburg (1990), Zürich (1995) und Basel-Stadt (1996). Das Bundesgesetz über die Archivierung (1998) regelt die Archivierung der Akten des Bundes (Bundesarchiv). Zudem finden sich Rechtsgrundlagen für die Archivführung in Verwaltungs-, Heimatschutz- und Kulturgüterschutz-Gesetzen. Jede Behörde führt ihr Archiv selbstständig – die Gemeinde unter Oberaufsicht des Staatsarchivs – und ernennt das zuständige Personal nach eigenen Kriterien. Der 1922 gegründete Verein Schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA) und die seit 1993 bestehende Konferenz der Staatsarchivare sorgen für eine gewisse Koordination zwischen den einzelnen Einrichtungen. Zudem haben die Archivare, zusammen mit den Bibliothekaren und den Dokumentalisten, eine eigene Zeitschrift (Arbido).

Kantonsarchive

Die Staats- bzw. Landesarchive der Kantone sind die ältesten öffentlichen Aufbewahrungsorte. Sie enthalten die wichtigsten Quellen zur Geschichte der Kantonsgebiete von den Anfängen des Verwaltungsschriftguts bis zur Gegenwart sowie zur Geschichte der Eidgenossenschaft von 1291-1798 und 1815-1848 (das Bundesarchiv für die übrigen Zeitabschnitte). Das Staatsarchiv des Kantons Zürich, der als eidgenössischer Vorort massgeblich die Beziehungen der Eidgenossenschaft mit anderen Staaten gewährleistete, bewahrt etliche Dokumente auf, die für die Geschichte des Corpus helveticum insgesamt von grosser Bedeutung sind.

Die Archive der Kantone bieten ein vielfältiges Bild: Die ehemaligen eidgenössischen und zugewandten Städteorte, welche in benachbarten oder entfernteren Gebieten Hoheitsrechte besassen (Bern, Basel, Zürich, Luzern, Genf, Solothurn, Schaffhausen), haben umfangreiche Reihen von Regierungs-, Verwaltungs- und Gerichtsdokumenten. Die Kontinuität der Archivführung wurde zuweilen von Umwälzungen durchbrochen, welche den Gemeinden und insbesondere dem Kantonshauptort grosse Autonomie gegenüber der Kantonsregierung brachten: Die Bestände wurden aufgeteilt, damit die neuen kommunalen Institutionen ihre Aufgaben erfüllen konnten (Basel, Bern und Zürich haben z.B. bedeutende Stadtarchive).

Die Archive der stark dezentralisierten ehemaligen Länderorte, namentlich der Landsgemeindeorte mit ihrer grossen Gemeindeautonomie und ihrer eher kleinen kantonalen Verwaltung (Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Zug, Glarus, Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden), enthalten weniger reichhaltige Bestände. Sie werden ergänzt durch Privatsammlungen, Gemeindearchive, Familienfonds ehemaliger Magistraten oder hoher Beamter, durch Archive grosser Klöster auf Kantonsgebiet oder sogar durch Archive benachbarter Städtekantone. Bei den Archiven der 1803 zu Kantonen erhobenen Untertanengebiete (Waadt, Aargau, St. Gallen, Thurgau, Tessin) sowie der Kantone Basel-Landschaft und Jura stellt sich ein anderes Problem. Das Schriftgut der alten eidgenössischen Orte wurde, soweit es ausschliesslich das Gebiet der neuen Kantone betraf, den neuen Kantonsbehörden übergeben, während die Register und Dokumente, welche sich auf den gesamten alten eidgenössischen Ort bezogen, in dessen Archiv verblieben. Die ehemaligen gemeinen Herrschaften, wie das Tessin und der Thurgau, haben infolge ihrer einstigen Rechtsstellung keine Regierungsakten aus dem Ancien Régime. Die Quellen zu ihrer Geschichte finden sich in den Archiven ihrer Gemeinde und der alten regierenden Orte sowie in den Abschieden der Rechnungs-Tagsatzungen.

