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Protoindustrialisierung

Protoindustrialisierung bezieht sich erstens auf die gewerbliche Produktion vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, vor der Industrialisierung, bzw. auf eine Epoche mit geringem technischen Fortschritt. Zweitens beinhaltet diese Produktion komplexe Organisationsformen, die den Rahmen des einzelnen handwerklichen Betriebs sprengen, nämlich das Kaufsystem, das Verlagssystem und die Manufaktur. Abgesehen von der Manufaktur finden die meisten Produktionsschritte ausserhalb der Eigenbetriebe der Unternehmer in Heimarbeit statt. Deshalb geht die Protoindustrialisierung drittens mit der Entstehung von Gewerberegionen einher, in denen ein erheblicher Teil sowohl der städtischen als auch der ländlichen Haushalte (Ländliche Gesellschaft) gewerblichen Tätigkeiten nachgeht. Viertens und letztens bezieht sich Protoindustrialisierung auf die Massenherstellung gewerblicher Güter für überregionale oder internationale Märkte.

Der Begriff der Protoindustrialisierung wurde 1972 vom Wirtschaftshistoriker Franklin Mendels geprägt. Die Protoindustrialisierungsforschung untersucht die strukturellen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen, besonders die Lebensstrategien und Verhaltensweisen der kleinen ländlichen Produzenten. Sie hat einen älteren gewerbegeschichtlichen Ansatz, der sich vor allem auf Unternehmer, Organisationsformen und die räumliche Ausbreitung der Gewerbe fokussierte, ersetzt.

Voraussetzungen in Europa

Ansicht der Stadt St. Gallen von Westen. Illustration von Wolfgang Fechter, nach einem Holzschnitt von Heinrich Vogtherr, koloriert von Caspar Hagenbuch, eingeklebt in eine Kopie der Vadian-Chronik, um 1549 (Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen, Ms. 677a).
Ansicht der Stadt St. Gallen von Westen. Illustration von Wolfgang Fechter, nach einem Holzschnitt von Heinrich Vogtherr, koloriert von Caspar Hagenbuch, eingeklebt in eine Kopie der Vadian-Chronik, um 1549 (Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen, Ms. 677a). […]

In der frühen Neuzeit bestand zwischen dem europäischen Südwesten und dem Rest des Kontinents ein Preisabstand (Preise). Güter des täglichen Bedarfs kosteten in den Städten der iberischen Halbinsel das zweifache oder mehr als anderswo in Europa. Die schweizerische Exportwirtschaft war deshalb vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert stark nach Südwesten orientiert, mit Lyon als wichtigem Handelsplatz. Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert erfolgte zudem eine allgemeine Konsum- und Fleissrevolution in Europa. Die Menschen waren bereit, für denselben Lohn mehr zu arbeiten, weil Konsum im Vergleich zu Freizeit mehr Nutzen für die soziale Distinktion und die Gewinnung von Identität stiftete (Konsumverhalten). Diese Fleissrevolution beruhte auf dem Zusammenbruch ständischer Aufwandsnormen und der vermehrten Verfügbarkeit aussereuropäischer Erzeugnisse, zu denen neben Genussmitteln wie Tabak, Zucker, Tee oder Kaffee auch Manufakturgüter, insbesondere bedruckte und bemalte Baumwolltücher aus Indien zählten. Das Schweizer Baumwollgewerbe spielte eine wichtige Rolle bei der Verdrängung indischer Erzeugnisse vom europäischen Markt im 18. Jahrhundert. Zeitgleich mit der Fleissrevolution fand auch eine zweite kommerzielle Revolution im Handel statt. Neue Techniken in der Handelskorrespondenz oder der Nutzung des Wechsels verbreiteten sich auch ausserhalb grosser Handels- und Finanzzentren und machten den Besuch von Messen überflüssig. Der Vertrieb differenzierter Konsumgüter wurde erleichtert und die Kaufleute wurden vermehrt sesshaft, sodass ihnen mehr Zeit für die Organisation der gewerblichen Produktion zur Verfügung stand.

