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Binnenmarkt

Eine klare Unterscheidung von Binnenmarkt und Aussenwirtschaft setzt die Existenz eines durch gemeinsame Aussengrenzen definierten Territoriums voraus. In diesem Sinne gibt es den schweizerischen Binnenmarkt erst seit der Schaffung des Bundesstaats von 1848. Als sozio-ökonomische Tatsache hat es einen gesamtschweizerischen Markt allerdings schon vor 1848 gegeben; seine staatsrechtliche Etablierung ist sogar weitgehend das Produkt dieser vorgegebenen Realität. Wie weit bereits zur Zeit der Alten Eidgenossenschaft zwischen einzelnen Kantonen und Regionen ein offenes, d.h. ungehindertes Austauschverhältnis bestanden hat (Handel, Märkte), müssten zusätzliche Abklärungen zeigen. Möglicherweise ist es aber wesentlich stärker entwickelt gewesen, als wir aufgrund der verbreiteten Vorstellung von der statischen und verkammerten Schweiz gemeinhin annehmen. In der Helvetischen Republik (1798-1803) ist die Schaffung eines einheitlichen Marktes zumindest intendiert worden.

Die Erweiterung der Absatzmärkte infolge der Industrialisierung sowie die entsprechende Zunahme des Güter- und Personenverkehrs liessen schon gegen Ende der Restaurationsphase (also vor 1830) die Forderung nach einem allgemeinen Abbau von Mobilitätshindernissen lauter werden. Minimale Absprachen kamen über interkantonale Konkordate zustande. Präzise Aussagen über den bis 1848 erreichten Harmonisierungsgrad lassen sich jedoch nicht machen. Im weitherum gehörten Zuruf des Luzerners Kasimir Pfyffer von Altishofen auf das Neujahr 1831 findet sich unter anderem die Klage darüber, dass die schwache Vereinigung der Kantone «keine gemeinsame Schöpfung, keine National-Unternehmung möglich macht, dass die Industrie in den engsten Spielraum eingeschlossen, der Handel überall gehemmt» sei. Am 26. Juli 1831 fasste die Tagsatzung immerhin den Grundsatzbeschluss, dass der Verkehr mit Lebensmitteln, Landes- und Industrieerzeugnissen wie auch Kaufmannswaren im Landesinnern frei sein müsse. Die zahlreichen Binnenzölle (Zölle), der Wirrwarr im Währungswesen (Geld) und der Partikularismus im Postwesen (Post) blieben dennoch bestehen.

Die Schaffung des Bundesstaats bedeutete den ersten grossen Schritt in der Verwirklichung des Binnenmarktes. Während in den politischen Handlungsmotiven lange Zeit die hauptsächliche Erklärung für die Umgestaltung von 1848 gesehen wurde, gewann in den letzten Jahrzehnten die Einsicht an Boden, dass den wirtschaftspolitischen Interessen eine hohe Bedeutung zukam (Wirtschaftspolitik). Die Vorstellung, 1848 sei ein einheitlicher Wirtschaftsraum geschaffen worden, erhielt sogar ein derartiges Gewicht, dass man mit Verwunderung auf die Ende der 1980er Jahre laut gewordenen Rufe nach Schaffung eines Binnenmarktes reagierte, überwog doch die Meinung, dieses Postulat sei bereits 1848 verwirklicht worden.

Die Bundesverfassung (BV) von 1848 schuf die zur Herbeiführung des Binnenmarktes nötigen Bundeskompetenzen, vor allem zur Aufhebung und Abgeltung der Binnenzölle und zur Vereinheitlichung des Aussenzolls (Artikel 23-32, 35, 37), sodann zur Vereinheitlichung des Post- (Artikel 33-34) und des Münzwesens (Artikel 36) sowie der Masse und Gewichte (Artikel 37). Von grosser Wichtigkeit waren auch die Einführung der Niederlassungsfreiheit (Artikel 41-43, 48 und 51) und die Schaffung eines Schweizer Bürgerrechts (Artikel 42). Gefördert wurde die Entwicklung des Binnenmarktes durch den Ausbau der Eisenbahnen, die Einführung des Telegrafen sowie die indirekt damit verbundene Vereinheitlichung der Zeitrechnung, ferner durch die Schaffung einer zumindest sprachregionalen, zum Teil auch gesamtschweizerischen Öffentlichkeit zunächst im Pressebereich, nach 1920 durch das Radio, nach 1960 durch das Fernsehen. Eine weitere Planierung des gesamtschweizerischen Aktionsfeldes erfolgte mit der durch die Totalrevision der BV von 1874 eingeleiteten Rechtsvereinheitlichung, vor allem durch Artikel 34, der 1877 die Einführung eines einheitlichen Fabrikgesetzes ermöglichte, und durch Artikel 64, der die Basis zur Einführung eines gesamtschweizerischen Obligationenrechts (OR) 1881 und des Zivilrechts 1907 bildete.