Die Archivalien der ehemaligen föderalistischen Kantone (Graubünden, Wallis) sind ebenfalls verstreut. Wichtige Quellen für das Ancien Régime sind das Archivgut der Bündner Gerichtsgemeinden bzw. der Walliser Zenden sowie die Abschiede des Bündner Bundstags bzw. des Walliser Landrats.

Für die Zeit seit 1803 zeigen die Staatsarchive ein recht einheitliches Bild, das die politische und administrative Struktur sowie die Kompetenzen der Kantone widerspiegelt. Ihre Bedeutung für die allgemeine Schweizergeschichte schwindet vor allem für die Zeit nach 1848 mit der Erweiterung der Bundeskompetenzen auf Kosten der Kantone. Sie bleiben jedoch die Hauptquelle für die Kantons-, Orts- und Regionalgeschichte.

Gemeindearchive

Auch bei den Gemeindearchiven sind verschiedene Formen anzutreffen. Am ältesten sind die Pfarrarchive, die für das ausgehende Mittelalter von Bedeutung sind, da für die Gemeinde wichtige Dokumente oft dem Pfarrer anvertraut wurden. Zudem werden dort, namentlich in den katholischen Kantonen, häufig die Tauf-, Ehe- und Sterberegister bis 1875 aufbewahrt.

Die Archive der Bürgergemeinden enthalten vor allem Dokumente zur Verwaltung der Gemeindegüter (z.B. Wälder und Weiden) vom Ancien Régime – sofern diese Gemeinden noch bestehen – bis zur Gegenwart. Einige Bürgergemeinden, wie Bern, Genf und Zürich, wurden zu souveränen Republiken und Kantonen, und ihre Archive verschmolzen mit denjenigen der Kantone, die ihre Rechtsnachfolge antraten. In einigen Fällen wurden die Archivbestände der Bürgergemeinden in den Archiven der politischen oder Einwohnergemeinden untergebracht.

Diese im 19. Jahrhundert eingerichteten Archive enthalten sämtliche Dokumente zur kommunalen Verwaltung, die sich je nach dem Zentralisierungsgrad des jeweiligen Kantons mehr oder weniger stark entwickelt hat. Dort werden zumindest die Zivilstandsregister (gemäss Bundesgesetz von 1875) und die grundlegenden Verzeichnisse der Verwaltung aufbewahrt: die Rechnungsführung und die Protokolle der politischen Behörden. Die Archive der aufgehobenen Bürgergemeinden wurden häufig diesen Archiven zugeführt, sofern Letztere nicht auf Ersteren aufbauten. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich die Archive der grossen Schweizer Städte (z.B. Zürich, Lausanne, Genf) wesentlich weiterentwickelt. Sie werden meist professionell geführt und sind gut organisiert.

Kirchenarchive

Die bischöflichen Archive, deren Geschichte in der Helvetia sacra nachzulesen ist, haben während der Reformation und in der Revolutionszeit erhebliche Schäden erlitten. Einen Sonderfall stellt das Archiv des ehemaligen Fürstbistums Basel in Pruntrut dar, eine 1985 gegründete, von den Kantonen Jura, Bern und Basel-Landschaft abhängige öffentlich-rechtliche Stiftung. Als sogenanntes totes Archiv umfasst es historische Dokumente, die sich vorwiegend auf den weltlichen Bereich des Fürstbistums beziehen. Das geistliche Schriftgut der Bistümer, die in der Restaurationszeit gänzlich neu oder in neuer Gestalt errichtet worden sind, befindet sich an den heutigen Bischofssitzen.

