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Reformation

Als Reformation werden die Vorgänge des 16. Jahrhunderts bezeichnet, die das christliche Abendland in Alt- und Neugläubige – modern gesprochen: Katholiken und Protestanten – teilten. Die reformatio (wörtlich: Umgestaltung) bezweckte eine Verbesserung von Religion und Kirche; sie entfaltete im vormodernen Europa eine grosse Sprengkraft und hatte weitreichende politische, gesellschaftliche und kulturelle Folgen. Die Schweiz war während mehrerer Jahrzehnte ein Zentrum dieses Wandels: Neben Martin Luther im kursächsischen Wittenberg haben vor allem Huldrych Zwingli von Zürich und Johannes Calvin von Genf aus die Reformation und den Protestantismus geprägt. Die Reformatoren der Schweiz waren stärker als die Wittenberger vom Humanismus beeinflusst und wollten die diesseitige Welt verändern. Politische sowie soziale Anliegen verbanden sich mit religiösen Forderungen. In der Reformation der Schweiz sind die Frauen im Vergleich zu anderen Gebieten auffallend abwesend.

Religion und Kirche am Vorabend der Reformation

Es ist unter Historikern umstritten, ob die abendländische Kirche am Vorabend der Reformation in einer Krise war. Während die einen von kirchlichen und religiösen Missständen oder von einem latenten Antiklerikalismus sprechen, betonen andere die ungebrochene Spiritualität und Macht der Kirche. Jedenfalls finden sich um 1500 auch in der Schweiz zahlreiche Hinweise auf eine lebhafte Nachfrage nach Seelsorge und Heilsangeboten (Volksfrömmigkeit). Mit dem Humanismus hatten sich verschiedene Formen von literater Frömmigkeit (Devotio moderna, Mystik) entwickelt. Basel, die einzige Universitätsstadt der damaligen Schweiz (Scholastik), zog Buchdrucker (Buchdruck) und Gelehrte an (u.a. Erasmus von Rotterdam).

Reformen waren im Jahrhundert vor der Reformation auch in der Schweiz immer wieder gefordert worden. Mehrere Bischöfe hatten nach dem Konzil von Konstanz und dem Konzil von Basel Mandate zur Verbesserung der Seelsorge erlassen, Synoden einberufen und die Kompetenzen der Dekane gestärkt. Erfolgreicher als diese Massnahmen waren die Anstrengungen der städtischen und ländlichen Gemeinden, die Kirche unter ihre Kontrolle zu bringen: Ende des 15. Jahrhunderts wurden bereits zahlreiche geistliche Stellen durch weltliche Behörden besetzt, und die Autorität bischöflicher Gerichte (Offizialat) war vielerorts zurückgedrängt worden. Viele Gemeinden der Innerschweiz hatten sich Mitspracherechte bei der Pfarrerwahl und Güterverwaltung gesichert (Patronatsrecht).

Diese Konkurrenz zwischen weltlichen und geistlichen Institutionen spielte für die Entfaltung der Reformation eine wichtige Rolle. Entscheidend waren ferner namentlich die landesherrlichen Interessen Berns und Zürichs, die Differenzen zwischen Länder- und Städteorten sowie die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten von Untertanen und Unfreien auf lokaler Ebene.

Die Reformation in Zürich

Als Auftakt zur Reformation gilt die Veröffentlichung von Martin Luthers Thesen über das Ablasswesen vom 31. Oktober 1517. Die Thesen des Wittenberger Professors wurden spätestens Anfang 1518 in Nürnberg, Leipzig und Basel gedruckt. Nach der Verhängung des Kirchenbanns gegen Luther Anfang 1521 verlangten die päpstlichen Behörden die Durchsetzung des Banns bzw. das Verbot "lutherischer" Ideen. Die eidgenössischen Orte reagierten zögerlich; im Dezember 1522 verurteilte die Tagsatzung allerdings die Unruhen in Zürich, wo die erste grosse Stadtreformation ihren Anfang genommen hatte.