Es wäre falsch anzunehmen, die Entwicklung des Bundesstaats habe einzig im Zeichen der fortschreitenden Homogenisierung stattgefunden. Völlig gegenläufig zu den zuweilen beinahe gebetsmühlenhaft wiederholten Bekenntnissen zum Liberalismus bescherte der Gang der Entwicklung dem Land auch den Auf- und Ausbau von Privilegien, Kartellen, Monopolen und anderen Formen von Verhinderungen des freien Spiels der oft gepriesenen Marktwirtschaft. Soweit es sich um private Absprachen handelt, kann man darin eine Fortsetzung ständischer Strukturen sehen. Die staatlichen Behinderungen des landesweiten Wettbewerbs beruhen auf dem kantonalen Föderalismus und der Gemeindeautonomie; diese sind aber keine selbstständigen Grössen, sondern das Ergebnis privater Instrumentalisierung. Ein Bericht des Bundesamts für Konjunkturfragen hielt 1993 zum Erstaunen mancher fest, dass die Perspektive eines einheitlichen Binnenmarktes in vielen Branchen, Politikbereichen und Landesteilen als etwas Störendes wahrgenommen werde. Es sei vielmehr die Perspektive des örtlichen Schutzes, der Privilegierung etablierter Marktteilnehmer, der Bevorzugung partikularer Interessen und der Konservierung bestehender Strukturen, die weitherum das gültige Paradigma darstelle. Gegenläufige Tendenzen zur voranschreitenden Homogenisierung zeigten auch die Versuche von 1995, die gesamtschweizerische «Lex Friedrich» zur Einschränkung des Immobilienerwerbs durch Ausländer zu kantonalisieren, damit vor allem Tourismuskantone die Vorschriften für den Erwerb von Zweitwohnungen lockern könnten.

Das 1985 von der EG lancierte Binnenmarktprogramm «92» führte auch in der Schweiz zu einer Überprüfung der internen Marktverhältnisse. 1989 forderte die CVP-Fraktion der Bundesversammlung den Bundesrat auf, einen Bericht zur Frage vorzulegen und die Lagebeurteilung durch Vorschläge von sich aufdrängenden Massnahmen zu ergänzen. In der Postulatsbegründung wurde darauf hingewiesen, dass die schweizerische Wirtschaft auch ohne EG-Beitritt einem zunehmenden Anpassungsdruck ausgesetzt sein werde und sich intern vermehrtem Wettbewerb aussetzen müsse, um auch gegen aussen konkurrenzfähiger zu werden. Manche Behinderungen seien wohl nicht mehr zeitgemäss und sollten deshalb im Hinblick auf die europäische Herausforderung relativiert oder beseitigt werden. Die Teilnahme der Schweiz am Binnenmarkt der EU wurde nach der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 zum Gegenstand der 1999 unterzeichneten bilateralen Verträge.

Einstiegsseiten zum Bundesgesetz über den Binnenmarkt, das am 1. Juli 1996 in Kraft trat (Bundeskanzlei).
Einstiegsseiten zum Bundesgesetz über den Binnenmarkt, das am 1. Juli 1996 in Kraft trat (Bundeskanzlei).

Unter dem Titel «Wirtschaftsraum Mittelland» hatten sich schon im Juni 1994 die Kantone Bern, Solothurn, Freiburg und Neuenburg mit dem Ziel zusammengeschlossen, ihre Wirtschaftspolitik in verschiedenen Bereichen zu koordinieren (u.a. Ausbau der Infrastruktur, Anschluss an die Märkte des benachbarten Auslandes, Tourismus- und allgemeine Wirtschaftsförderung, Schaffung von Fachhochschulen, Realisation der Landesausstellung von 2002). Sprecher dieses kleinen «Binnenmarktes» betonten, dass sie sich gegenüber dem gesamtschweizerischen Binnenmarkt nicht abgrenzen, sondern diesen fördern wollten. Die Kooperationsstruktur stünde deshalb auch anderen interessierten Kantonen offen.

Der weitere Abbau von internen Wirtschaftsbarrieren drängte sich auch darum auf, weil mit dem Ausland bezüglich des Marktzutritts Nichtdiskriminierungsabkommen abgeschlossen wurden (z.B. im Rahmen der Welthandelsorganisation oder mit Baden-Württemberg und mit Vorarlberg) und man nicht dem Ausland mehr Rechte einräumen konnte als einzelnen Teilen des eigenen Landes. So sind zwei Bundesgesetze, eines über das öffentliche Beschaffungswesen, das andere über den Binnenmarkt (BGBM), entwickelt und auf den 1. Januar bzw. den 1. Juli 1996 in Kraft gesetzt worden. Das BGBM garantiert den freien Wirtschaftsverkehr aller in der Schweiz niedergelassenen Personen auf dem gesamten Gebiet der Schweiz; es fordert die Anerkennung von Berufsdiplomen (von den ärztlichen Hilfsberufen über die Anwälte bis zu den Skilehrern) und einen freien Wettbewerb im Bereich der öffentlichen Aufträge. Genau zehn Jahre nach der ersten trat eine revidierte Fassung des BGMB in Kraft. Es berechtigt neu Personen aller Berufsgruppen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, auch wenn diese eine Niederlassung erfordert (z.B. Wirte). Gleichzeitig erhielt die Wettbewerbskommission das Beschwerderecht gegen behördlich verfügte Beschränkungen des Marktzugangs.

Quellen und Literatur

  • R. Senti, EG, EFTA, Binnenmarkt, 1988 (21992)
  • R. Senti, J. Baltensperger, Binnenmarkt Schweiz, 1991
  • Der schweiz. Binnenmarkt, 1993
  • D. Dreyer, B. Dubey, Règlementation professionnelle et marché intérieur, 2003
Weblinks

Zitiervorschlag

Georg Kreis: "Binnenmarkt", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.10.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013833/2008-10-02/, konsultiert am 07.09.2024.