Die Archive der grossen Benediktiner- oder Augustinerklöster wie St. Gallen, Einsiedeln, Disentis, Engelberg, Saint-Maurice und die Propstei vom Grossen St. Bernhard, die bis 1798 grund- bzw. landesherrliche Rechte besassen, sind für die Geschichte der jeweiligen Kantone unentbehrlich. Der Grossteil dieser Bestände ist von Bedeutung für die Wirtschafts-, Sozial- und politische Geschichte, während Dokumente geistlichen Inhalts seltener sind. Die ab dem 13. Jahrhundert entstandenen Archive der Klöster von Bettel- und Ritterorden sind weniger umfangreich, doch mehr für die Geistes- und Religionsgeschichte von Interesse. Die bestehenden Klöster führen ihre eigenen Archive weiter. Die Archive der Klöster, die – zum Beispiel während der Reformation, in der Revolutionszeit, um 1841 oder im Kulturkampf – säkularisiert worden sind, verschmolzen meist mit den jeweiligen Kantonsarchiven. Eine Ausnahme bildet das Archiv der 1805 aufgelösten Abtei St. Gallen, das zu einer eigenständigen Institution geworden ist, die den beiden Rechtsnachfolgern der Abtei untersteht, dem Kanton St. Gallen und dem katholischen Konfessionsteil des Kantons. Die Archive der reformierten Kirchen werden entweder von den Kirchen selbst geführt, sofern diese vom Staat getrennt sind, oder im Falle der Anerkennung als Landeskirchen in den Kantonsarchiven aufbewahrt.

Privatarchive

Für die rechtliche Stellung von Privatarchiven gibt es keinerlei Gesetzesgrundlage ausser der obligationenrechtlichen Verpflichtung zur Aufbewahrung der Bücher und Papiere von Gesellschaften. So sind die Bedingungen, unter denen Archive von Vereinen, Verbänden (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, Handelskammern), politischen Vereinigungen (Parteien und anderen Gruppierungen), Banken, Industrie- und Handelsunternehmen sowie von einzelnen Familien aufbewahrt und benützbar sind, höchst unterschiedlich. Am besten zugänglich sind die Bestände, die in öffentlichen Archiven oder in den Handschriftensammlungen grosser Bibliotheken untergebracht sind.

Prospekt des Schweizerischen Sozialarchivs in Zürich vom Ende der 1990er Jahre (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich).
Prospekt des Schweizerischen Sozialarchivs in Zürich vom Ende der 1990er Jahre (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich).

Einige Archive haben sich auf das Sammeln und Aufbewahren von Privatarchiven spezialisiert. Beispielsweise sammelt das 1910 gegründete Schweizerische Wirtschaftsarchiv in Basel die Bestände von aufgelösten Industrie- und Handelsunternehmen und von einigen Schweizer Ökonomen. Das 1906 entstandene Schweizerische Sozialarchiv in Zürich besitzt das Schriftgut mehrerer politischer Parteien und Bewegungen, insbesondere das der Sozialdemokratischen Partei, und sammelt Druckwerke sowie Handschriften zur Sozialgeschichte. Das 1966 gegründete Archiv für Zeitgeschichte, 1974 dem Historischen Institut der ETH Zürich angeschlossen, sammelt Publikationen, gedruckte und handschriftliche Materialien sowie Bestände von Privatarchiven zur Schweizer Geschichte seit 1920. Das zur Schweizerischen Nationalbibliothek (NB) in Bern gehörende Literaturarchiv sammelt die Bestände von Schriftstellern, die diese dem Bund geschenkt, vermacht oder verkauft haben. Andere Archive tragen die Schriften eines einzigen Autors zusammen, zum Beispiel das Thomas-Mann-Archiv (1956) und das Johanna-Spyri-Archiv (1967) in Zürich. Das Archiv der Gosteli-Stiftung (Gosteli-Foundation) in Worblaufen widmet sich der Geschichte der Frauenbewegung. Baugeschichtliche Archive zur Architektur finden sich an den beiden ETH in Zürich und Lausanne. Alle diese Einrichtungen tendieren heute dazu, ihre beiden Funktionen als Aufbewahrungsort von Schriftgut bzw. als historische Dokumentationsstelle nicht mehr zu trennen und somit die Grundsätze der Öffentlichkeit von Archiven, des Rechts auf Information und des Schutzes privater Daten zu vereinigen.

