Autorin/Autor:
Anne-Marie Dubler
Der Fall oder Todfall war eine von den Erben eines verstorbenen Lehenbauern dem Grundherrn zu entrichtende Abgabe in Form eines fixierten Anteils am Nachlass (Feudallasten, Grundherrschaft). Das Wort Fall ist vom mittelhochdeutschen val (Sturz, Untergang, Tod) abgeleitet. Je nach Region wird der Fall anders bezeichnet (z.B. Leibfall, Sterbfall); die lateinische Rechtssprache verwendet den Ausdruck mortuarium. Die französische und die italienische Schweiz kannte den Fall als mainmorte (droit de mainmorte) bzw. manomorta (diritto di manomorta), nicht zu verwechseln mit den biens de mainmorte bzw. den beni di manomorta (Tote Hand). In der Regel betraf der Fall die kostbarsten Stücke der Fahrhabe.
Verschiedene Komposita mit «Fall» haben nichts mit dem Todfall zu tun: Die in der rechtshistorischen Literatur gebräuchlichen Begriffe Lehen-, Mann- und Herrenfall sowie der Quellenbegriff Heimfall beziehen sich auf das Lehns- und Leiherecht. Rechtssprachliche Schöpfungen sind die sogenannten Fallrechte, zum Beispiel das Case Law (Richterrecht, im Gegensatz zum Gesetzesrecht), und das ius caducionis (Recht beim Fehlen von Nachkommen im Erbrecht).
Autorin/Autor:
Anne-Marie Dubler
Der Fall erscheint vom 13. Jahrhundert an unter den Lasten der zur Familia einer Grundherrschaft gehörenden Eigenleute (Leibeigenschaft). Er war das Relikt eines ursprünglich vollen Erbrechts des Herrn am Nachlass von Eigenleuten. Dieses volle Erbrecht war in der Westschweiz als mainmorte und östlich der Reuss-Napflinie als Lass bis ins 15. Jahrhundert gebräuchlich, vereinzelt noch bis ins 18. Jahrhundert. Der Fall betraf nur, was Eigenleuten tatsächlich gehörte, nämlich die Fahrhabe. Vom Erbe am Leihegut waren Leiberben dagegen gänzlich ausgeschlossen.
Unter dem Druck von Pest und Landflucht der Bauern wurde das grundherrliche Erbrecht an Eigenleuten auf den Fall reduziert, und zwar als vertraglich fixierter Anteil am Nachlass. Den Leiberben, die auch dank Erbleihe im ausgehenden Mittelalter besser gestellt wurden (Leihe), blieb so ein Anteil an der Fahrhabe. Der Fall blieb aber eine Personallast und ein Attribut persönlicher Abhängigkeit. Was er im Einzelnen beinhaltete, unterschied sich nach Herrschaften und Regionen, betraf aber übereinstimmend stets die wertvollste Fahrhabe. Im bäuerlichen Haushalt zählten dazu das Grossvieh, die persönliche Wehr (Harnisch, Waffen), das Sonntags- oder Festtagsgewand, das Bett und das Haushaltsgerät. Von Lehenbauern wurde das beste Stück Grossvieh (Besthaupt) verlangt. War kein Vieh vorhanden, wurde das beste Kleid (Bestgewand, Gürtelgewand) beansprucht, das generell von verstorbenen Frauen bezogen wurde, oder aber die Wehr des Mannes – Harnisch und (oder) Waffe –, die bei fehlenden männlichen Leiberben immer an den Herrn fiel.
Von den erwähnten, in der ganzen Schweiz verbreiteten Arten des Falls unterscheiden sich diejenigen in der Nordostschweiz. Dort galten vielfältigere und wie rechts des Rheins in Süd- und Mitteldeutschland zumeist höhere und oft kumulierte Fallabgaben: Mit dem Besthaupt wurde oft auch das Bestkleid und über den Fall hinaus auch der Lass verlangt. Während der herrschaftliche Anspruch beim Fall nur Einzelstücke betraf, erstreckte er sich beim Lass auf die ganze Fahrhabe oder einen festen Teil derselben (ein oder zwei Drittel, die Hälfte usw.). Mit Fäll und Gläss war der gesamte Nachlass gemeint.
Im Raum zwischen Zürich- und Bodensee wurde auch das Bestbett gefordert, aber nicht der Harnischfall, wenn die Wehr zum liegenden Gut zählte (z.B. Amt Grüningen). Im Appenzellerland forderte man bei Söhnen das Besthaupt, bei Töchtern zusätzlich das Bestkleid. Frauen gaben bei ausgesteuerten Töchtern oder Söhnen den Gewandfall, bei Minderjährigen nichts oder nur das Werktagskleid. Bei Geschwistern in gemeinsamer Haushaltung war das Älteste fallpflichtig. Die gesamte Fahrhabe beanspruchte der Herr bei Kinderlosen und Ledigen, grosse Anteile (die Hälfte bis zwei Drittel) bei Kinderlosen mit überlebender Witwe und bei Männern in Ungenossenehe. Eigenleute auf befristeten Hand- oder Schupflehen leisteten weniger, zum Beispie das Zweitbesthaupt. In der Ostschweiz bezog man den Fall auch von Halbvieh (Vieh in Gemeinbesitz).