Ende 1518 war Huldrych Zwingli dort zum Leutpriester am Grossmünster gewählt worden. Zwischen 1520 und 1522 gelangte Zwingli zur Anerkennung zentraler evangelischer Grundsätze, der Rechtfertigung des Menschen allein aus dem Glauben (sola fide) und der alleinigen Autorität der Heiligen Schrift in Glaubensdingen (sola scriptura). Der demonstrative Bruch des Fastengebots durch ein Wurstessen führte 1522 zum Eklat. In den Wochen danach griff Zwingli in Predigten und Druckschriften eine Reihe von kirchlichen Einrichtungen an, so den Priesterzölibat (Ehelosigkeit), die Heiligenverehrung, die Bettelorden und noch im selben Jahr die Autorität der Kirche überhaupt. 1523 häuften sich ikonoklastische Aktionen (Bildersturm), Predigten wurden gestört, Mönche und Ordensfrauen verliessen schliesslich die Klöster.

Wichtig für den Erfolg der Zürcher Reformation war der Umstand, dass sich der Rat hinter Zwingli und gegen den Bischof von Konstanz stellte. Er berief Disputationen ein, nach denen er jeweils über das weitere Vorgehen entschied. In der Zusammenarbeit zwischen ihm und den drei Zürcher Leutpriestern gewannen die neuen Ideen Gestalt. Im Juni 1524 liess der Rat die Bilder aus den Zürcher Kirchen entfernen, im Dezember die religiösen Einrichtungen säkularisieren (Säkularisation). Im April 1525 wurde in Zürich die Messe abgeschafft und erstmals das Abendmahl nach Zwinglis neuer Ordnung begangen. Musik gab es im reformierten Gottesdienst nicht mehr. Im selben Jahr richtete Zwingli regelmässige Bibelauslegungen ein, die sogenannte Prophezey: Aus diesen Übungen ging die Zürcher Bibelübersetzung hervor (Bibel). Aus der Prophezey entwickelte sich zudem die erste reformierte theologische Hochschule (Akademien). Als Ersatz für das bischöflich-geistliche Gericht setzte der Rat 1525 ein städtisch-kirchliches Ehegericht ein (Sittengerichte).

Besonders die Mitglieder der Handwerkerzünfte unterstützten diese Veränderungen. Zwingli konnte auch auf einflussreiche Familien zählen. Als vehementer Gegner des Solddienstes fürchtete er den Widerstand der sogenannten Pensionenherren. Einige von Zwinglis frühen Mitstreitern (u.a. Konrad Grebel, Felix Manz und Simon Stumpf) drangen zudem auf radikalere Veränderungen. In ländlichen Gebieten vermischten sich reformatorische, politische und soziale Anliegen (Bauernkrieg 1525).

Die Anfänge der Reformation in anderen eidgenössischen Orten

Die Ideen der Reformation verbreiteten sich in der Schweiz zunächst über Zwinglis Freundeskreis. Zu diesem gehörte zum Beispiel Vadian (Joachim von Watt) in St. Gallen, Johannes Dörig, Walter Klarer und Johannes Hess im Land Appenzell, Valentin Tschudi und Fridolin Brunner in Glarus, Johannes Comander und Jakob Salzmann in Graubünden, der 1522 aus Luzern vertriebene Sebastian Hofmeister in Schaffhausen, Berchtold Haller und Niklaus Manuel in Bern sowie Konrad Pellikan, Wilhelm Reublin und Johannes Oekolampad in Basel. Viele der Reformer und Reformatoren waren Priester, hatten in Basel studiert und fühlten sich den Ideen des Erasmus verpflichtet, der sich selbst aber nicht der reformatorischen Bewegung anschloss.

Kanzellettner im Grossmünster in Zürich: Der wegen Gotteslästerung verurteilte Jakob Roth muss im Kanzelkorb Abbitte schwören, 1586 (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Wickiana, Ms. F 34, Fol. 51v).
Kanzellettner im Grossmünster in Zürich: Der wegen Gotteslästerung verurteilte Jakob Roth muss im Kanzelkorb Abbitte schwören, 1586 (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Wickiana, Ms. F 34, Fol. 51v). […]