Aktuelle Probleme

Die Eigentumsrechte an den öffentlichen Archiven sind heute klar geregelt und stellen somit praktisch kein Problem mehr dar. Ohne Zustimmung des Souveräns dürfen diese Archive nicht veräussert werden. Die öffentliche Hand kann daher grundsätzlich die Herausgabe von Dokumenten verlangen, ohne dass deren Besitzer Ersitzung geltend machen könnten.

Seit dem 13. Jahrhundert und insbesondere seit dem 19. Jahrhundert ist das Archivgut stetig angewachsen. Gründe dafür sind die zunehmende Alphabetisierung, die Entwicklung des Rechtswesens und der Verwaltung, die technischen Fortschritte in der Herstellung von Dokumenten, die Vervielfachung der Aufgaben und Kompetenzen des Staates und auch das Bevölkerungswachstum. Um in den Büros Platz zu schaffen, müssen die Dienststellen, die Schriftgut produzieren, sich immer mehr von ihren veralteten Dokumenten trennen, indem sie diese entweder vernichten oder archivieren lassen. Die Auswahl ist häufig schwierig: Einerseits sind Sammlungen, deren Inhalt manchmal kaum bekannt ist und bei denen es an Erfahrung mangelt, nach ihrem historischen Wert zu beurteilen; andererseits sind Akten oft noch derart frisch, dass der nötige Abstand fehlt, um deren historischen Wert zu bestimmen. In grösseren Institutionen werden daher immer häufiger Zwischenarchive eingerichtet, in denen Akten so lange eingelagert werden, bis sich deren historische Bedeutung besser beurteilen lässt.

Mit der Aufnahme von immer jüngeren Dokumenten in den öffentlichen Archiven gewinnt der Persönlichkeitsschutz zunehmend an Bedeutung. Die Verwaltung der Akten von Gerichten, Sozialdiensten, Betreibungs- und Konkursämtern, Polizeistellen, öffentlichen Spitälern und ganz allgemein von Dokumenten mit sensiblen persönlichen Daten, die von Behörden gesammelt und später archiviert werden, bringt neue Probleme mit sich. Weit verbreitet ist der Standpunkt, dass solche Akten zu vernichten seien, wenn sie für die Institution, die sie hervorgebracht hat, nicht mehr von Nutzen sind. Diese Ansicht steht in Einklang mit einer Gesetzgebung und Reglementierung, die den Interessen der historischen und soziologischen Forschung nicht immer Rechnung trägt. Tatsächlich kann die Erhaltung solcher Daten und vor allem auch deren Verwendung zu historischen und soziologischen Zwecken als Beeinträchtigung der bürgerlichen Freiheiten empfunden werden. Dennoch bestehen Leitplanken und Alternativen zur Aktenvernichtung: klare Vorschriften für die Auskunfterteilung und Einsichtnahme, Schutzfristen, der wissenschaftliche Ehrenkodex der Forscher, der beispielsweise die Anonymisierung bestimmter Daten verlangt, sowie die strafrechtlichen Bestimmungen zu Ehrverletzung und Verleumdung.

In der Kenntnis der alten Dokumente aus Pergament oder Hadernpapier und in den diesbezüglichen Konservierungs- und Restaurierungstechniken wurden grosse Fortschritte erzielt. Dies gilt jedoch nicht für jüngere Dokumente: Papier aus Holzschliff, das sich wegen seines Säuregehalts selbst zerstört, und neue Datenträger wie Mikrofilme, Magnetbänder und Disketten, deren Lebensdauer mangels Erfahrung kaum bestimmbar ist und deren Langzeitkonservierung und vor allem spätere Lesbarkeit problematisch sind. Mit Ausnahme der Lesbarkeit alter elektronischer Dokumente bekommt man diese Probleme allmählich in den Griff. Zu verdanken ist dies namentlich der Zusammenarbeit mit den eidgenössischen und kantonalen Stellen, die für den Kulturgüterschutz bei bewaffneten Konflikten zuständig sind (die Schweiz ist Mitunterzeichnerin des Haager Abkommens vom 14. Mai 1954), sowie mit privaten Restauratoren und insbesondere auch den von einer interdisziplinären Gruppe (Archiven, Bibliotheken, Museen) durchgeführten eingehenden Untersuchungen und Konservierungsmassnahmen.

