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Kornpolitik

Allgemein werden unter Kornpolitik Massnahmen zur Versorgung der Bevölkerung mit Getreide (Wirtschaftliche Landesversorgung) verstanden. Ziel der Kornpolitik ist die Abwendung oder Milderung von Hungersnöten. In der Schweiz standen ab dem 15. Jahrhundert die Bestrebungen der einzelnen Orte zur Regulierung des Anbaus (Getreidebau), der Lagerung, Verwertung und Verteilung von Getreide (Agrarmarkt) im Zentrum. Die Kornpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, die zumeist als Getreidepolitik bezeichnet wird, ist wesentlich mit der Agrar- und Wirtschaftspolitik des Bundes verknüpft.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert entwickelte sich die Kornpolitik von Formen städtischer und klösterlicher Versorgung zur krisensichernden territorialstaatlichen Lagerhaltung. Anfänglich genügten Zehnt- und Zinseinnahmen (Zehnt) zur Deckung des klösterlichen Getreidebedarfs sowie ordentliche Markteinrichtungen (Märkte) zu jener der städtischen Bevölkerung. Im 15. Jahrhundert griffen die städtischen Räte im Rahmen eines umfassenden Kommunalisierungsprozesses reglementierend in das Marktgeschehen ein (Marktregulierung). Sie richteten eigene Lager ein, aus denen das als Marktsteuer eingenommene Getreide in Form von Naturallöhnen ausbezahlt und Überschüsse verkauft wurden. Zudem zielten obrigkeitliche Markt- und Hodlerordnungen darauf ab, das im jeweiligen Hoheitsgebiet produzierte und vermarktete Getreide auf den städtischen Markt zu zwingen.

Bevölkerungszuwachs und ein grösseres Einkommensvolumen bewirkten eine erhöhte Nachfrage, spürbare Marktverknappungen, Getreidespekulation, Teuerungsschübe, eine kontinuierliche Preissteigerung und die Herausbildung einer systematischen Kornpolitik in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Als Folge eines intensiven Ausbaus territorialer staatlicher Herrschaft und Verwaltung vermehrte sich die Zahl des administrativen Personals und das Naturallohnvolumen. Die städtischen Obrigkeiten suchten ihren Getreidebedarf weniger über den Markt als über Naturaleinkünfte zu decken. Dazu kauften sie Kirchensätze, Zehnt- und Zinsrechte (Herrschaftsrechte). Der Arbeitsaufwand, der mit dem Erwerb der Rechtstitel auf regelmässige Abgaben verschiedener Getreidesorten entstand, führte zur Errichtung spezifischer Verwaltungsstellen (Kornmeister, Kornherr). Der Bezug von Zehnten, Zinsen und weiteren Naturalabgaben (Feudallasten) war zu überwachen und die Lagerhaltung sicherzustellen. Die Lager mussten gepflegt, die Auszahlung der Naturallöhne besorgt und die Vermarktung der Restbestände veranlasst werden.

Getreideanfuhr vor dem Kornhaus beim Fraumünster in Zürich. Lavierte Federzeichnung im Regimentsbuch von Gerold Escher, um 1700 (Aargauer Kantonsbibliothek, Aarau, MsMurF 33: 2, S. 426).
Getreideanfuhr vor dem Kornhaus beim Fraumünster in Zürich. Lavierte Federzeichnung im Regimentsbuch von Gerold Escher, um 1700 (Aargauer Kantonsbibliothek, Aarau, MsMurF 33: 2, S. 426). […]

Während die Reformation den reformierten Orten mit der Eingliederung der Kloster- und Kirchengüter in die staatliche Verwaltung kornpolitische Vorteile brachte, blieben die katholischen Orte weiterhin mehrheitlich vom Markt abhängig. Vom späten 16. bis ins 18. Jahrhundert zeigten sich in der Kornpolitik vermehrt auch Aspekte einer Anbau-, Handels-, Preis- und Sicherheitspolitik bzw. einer umfassenden Krisenpolitik. Mit der Chambre des blés schuf sich Genf 1628 ein solches kornpolitisches Instrument. Die staatlichen Getreidelager wurden immer umfangreicher (Kornhäuser). Privaten Kornhändlern schrieb man die Haltung von Mindestlagern vor. Die ländliche Bevölkerung wurde in die Berechnungen des sicherheitspolitischen Minimalbedarfs eingeschlossen. Auf starke Preisschübe reagierten die Obrigkeiten mit Verkäufen von verbilligtem Korn aus staatlichen Lagern. Dorfgemeinschaften forderten und Obrigkeiten tolerierten bzw. förderten Güterzusammenlegungen und Einhegungen zur Erhöhung der Produktionsmengen und der Produktivität. Berns 1652 eingerichtete Kornkammer verwaltete schliesslich 40 Getreidelager in Deutsch- und Welschbern. Je nach den Bedürfnissen der Regionen wurden im Auftrag der Kornkammer grosse Getreidemengen im Staatsgebiet, zum Beispiel vom Genfersee in den Aargau, verschoben. Im 18. Jahrhundert wurden auch die Ökonomischen Gesellschaften in der Kornpolitik aktiv (Physiokratie). Zur Erhöhung der Flächenerträge drängte man neben der Gründüngung vermehrt auf Sommer-Stallfütterung und Jauchewirtschaft (Düngung). Da benachbarte Mächte in Kriegszeiten den Export von Getreide in die Schweiz unterbanden (z.B. aus Savoyen, der Freigrafschaft, dem Elsass, dem Sund- und Klettgau bzw. über den Bodensee), entwickelte sich im 17. Jahrhundert im Rahmen der von der Tagsatzung diskutierten handelspolitischen Interventionen bei den besagten Mächten eine embryonale eidgenössische Kornpolitik.