Entscheidend für den Erfolg der Reformation in der Schweiz war die Überzeugungskraft der jeweiligen Prediger (Predigt) sowie der Druck, den die Befürworter der neuen Ideen auf die Obrigkeit auszuüben vermochten. Bereits 1523 wurden in Bern, Basel, St. Gallen und Appenzell Predigtmandate erlassen: Die Geistlichen sollten allein der Heiligen Schrift gemäss predigen, aber keine lutherischen oder zwinglianischen Lehren verbreiten. Fortschritte machte die Reformation zunächst vor allem in der Ostschweiz. In Graubünden und in St. Gallen verbanden sich kirchliche Reformanliegen mit politischem Unabhängigkeitsstreben. In den Ilanzer Artikeln von 1524 und 1526 wurde die Macht des Bischofs von Chur und der geistlichen Gerichte gebrochen, die Gemeinden sollten ihren Pfarrer frei wählen können. In St. Gallen organisierten Johannes Kessler und Vadian biblische Lesezirkel (Lesinen). Nachdem Vadian Ende 1525 zum Bürgermeister gewählt worden war, wurden 1526 in den Stadtkirchen evangelische Gottesdienste gefeiert; 1527 floh der Abt und 1528 wurden auch in der Abteikirche keine Messen mehr gelesen.

Zürich und St. Gallen förderten die Verbreitung reformatorischer Ideen in Appenzell und Glarus sowie in der gemeinen Herrschaft Thurgau, wo es 1524 zum Ittingersturm kam. Die Appenzeller Landsgemeinde entschied 1525, jede Kirchhöre solle selbst über ihren Glauben entscheiden. Die äusseren Rhoden (ohne Herisau) schlossen sich dem neuen Glauben an, die Bewohner der inneren Rhoden (ohne Gais) verblieben mehrheitlich beim alten Glauben.

Rückschläge und Fortschritte der Reformation bis 1531

In der Stadt Freiburg unterdrückte der Rat die Reformation energisch. 1524 bekräftigten die fünf Innerschweizer Orte in Beckenried, beim alten Glauben zu bleiben, und verurteilten Zwinglis und Luthers Lehren zusammen mit denjenigen von Jan Hus (Hussiten). Als Erklärung für das Festhalten am alten Glauben haben ältere Historiker unter anderem die Bedeutung des Solddiensts hervorgehoben. Neuere Studien haben für die Innerschweiz eine bereits hohe Selbstständigkeit in kirchlichen Belangen geltend gemacht.

Abbildung der Vorder- und Rückseite eines "Kelchbatzens" aus der Schweizerchronik bis zum Jahr 1534 von Heinrich Brennwald und Johannes Stumpf, 1535 (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Ms. A 2, S. 379).
Abbildung der Vorder- und Rückseite eines "Kelchbatzens" aus der Schweizerchronik bis zum Jahr 1534 von Heinrich Brennwald und Johannes Stumpf, 1535 (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Ms. A 2, S. 379). […]

1526 luden die Innerschweizer Orte zu einer Disputation nach Baden ein. Ihr Ziel, die Zürcher zu isolieren, verfehlten sie; vielmehr distanzierten sich Bern und Basel nun von den Innerschweizern, und 1527 brachten die Ratswahlen in den beiden Städten eine Mehrheit von Befürwortern der neuen Ideen in den Rat. Der Berner Rat lud im Januar 1528 nun seinerseits zu einer Disputation nach Bern ein. Wenige Tage später beschloss er die Einführung der Reformation, ein entscheidender Schritt für den Erfolg der Reformation in der Schweiz, zumal nun weitere Gebiete und Orte dem Beispiel des mächtigen Stadtstaats folgten, wie noch gleichenjahrs die Stadt Biel. 1529 traten auch die Städte Basel und Schaffhausen endgültig zur Reformation über, in Glarus beschloss im Mai 1529 die Landsgemeinde, jede Gemeinde solle selbst über die Form ihres Gottesdienstes bestimmen. Unter dem Einfluss der Reformation in den Städten Bern, Biel und Basel schloss sich der Süden des Fürstbistums Basel der Reformation an.

Sowohl die neu- wie auch die altgläubigen Orte schlossen in dieser Situation Bündnisse, welche den Zusammenhalt der Eidgenossenschaft strapazierten (Christliche Vereinigung, Christliches Burgrecht). Ein militärischer Konflikt konnte 1529 noch verhindert werden (Kappelerkriege). Der Erste Kappeler Landfrieden anerkannte die Koexistenz katholischer und reformierter Territorien und liess die reformatorische Predigt in den gemeinsam verwalteten Untertanengebieten zu (Landfriedensbünde).