In der Schweiz gibt es bis heute kein von Bund und Kantonen anerkanntes Diplom für Archivare. Die Schweizer Archivare rekrutieren sich aus Personen mit einem abgeschlossenen Universitätsstudium in Geisteswissenschaften, seltener in Rechts- oder in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Einige vervollständigen ihre Berufsausbildung an einer ausländischen Schule (z.B. Ecole des Chartes in Paris, Archivschule in Marburg). Häufig wird auch ein Praktikum absolviert (internationales Fachpraktikum, organisiert von der Direktion der Archives de France), doch die meisten eignen sich ihre Kenntnisse während der Berufsausübung an. Die Ingenieurschule HTL Chur und das Département information et documentation (ehemalige Ecole supérieure d'information documentaire) der Haute école de gestion in Genf wollen eine Ausbildung für Archivmitarbeiter schaffen und suchen einen Mittelweg zwischen den spezifischen Anforderungen des Berufs und einer Annäherung an die verwandten, aber unterschiedlichen – oft sogar gegensätzlichen – Berufe des Bibliothekars und Dokumentalisten.

Quellen und Literatur

  • Inventare Schweizerischer Archive, 2 Bde., 1895-1917
  • A. Largiadèr, «Die Archive der Schweiz», in Der Archivar 6, 1953, 7-19
  • P. Staerkle, Die Rückvermerke der ältern St. Galler Urkunden, 1966
  • H.C. Peyer, «Das Archiv der Feste Baden», in Festgabe Hans von Greyerz zum sechzigsten Geburtstag, 1967, 685-698
  • H. Simmler, «Quellen zur schweizerischen Sozialgeschichte in den privaten Archiven der Schweiz», in Mitteilungen aus der Vereinigung schweizerischer Archivare 19, 1967, 24-38
  • Helvetia Sacra, I/1-6, 1972-1989
  • P. Rück, «Zur Diskussion um die Archivgeschichte: Die Anfänge des Archivwesens in der Schweiz (800-1400)», in Mitteilungen aus der Vereinigung schweizerischer Archivare 26, 1975, 5-40
  • Archive, Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Schweiz, 41976
  • Archivführung in Gemeinden und Korporationen, 1977
  • C. Graf, «Datenschutz als Herausforderung für Historiker und Archivare», in Studien und Quellen 8, 1982, 75-118
  • C. Santschi, «L'organisation des archives en Suisse», in La Gazette des Archives 121-122, 1983, 175-181
  • C. Graf, «Datenschutz – Protection des données», in Mitteilungen aus der Vereinigung schweizerischer Archivare 36, 1984, 1-22
  • «Bedeutung, Rechtsgrundlagen, Aufbewahrung, Ordnung und Erschliessung, Benutzung», in Arbido-R 2, 1987, 6-10
  • «Die Archivierung elektronisch gespeicherter Daten», in Arbido-R 3, 1988, 69-84
  • J. Zwicker, «Gedanken zur Archivgesetzgebung», in Arbido-R 4, 1989, 73-77
  • O. Sigg, Eidgenössische Überlieferung beim Vorort Zürich, 1990
  • J. Zwicker, «Zur gesellschaftlichen und historischen Bedeutung von Tonmaterial (Radio)», in Arbido-R 5, 1990, 56-63
  • G. Knoch-Mund, Privatnachlässe in schweizerischen Archiven und Bibliotheken, 21992
  • C. Santschi, La formation des Archives de la République de Genève sous l'Ancien Régime, 1994
  • Archive in der Schweiz 1-, 1997-
  • «Archivistik in der Schweiz», in Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47, 1997, 237-415 (Themenheft)
  • Verzeichnis schweizerischer Stadt- und Gemeindearchive, 31997
Weblinks

Zitiervorschlag

Catherine Santschi: "Archive", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.08.2019, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012820/2019-08-16/, konsultiert am 19.03.2024.