19. und 20. Jahrhundert

Auch in der Helvetik blieb schweizerische Kornpolitik punktuell. Wohl waren die Bauernbefreiung sowie Ansätze zur Zehnt- und Zinsablösung als Errungenschaften der Helvetischen Revolution für die Kornpolitik grundlegend. Der Finanznotstand der Republik und die prekäre Versorgungslage liessen jedoch keinen abrupten Umschwung zu. Die junge Regierung liess 1798 sofort die vorhandenen Kornvorräte inventarisieren und griff mit einem Export- und Brennverbot in den Getreidehandel ein. Weitere Massnahmen delegierte sie an die Kantone und Gemeinden. Private Kornhändler wurden zur Einfuhr und Versorgung der Märkte aufgefordert, doch nach dem Ausbruch des Koalitionskriegs war diesem Aufruf nur schwer nachzukommen.

Nach 1803 drängten die an die Macht zurückgekehrten Magistraten auf die Wiederherstellung der herkömmlichen Strukturen. In einigen Kantonen kam es in den 1830er Jahren mit den liberalen Verfassungen zu neuen Gesetzen, welche die Bewirtschaftungsfreiheit verwirklichten. Als Folge davon konnte sich mancherorts die Agrarmodernisierung durchsetzen und der Flächenertrag beachtlich erhöht, im Kanton Zürich zum Beispiel verdreifacht werden. Die freie Bewirtschaftung bedeutete das Ende einer Politik der staatlichen Vorratshaltung und Umverteilung von Getreide. Getreide war nun nicht mehr Gegenstand der Verwaltung, sondern des Marktes.

In der Folge, insbesondere im Sog des Preissturzes der letzten 20 Jahre des 19. Jahrhunderts, sank das schweizerische Getreideareal bis 1910 auf nur noch 40% gegenüber der Mitte des 19. Jahrhunderts, im progressiven Zürich auf etwas über 20%, im konservativeren Bern auf etwa 80% (Agrarverschuldung). Im Zuge der Agrarkrise wurde die schweizerische Aussenhandelspolitik im Landwirtschaftsbereich zunehmend protektionistisch (Aussenwirtschaft). Weil aber der Inlandbedarf an Brotgetreide nur zu ca. 40% gedeckt werden konnte, klammerte der Zolltarif von 1902 das Getreide von Schutzzöllen aus (Zölle). Die negativen Erfahrungen einer fehlenden Kornpolitik 1914-1918 (Kriegswirtschaft) führten zu einer Reihe von Massnahmen zur Sicherstellung der Getreideversorgung, unter anderem 1929 zur Verankerung des sogenannten Getreideartikels in der Bundesverfassung (Artikel 23bis), zum Getreidegesetz von 1932 sowie zum Landwirtschaftsgesetz von 1938. In der Folge der sogenannten Anbauschlacht wurde die Inlandproduktion von Getreide 1941-1943 gesamthaft von ca. 25% seit der Jahrhundertwende auf 52% und der Anteil an Brotgetreide auf 55% der jeweiligen Inlandproduktion angehoben. Auf der Grundlage des Landwirtschaftsgesetzes von 1951 wurde mit der Getreidemarktordnung ein Instrument geschaffen, mit dem eine möglichst hohe Deckung des Bedarfs durch Inlandproduktion erreicht werden sollte. Der Deckungsgrad lag beim Futtergetreide 1970-1972 noch bei 20%, bis 1989-1990 stieg er auf über 80%; beim Brotgetreide machte er 1992 sogar 85% des Bedarfs von ca. 450'000 t aus. 1998 wurde der Getreideartikel von 1929 aufgehoben. Der Bund zog sich weitgehend aus dem Getreidehandel zurück und übergab seine Lager privaten Unternehmungen. Die Produzenten, Sammelstellen, Händler und Verarbeiter von Getreide schlossen sich 1999 zur Branchenorganisation Swiss Granum zusammen. Gegenstand der eidgenössischen Politik wurde dagegen Ende des 20. Jahrhunderts das Problem der Produktion und des Imports von genverändertem Getreide (Biotechnologie).

Quellen und Literatur

  • G.-A. Chevallaz, Aspects de l'agriculture vaudoise à la fin de l'ancien régime, 1949
  • M. Lemmenmeier, Luzerns Landwirtschaft im Umbruch, 1983
  • P. Giger, «Verwaltung und Ernährung: Obrigkeitl. Kontrolle des Zürcher Kornmarktes im 18. Jh.», in Schweiz im Wandel, hg. von S. Brändli et al., 1990, 317-329
  • A.-M. Piuz, L. Mottu-Weber, L'économie genevoise, de la Réforme à la fin de l'Ancien Régime, 1990
  • C. Köppel, Von der Äbtissin zu den gnädigen Herren, 1991
  • GKZ 3, 1994
  • M. Körner, «Kornhäuser in der städt. Versorgungspolitik», in "Währschafft, nuzlich und schön", Ausstellungskat. Bern, 1994, 25-29
  • Pfister, Bern
  • A. Ineichen, Innovative Bauern, 1996
  • M. Dubini, «Importazioni, esportazioni, prodotti strategici», in Storia della Svizzera italiana dal Cinquecento al Settecento, hg. von R. Ceschi, 2000, 195-222
  • A. Brandenberger, Ausbruch aus der "Malthusianischen Falle", 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Martin Körner: "Kornpolitik", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.03.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013780/2010-03-10/, konsultiert am 19.03.2024.