Während die Einigungsversuche zwischen Zwingli und Luther scheiterten (Augsburger Bekenntnis), machte die Reformation in der Eidgenossenschaft weitere Fortschritte: Zürich förderte nach wie vor die Reformation im Thurgau, im Toggenburg, unter den St. Galler Untertanen, im aargauischen Bremgarten und in den Freien Ämtern; in der Westschweiz führte Neuenburg mit Berner Unterstützung 1530 die Reformation ein. Solche Initiativen gingen den Innerschweizern zu weit. Die Spannungen eskalierten 1531 im Zweiten Kappelerkrieg. Zürich erlitt mit seinen Verbündeten eine Niederlage, unter den rund 500 Toten war auch Zwingli. Der Zweite Kappeler Landfrieden hielt fest, dass jeder Ort bei seinem Glauben bleiben solle. In den gemeinen Herrschaften konnten die reformierten Gemeinden beim neuen Glauben bleiben oder aber zum alten zurückkehren; ein umgekehrter Wechsel war dagegen nicht vorgesehen.

Verankerungen der Reformation und Konflikte nach 1531

Der Sieg der Altgläubigen bei Kappel, der dem katholischen Lager für längere Zeit ein gewisses Übergewicht verschaffte, bedeutete in der Ostschweiz das Ende der raschen Erfolge für den neuen Glauben. Der Abt von St. Gallen zwang einen Teil seiner Untertanen zurück zum katholischen Bekenntnis, die gemeinen Herrschaften Sargans und Rheintal wurden rekatholisiert. In Appenzell und Glarus wurde die Ausbreitung der Reformation beendet. Solothurn blieb katholisch, der Thurgau dagegen weitgehend reformiert. Grosse Zugewinne machte die Reformation dagegen nach 1531 in der Westschweiz, wo sich 1536 die Stadt Genf zu ihr bekannte bzw. Bern sie in der 1536 eroberten Waadt durchsetzte.

Bis weit ins 16. Jahrhundert hinein versuchten reformierte Gemeinschaften, sich als Kirche zu konstituieren. So sorgte in Graubünden das Gemeindeprinzip für Verschiebungen auf der konfessionellen Landkarte. Die Gemeinden des Engadins entschieden sich zum Beispiel erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts für den neuen Glauben. In Locarno entstand um 1540 eine reformierte Gemeinde; 1555 wurden die Locarneser Reformierten gezwungen, ihren Glauben aufzugeben oder ihre Heimat zu verlassen. In den Walliser Gemeinden Leuk und Sitten bildeten sich im letzten Viertel des 16. Jahrhundert reformierte Gemeinden, die sich im 17. Jahrhundert wieder auflösten.

In Zürich warf die Stadt- und vor allem die Landbevölkerung den Geistlichen nach dem Desaster von Kappel vor, Zürich in den Krieg gepredigt zu haben. Der Rat ernannte deshalb Heinrich Bullinger zum Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche, der als Mann des Friedens präsentiert werden konnte. Bullinger verankerte, was Zwingli in Zürich begonnen hatte. Die übrigen reformierten Kirchen der Eidgenossenschaft modellierten Institutionen nach Zürcher Vorbild, die sich unterschiedlich entwickelten (Evangelisch-reformierte Kirchen). Erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts schwenkte zum Beispiel Bern auf die Zürcher Linie ein. In Basel war die konfessionelle Identität noch länger umstritten, lutherische Tendenzen blieben ausgeprägt. Zudem bot die Universitätsstadt auch einzelnen Vertretern nicht anerkannter Strömungen Zuflucht.

Die Reformation in Genf

Der französische Jurist und Humanist Johannes Calvin, ein Reformator der zweiten Generation, gab der Reformation neue Energie. Aus Frankreich geflüchtet, gelangte Calvin über Basel im Juni 1536 nach Genf, wo ihn Guillaume Farel zum Bleiben überredete. Genf hatte kurz zuvor eine prekäre politische Unabhängigkeit von Savoyen erkämpft, den Bischof aus der Stadt vertrieben und schliesslich, unterstützt von Bern, die Messe abgeschafft. Farel und Calvin fühlten sich jedoch vom Rat nicht unterstützt, im Frühjahr 1538 mussten die beiden Genf verlassen.