Voraussetzungen in der Schweiz

Da sich die Protoindustrialisierung häufig als eine Kommerzialisierung bäuerlicher Technologien einstellte, spielte die autochthone Gewinnung von Rohstoffen in der Frühphase der Protoindustrialisierung eine erhebliche Rolle (Gewerbepflanzen): Flachs in den voralpinen Hügelgebieten der Nordostschweiz und des Grenzgebiets zwischen Aargau und Luzern sowie im Jura, Schafwolle (Wolle) in den Voralpen von Freiburg und in Glarus sowie Eisenerz und Holz im Jura. Mit dem Fortschreiten der Protoindustrialisierung wurden aber vermehrt importierte Rohwaren wie Seide und Baumwolle verarbeitet.

Die Protoindustrialisierung entwickelte sich einerseits im Umfeld von Städten wie Genf, St. Gallen und Zürich, die vor allem aus politischen Gründen wenig am Söldnergeschäft beteiligt waren und wo die Elite andere lukrative Betätigungsfelder suchte. Andererseits beruhte die Protoindustrialisierung in voralpinen Zonen vielfach auf einem ländlichen Unternehmertum, das die Versorgung der hier früh nicht mehr autarken Bevölkerung mit alltäglichen Konsumgütern wie Brot und Wein gewährleistete oder sich wie etwa in Glarus im Wanderhandel betätigte. Der Verschuldung der unterbäuerlichen Klientel gegenüber dieser Händlerschicht in Form des Warenkredits kam dabei eine grosse Bedeutung zu: Der Händler konnte der stets drohenden Zahlungsunfähigkeit seiner Klientel abhelfen, indem er sie mit gewerblicher Arbeit versah und seine Ansprüche über Lohnabzüge befriedigte. Dadurch wurde reines Handelskapital, vermittelt über die Verarmung weiter Bevölkerungskreise, quasi zwangsweise in protoindustrielles Kapital verwandelt. In diesem Zusammenhang ist auch die schon von Zeitgenossen als ausbeuterisch betrachtete Naturallöhnung, das sogenannten Trucksystem, zu verstehen. Da insbesondere Brot meist im Haushalt des Unternehmers durch Frauen oder verwandte Männer hergestellt wurde, konnte familiale Arbeitskraft protoindustrielles Kapital schaffen. Gleichzeitig befanden sich allerdings die Arbeitskräfte über das Parallellaufen von Kredit, Arbeit und Versorgung mit Konsumgütern in einem ausgesprochenen Abhängigkeitsverhältnis, das materiell vielfach zu ihren Ungunsten wirkte.

Gewerbliche Tätigkeiten wurden in Landgebieten lange, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass, mit landwirtschaftlicher Arbeit kombiniert. Die Protoindustrialisierung konnte sich deshalb vor allem in Zonen ausdehnen, die entweder ein arbeitsextensives Nutzungssystem aufwiesen oder die durch eine grosse soziale Ungleichheit mit einem hohen Anteil landarmer oder landloser Haushalte gekennzeichnet waren. Die erste Situation trifft besonders für das voralpine Hügelland zu, wo schwerpunktmässig im 15. und 17. Jahrhundert mit der Vertiefung der überregionalen Agrarmärkte eine Verlagerung zu einer arbeitsextensiven Viehwirtschaft erfolgte. Die Kombination von Heimarbeit und Viehwirtschaft ermöglichte vielenorts in der frühen Neuzeit noch eine Ausweitung der Siedlungsgrenze. Die zweite Situation findet sich dagegen auch in Mittellandgebieten, die durch eine intensive Landwirtschaft gekennzeichnet sind. In den Weinbaugebieten des Zürichsees etwa war die Koexistenz von arbeitsintensiver Landwirtschaft mit Seidenweberei in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung begründet: Frauen arbeiteten im Seidengewerbe – zum Teil lebten sogar Bauerntöchter als Mieterinnen in gewerblich ausgerichteten Kleinbauernhaushalten – während sich Männer aus der Unterschicht und dem Kleinbauerntum als Taglöhner oder Knechte in den Bauernbetrieben verdingten. Als dritte agrarstrukturelle Voraussetzung besonders für die starke Protoindustrialisierung der Nordschweiz ist die Nähe zu den sich auf kommerziellen Getreidebau spezialisierenden Zonen im süddeutschen Raum zu nennen (Elsass für Basel, Schwaben für Zürich und Nordostschweiz). Trotz hoher Transportkosten stellte damit der abnehmende Selbstversorgungsgrad (im späten 18. Jahrhundert in der Nordschweiz noch ca. 60%) kein Hindernis für die Protoindustrialisierung dar.