Den Fall zahlten durchwegs die Erben der Verstorbenen, bei Unterleihe die Träger, nicht die Pächter. Als Zahltermine galten unter anderem der Tag der Bestattung, für Auswärtige acht Tage danach, spätestens beim Übergang des Hofs an die Erben. Fallabgaben wurden meist nicht gebracht, sondern geholt: Bei Bezug in Natura las der Herrschaftsvertreter das Besthaupt aus; führte man es ihm vor, hatte er bei Betrug das Recht auf das angebotene schlechtere Tier und das unterschlagene beste. Meist aber zog die Herrschaft den Fall nach Schätzwert in Geld ein. Wegzügern wurde «nachgejagt» und der Fall am neuen Ort geholt.
Verbreitete Begriffe und Formen im Bereich des Todfalls
Begriff | Bedeutung | Synonyme |
---|
Fall | Allgemeiner Begriff ohne Nennung des ortsüblichen Stücks | Todfall, Leibfall |
| | Leibeigenenfall (Ostschweiz) |
| | Sterbfall (rechtsrheinisch) |
Lass (der) | Ganzes oder teilweises Erbrecht des Herrn an der Fahrnis (Ostschweiz) | Geläss (das), Leiblass, (Erb und) Erbschaft |
Fäll und Gläss | Erbrecht am gesamten Nachlass | |
mainmorte, manomorta | Erbrecht am gesamten Nachlass in der französischen bzw. italienischen Schweiz | |
mortuarium | Lateinischer Begriff für Fall | |
Besthaupt | Bestes Stück Grossvieh (Rind, Pferd) | Hauptfall |
Zweitbesthaupt | Zweitbestes Stück Vieh (bei befristeter Leihe) | |
Hauptfall | Wertvollstes Stück bei mehreren Fällen, auch | Besthaupt |
Bestgewand | Bestes Kleid bei Frauen, bei Lehenbauern ohne Vieh | Bestkleid, Gürtelgewand, Festgewand, Gewandfall |
| | Hässfall (Ostschweiz) |
| | Gerade (rechtsrheinisch) |
Harnischfall | Harnisch, zum Teil mit Waffe und Bestkleid, beim Fehlen von männlichen Leiberben oder von Vieh | Heergewäte, Heergeräte (rechtsrheinisch) |
Bestbett | Bestes Bett, mit oder ohne Bettzeug, bei Witwen oder Frauen allgemein | Bettfall |
Verbreitete Begriffe und Formen im Bereich des Todfalls - Autorin
Entwicklung
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Anne-Marie Dubler
Als die Leibeigenschaft auch für Landbewohner in Geld ablösbar wurde, änderte sich der Charakter des Falls. Die Loskäufe, die im Voralpen- und Alpenraum Ende des 13. Jahrhunderts einsetzten, wirkten sich unterschiedlich aus. In der Grafschaft Greyerz zum Beispiel blieb die mainmorte als Erbrecht des Herrn weiter bestehen und machte Zweitloskäufe nötig, so in Saanen 1312 und 1397. Bei Loskäufen, zunehmend aber auch unabhängig von diesen, wurden Personallasten als Reallasten auf das bäuerliche Lehengut umgelegt. Der Fall wurde somit zu einer am Hof haftenden Geld- oder Naturalsteuer, die nun unterschiedslos alle traf, die irgendwelches Lehengut innehatten – Bauern, Tauner, Heimarbeiter und Handwerker, Freie und Unfreie. Diese vor allem im schweizerischen Mittelland fast durchgehende Fallpflicht wird durch Hofrechte, Offnungen, Urbare, Leihe- und Fallrödel belegt.
Damit verlor der Fall seine ursprüngliche Bedeutung und wurde zu einer Art Erbschaftssteuer, westlich der Reuss-Napflinie schon im 15. Jahrhundert, östlich davon im Territorium Zürichs im 16. Jahrhundert. Wie gegen andere Steuern erhob sich gegen den Fall Widerstand. In ländlichen Unruhen wurde die Abschaffung des Falls immer wieder gefordert, zum Teil wurde er in deren Folge auch abgelöst. Nicht selten kam es zu Unterschlagungen; daher wurde der Fall als gefährdetes Herrschaftseinkommen im Konkursrecht privilegiert behandelt.
In der St. Galler Klosterherrschaft verhärtete sich der herrschaftliche Anspruch auf den Fall: 1451 verzichtete der Fürstabt zwar auf Gewandfall und Lass, doch blieb der Fall als Besthaupt eine persönliche Last. Ab Ende des 15. Jahrhunderts dehnte die Fürstabtei den sogenannten Leibeigenenfall zielstrebig auf alle Herrschaftsleute aus. Damit kam es in der Ostschweiz zur doppelten Last des Leibeigenenfalls (Gerichtsherren) und des Schirmfalls (eidgenössischer Landesherren, Fürstabt). Da es für das Besthaupt keinen Ersatz gab, traf der Fall die Viehbesitzer und liess nichtbäuerliche Untertanen unbesteuert. Neu wurde der Fall auch von Lebenden, Pfründnern und Wegzügern bezogen.
Nach 1760 drängte die Bevölkerung da, wo man den Fall noch bezog, auf dessen Abschaffung. Während Zürich 1768 die Gemeinden über eine allfällige Aufhebung des Falls befragte, letztlich aber nichts änderte, kam es im bernischen Oberaargau 1792, in der Klosterherrschaft St. Gallen 1795 und 1796 zum Loskauf. Die Helvetik beseitigte den Fall endgültig (Abschaffung der Feudalrechte, Gesetz vom 4. Mai 1798). Ab 1803 wurde in den Kantonen die moderne Erbschaftssteuer eingeführt (Steuern).