Im September 1541 kehrte Calvin auf Bitte des Rats nach Genf zurück. Noch im November genehmigte der Rat die hauptsächlich von Calvin ausgearbeiteten "Ordonnances ecclésiastiques", die Genfer Kirchenordnung. In den folgenden Jahren festigte Calvin diese auch institutionell. Durch Predigt, Katechese und sittengerichtliche Kontrolle versuchte er zusammen mit der Compagnie des pasteurs, die Stadtbewohner zur christlichen Lebensführung zu erziehen. Bis 1555 kam es immer wieder zu Protesten gegen die allesamt aus Frankreich stammenden Pfarrer und gegen das Konsistorium. Prozesse um Calvins Theologie erregten europaweit Aufsehen. Erst nach einem politischen Umsturz legte sich der Widerstand gegen die französischen Pastoren. 1559 wurde eine Akademie gegründet, die Ausbildungsstätte zahlreicher Pfarrer und Lehrer des calvinistischen Europas wurde (Calvinismus). In den 1550er Jahren produzierten in Genf rund 30 Druckereien antikatholische Propaganda und reformierte Schriften, besonders für den französischen Markt. Auch der französische Psalter, eines der eindrucksvollsten Publikationsunternehmen des 16. Jahrhunderts, hatte dort enormen Erfolg (Kirchenlied).

Nach anfänglicher Zurückhaltung unterstützte Calvin auch die Gründung von Kirchen im Untergrund. In ganz Europa entstanden sogenannte calvinistische Gemeinschaften, die allerdings nicht nur von Calvin, sondern auch von anderen Theologen wie Zwingli, Bullinger und Martin Bucer geprägt waren. Da sie sich stark voneinander unterschieden, kann kaum von einer "calvinistischen Mentalität" gesprochen werden.

Die "radikale Reformation"

Neben den etablierten Reformatoren forderten schon ab den frühen 1520er Jahren auch als "radikal" bezeichnete Stimmen eine Reformation, die nie die Unterstützung der Obrigkeiten erlangten, zum Beispiel die Spiritualisten (Spiritualismus), die Antitrinitarier und die Gruppen der bekanntesten "radikalen" Strömung, die Täufer. Die Forschung spricht aber auch in Zusammenhang mit Individuen wie Bernardino Ochino oder Lelio Sozzini von "radikaler Reformation".

Von Zürich aus fand die Idee der Bekenntnistaufe in der Mitte der 1520er Jahre vor allem in Schaffhausen, St. Gallen, Appenzell und Basel Anhänger, dann auch in Solothurn und vor allem in Bern, das die Gruppen im Emmental nicht zu kontrollieren vermochte. Für die Reformation stellt die Debatte um die Taufe insofern einen Wendepunkt dar, als dass sich nun erwies, dass die sich etablierende reformierte Theologie zur Aufgabe bestimmter Traditionen nicht bereit war. Die Täufer wurden mit theologischen und politischen Argumenten bekämpft und von Kirche und Obrigkeit bis ins 18. Jahrhundert verfolgt. Für Zwinglis Nachfolger Bullinger waren nicht mehr die "Papisten", sondern die Täufer die schlimmsten Gegner der "wahren Kirche". Ähnlich wie Luther, Zwingli oder Bullinger bekämpfte auch Calvin das Täufertum in seinen Schriften.

Auswirkungen

Die Reformation wird oft mit Erscheinungen in Verbindung gebracht, die als Errungenschaften der Moderne gelten, so mit Religions- und Meinungsfreiheit, Pluralismus und Demokratie, Liberalismus und Individualismus. Fassbarer als diese umstrittenen "Fernwirkungen" sind die unmittelbaren Folgen des religiösen Wandels, der in der Schweiz vor allem den reformierten Orten ein neues Gesicht verlieh: Die Obrigkeit übernahm die Aufsicht über die Kirche (Kirche und Staat), die Säkularisation der kirchlichen Einrichtungen veränderte Lebensräume und Lebensrhythmen (Kirchenjahr), Klöster wurden in Einrichtungen für die Armen- und Krankenversorgung umgewandelt, die Geistlichen integrierten sich ins Bürgertum und bildeten mit ihrer Familie eine neue soziale Gruppe. Da Laien, Geistliche und Beamte im neuen Glauben eingeübt werden sollten, entstanden neue Schulen. Die Bevölkerungsstruktur wandelte sich infolge der vielen protestantischen Glaubensflüchtlinge vor allem in Genf, in minderem Masse auch in Zürich und Basel. Unklar ist, wie stark die Reformation die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sowie Eltern und Kindern verändert hat. Ältere Historiker sahen in der Aufhebung des Priesterzölibats und der Aufwertung der Ehe Vorzeichen der Moderne; neuere Forschungen betonen eher die Kontinuitäten und unterstreichen eine Stärkung der Rolle der Hausväter. So wurden zum Beispiel nach protestantischem Verständnis Ehescheidungen zwar möglich, vollzogen wurden sie aber selten.