Demografie, Familie und Lebensformen

Die Auswirkungen der Protoindustrialisierung auf die sozialen Verhältnisse und das Bevölkerungswachstum gestalteten sich je nach Situation unterschiedlich. Mit der Protoindustrialisierung erhielten breite ländliche Schichten ein Lohneinkommen. Deshalb wurden Konsumbedürfnisse vermehrt über den Markt befriedigt. Nahrung stillte nicht mehr nur den Hunger, sondern diente auch zur Selbstdarstellung und zum kompensatorischen Konsum angesichts monotoner und abstumpfender Arbeit: Weissbrot, Fleisch, Kaffee und Tabak hielten Einzug in die ländliche Ernährung. Eine vor allem von jungen Erwachsenen getragene Freizeitkultur mit spezifischen Formen der Geselligkeit und des demonstrativen Konsums (Kleiderputz) entstand. Zudem konnten junge Leute dank dem Lohneinkommen unabhängig von ihrer Familie bzw. ohne landwirtschaftliche Basis einen Haushalt gründen und die vermehrten Eheschliessungen führten zu einem Bevölkerungswachstum.

Mehrgängiger Bandwebstuhl aus der Werkstatt von Niklaus Tschudin, Sissach, 1764 (Archäologie und Museum Baselland, Liestal, Leihgabe Museum der Kulturen, Basel).
Mehrgängiger Bandwebstuhl aus der Werkstatt von Niklaus Tschudin, Sissach, 1764 (Archäologie und Museum Baselland, Liestal, Leihgabe Museum der Kulturen, Basel). […]

In der Anfangszeit der Protoindustrialisierung waren die Löhne jedoch so gering, dass die gewerbliche Tätigkeit oft nur eine saisonale Beschäftigung von Frauen und Kindern bildete. Die Familienorganisation änderte sich wenig und die Bevölkerung wuchs nur dank einer allenfalls leicht unterdurchschnittlichen Sterblichkeit. War die gewerbliche Tätigkeit dagegen gut entlöhnt, erforderte sie meist einen erheblichen Kapitaleinsatz (wie in etlichen Branchen der Weberei) und wurde von beiden Geschlechtern, wenn auch mit unterschiedlichen lebenszyklischen Schwerpunkten, ausgeübt. Erlaubte die Agrarstruktur die Investition kleiner Summen in die Erweiterung eines landwirtschaftlichen Betriebs, wie in einer Reihe von voralpinen Hügelzonen, wurden Einkommensteile gespart und in die Landwirtschaft investiert; Statuskonsum bildete eine geringe Rolle. Die hohen Löhne erleichterten zwar das Zusammensparen von Kapital für die Haushaltsgründung, die Höhe des auch für die protoindustrielle Tätigkeit erforderlichen Kapitals begrenzte jedoch das Absinken des Heiratsalters. Die Bevölkerung wuchs somit sowohl über eine tiefe Sterblichkeit als auch eine mässig hohe Fruchtbarkeit. Ein vor allem durch eine hohe Heiratshäufigkeit und Fruchtbarkeit getragenes Bevölkerungswachstum, verbunden mit einer Verbreitung von Statuskonsum, findet sich primär in Situationen, in denen auch einfache Produktionsschritte wie Spinnen hohes Einkommen garantierte, wie zum Beispiel im Baumwollboom zwischen ca. 1740 und 1785.