Die zahlreichen Bibelübersetzungen in die Volkssprachen gelten als das grosse Verdienst der Reformation. Überhaupt stellte die reformatorische Theologie das Wort ins Zentrum. Der Protestantismus wurde deshalb oft als entritualisierte, rationale oder verinnerlichte Religion beschrieben; Volksbräuche und magische Vorstellungen wurden dem Katholizismus zugeordnet. Neuere kulturgeschichtliche Untersuchungen präsentieren jedoch für das 16. und 17. Jahrhundert ein anderes Bild: Rituale wurden in den neuen Kirchen nicht einfach abgeschafft, sondern umgedeutet oder neu erfunden. Auch die Angst vor Magie und Hexerei liess im 16. Jahrhundert nicht nach, was zum Beispiel die in der reformierten Waadt besonders zahlreichen Hexenprozesse belegen.

Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts, mancherorts auch länger, blieben die konfessionellen Grenzen fliessend. In Glarus, Teilen Graubündens und im Thurgau teilten sich Katholiken und Evangelische an vielen Orten eine Kirche (Konfessionelle Parität). Formen der altgläubigen Frömmigkeit blieben bestehen, nicht nur auf dem Land. Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden die Unterschiede zwischen den Konfessionen deutlicher formuliert, Spannungen (nicht nur religiöser Art) begannen sich in konfessionellen Konflikten zu entladen. Während in Glarus beispielsweise die katholische Minderheit eigene behördliche Strukturen aufrichtete (Glarnerhandel 1559-1560), führten die Auseinandersetzungen in Appenzell 1597 zur Landesteilung.

Diese Entwicklungen betonten auf beiden Seiten das konfessionelle Moment (Konfessionalismus). In der Schweiz machten sich Katholische Reform und Gegenreformation bemerkbar; Jesuiten und Kapuziner liessen sich zunächst in der Innerschweiz, dann auch in anderen Orten nieder (Volksmissionen, Konversionen). 1586 schlossen sich die katholischen Orte der Schweiz zu einer konfessionell geprägten Allianz zusammen, dem Goldenen Bund, und kurz darauf verbündeten sie sich mit Spanien.

Auch der Schweizer Protestantismus festigte sich, insbesondere durch das Zusammengehen der Kirchen Genfer und Zürcher Prägung. Ein wichtiger Schritt war diesbezüglich das im Consensus tigurinus (1549) formulierte gemeinsame Abendmahlsverständnis. Bullingers Helvetisches Bekenntnis von 1566 gilt als Markstein der reformierten Konfessionsbildung.

Die Reichweite von Heinrich Bullingers Korrespondentennetz 1524-1575
Die Reichweite von Heinrich Bullingers Korrespondentennetz 1524-1575 […]
Die Verteilung des Briefwechsels Johannes Calvins in ausgewählten Jahren zwischen 1542 und 1563
Die Verteilung des Briefwechsels Johannes Calvins in ausgewählten Jahren zwischen 1542 und 1563 […]

Hervorzuheben ist schliesslich die Ausstrahlung der Schweizer Reformatoren. Die Schriften Zwinglis, Calvins, Bullingers und Theodor Bezas waren in ganz Europa verbreitet; Calvin und Bullinger unterhielten ein weitgespanntes Korrespondentennetz. Genf und Zürich, aber auch Basel waren im 16. Jahrhundert wichtige Bildungszentren für den internationalen Protestantismus. Während der internationale Charakter des Calvinismus schon lange unumstritten ist, haben unlängst verschiedene Studien auch die Bedeutung des von Bullinger vertretenen Zwinglianismus betont.

Die Reformation zählt zu den prägendsten und wirkungsmächtigsten Ereignissen der Schweizer Geschichte. Für die Eidgenossenschaft bedeutete sie eine Zerreissprobe: Sie spaltete die Orte und führte – wie in vielen Teilen West- und Mitteleuropas – zu Unruhen und Kriegen (z.B. Erster Villmergerkrieg, Zweiter Villmergerkrieg). Konfessionell aufgeladene Konflikte bestimmten bis ins 19. Jahrhundert auch soziale und politische Auseinandersetzungen (Sonderbund, Kulturkampf). Für die Geschichte und das Selbstverständnis der Schweiz war der Umstand entscheidend, dass die politische Kooperation über die religiösen Grenzen hinweg auf Dauer möglich blieb (Religiöse Toleranz).