Politische Rahmenbedingungen

Wegen des geringen technischen Fortschritts waren neben dem Wachstum von Kapital und Bevölkerung auch die Kosten des Zugangs zu den auswärtigen Märkten für die Protoindustrialisierung massgeblich. Neben den Transportkosten fielen hierunter insbesondere die Transaktionskosten (Kosten der Information über Marktpartner, Preise und Güterqualitäten; Kosten der Vertragsschliessung und Vertragsdurchsetzung), die durch politische Rahmenbedingungen gesetzt wurden. Bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts trugen die im Umfeld von Solddienstabkommen mit Nachbarstaaten geschlossenen Wirtschaftsabkommen über die Senkung der Transaktionskosten des schweizerischen Aussenhandels viel zur Konkurrenzfähigkeit des exportorientierten Gewerbes bei (Frankreich 1516 und 1521, Venedig 1615 und 1618). Zwischen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und der Mitte des 18. Jahrhunderts waren dagegen innerhalb der einzelnen Orte die zahlreichen, in Zusammenarbeit zwischen kaufmännischen Direktorien (Zürich 1662, Basel 1682, in St. Gallen Umwandlung einer älteren Institution gegen 1730) und Behörden erarbeiteten Gewerbegesetze mit dafür verantwortlich, dass die Transaktionskosten einer zwar komplexer werdenden, aber immer noch dezentralen Produktion tief gehalten werden konnten. Der Aufschwung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem der Baumwollboom, vollzog sich schliesslich schon weitgehend ausserhalb staatlich gesetzter Marktinstitutionen. Parallel dazu nahm die im 17. und frühen 18. Jahrhundert sehr häufige Honoratiorentätigkeit von Kaufleuten manchenorts ab.

Protoindustrialisierung als Voraussetzung der Industrialisierung

Hinsichtlich des Unternehmertums, der involvierten Branchen und der regionalen Verankerung (hiermit auch der Arbeitskräfte) besteht in der Schweiz zwischen Protoindustrialisierung und Industrialisierung eine Kontinuität. Sie lässt sich damit begründen, dass bereits in der Protoindustrialisierung grosse Gruppen von Menschen entstanden, die an Lohnarbeit gewöhnt und auf sie angewiesen waren, und dass handwerkliches Können, Kapital und Wissen über Absatzmärkte akkumuliert worden waren. Zudem führte die Protoindustrialisierung zu einer differenzierten Industriestruktur, innerhalb welcher auf neue Herausforderungen flexibel und zu tiefen Kosten reagiert werden konnte. Bis zum späten 19. Jahrhundert waren die zentrale Produktion in Fabriken und die dezentrale Heimarbeit in vielen Branchen des Textilgewerbes und in der Uhrenindustrie eng verzahnt. Teure Fabrikgebäude mit Maschinenparks waren auf eine hohe Auslastung ausgelegt. In Phasen der Hochkonjunktur konnten zudem flexibel Heimarbeiter beschäftigt werden, die in Schwächephasen wieder entlassen wurden.

Quellen und Literatur

  • U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, 1992
  • Proto-Industrialisierung in Europa, hg. von M. Cerman, S.C. Ogilvie, 1994
  • Proto-industrialisation, hg. von R. Leboutte, 1996
  • J. De Vries, The Industrious Revolution, 2008
Weblinks

Zitiervorschlag

Ulrich Pfister: "Protoindustrialisierung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.08.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013823/2013-08-20/, konsultiert am 28.03.2024.