Historiografie

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts dominierten theologische und politische Fragen die Geschichtsschreibung zur Reformation der Schweiz. Die meisten der Briefe und Schriften Zwinglis, Calvins und Oekolampads liegen dank der Initiativen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ediert vor – ein Umstand, der die Ausrichtung der Forschung stark geprägt hat. Ausserdem wurden reformationsgeschichtliche Aktensammlungen in einzelnen Kantonen herausgegeben. Editionsprojekte, die Zwinglis und Calvins Nachfolgern Bullinger und Beza gewidmet sind, nahmen die beiden Reformationsinstitute der Schweiz in Zürich und in Genf erst in jüngerer Zeit in Angriff. Für das Studium der Genfer Reformation sind die "Registres de la Compagnie des pasteurs de Genève" sowie die "Registres du Consistoire de Genève au temps de Calvin" (seit 1994) von grosser Bedeutung. In Genf ist auch das 2005 neu eröffnete Internationale Museum der Reformation angesiedelt.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg trat die Frage in den Vordergrund, warum die Reformatoren so breiten Anklang fanden. Die sozialgeschichtliche Forschung hat die Reformation zunächst als städtisches, dann auch als ländliches Ereignis erklärt: Bürger und Bauern gehörten in Mitteleuropa zu den aktivsten Unterstützern religiöser Reformen. Auch in der Schweiz reagierte die politische Elite oft erst unter dem Druck der Landbevölkerung oder der Zünfte. Zudem wurden Fragen nach der Überzeugungskraft der evangelischen Botschaft (z.B. Rezeption, Medien) wie auch nach der Organisation einer neuen Kirche (z.B. Sittengerichte, Schulen) untersucht.

In jüngerer Zeit haben kulturgeschichtliche Ansätze die Annahme einer Entzauberung und Rationalisierung des Gottes- und Weltverständnisses durch die Reformation in Frage gestellt. Eine Reihe grundlegender Studien aus den letzten Jahren war den Täufern gewidmet. Schliesslich beschäftigen sich die Theologen und Historiker seit dem 16. Jahrhundert mit der Frage, wie das Bündnissystem der Eidgenossenschaft die Reformation zu überdauern vermochte.

Quellen und Literatur

  • Actenslg. zur Gesch. der Zürcher Reformation in den Jahren 1519-1530, hg. von E. Egli, 1879, (Neudr. 1973)
  • Aktenslg. zur Gesch. der Berner-Reformation 1521-1532, hg. von R. Steck, G. Tobler, 2 Bde., 1918-23
  • Aktenslg. zur Gesch. der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, hg. von E. Dürr, P. Roth, 6 Bde., 1921-50
  • F. Meyer, Die evang. Gem. in Locarno, ihre Auswanderung nach Zürich und ihre weitern Schicksale, 2 Bde., 1836
  • W. Jacob, Polit. Führungsschicht und Reformation, 1970
  • K. Maeder, Die Via Media in der schweiz. Reformation, 1970
  • G.W. Locher, Zwingli und die schweiz. Reformation, 1982
  • P. Blickle, Gemeindereformation, 1985
  • Ökumen. Kirchengesch. der Schweiz, hg. von L. Vischer et al., 1994 (21998)
  • P. Blickle, «Warum blieb die Innerschweiz katholisch?», in MHVS 86, 1994, 29-38
  • L. Palmer Wandel, Voracious Idols and Violent Hands, 1995
  • Storia religiosa della Svizzera, hg. von F. Citterio, L. Vaccaro, 1996
  • B. Gordon, The Swiss Reformation, 2002
  • O. Fatio, Die Reformation verstehen, 2005
  • M. Engamarre, «Des pasteurs sans pasteur: historiographie de la Réforme en Suisse romande (1956-2008)», in Archiv für Reformationsgesch. 100, 2009, 88-115
  • A. Holenstein, «Reformation und Konfessionalisierung in der Geschichtsforschung der Deutschschweiz», in Archiv für Reformationsgesch. 100, 2009, 65-87
  • T. Kaufmann, Gesch. der Reformation, 2009
Weblinks

Zitiervorschlag

Caroline Schnyder: "Reformation", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013328/2013-01-29/, konsultiert am 19.03.2024.