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Verlagssystem

Das Verlagssystem ist eine Organisationsform der dezentralen gewerblichen Produktion. In der Schweiz war es die vorherrschende Produktionsform in der Protoindustrialisierung. Unter dem Verlagssystem lässt der Unternehmer in Heimarbeit produzieren. Er stellt den Heimarbeitern Rohwaren oder Halbfabrikate zur Verfügung und bezahlt für die Verarbeitung einen Lohn, meist innerhalb eines festgelegten Zeitraums. In der Textilindustrie handelte es sich bei diesem Zeitraum häufig um ein bis zwei Wochen, in der Uhrenindustrie um bis zu sechs Monate. Je nach Branche trat der Unternehmer nicht direkt mit den Arbeitskräften in Beziehung, sondern bediente sich einer Mittelsperson (Trager, visiteur). Im Unterschied zum Kaufsystem besteht beim Verlagssystem seitens des Verlegers ein industrielles Umlaufkapital, im Gegensatz zur Manufaktur fehlt jedoch ein industrielles Fixkapital. Eine Branche ist selten ausschliesslich als Verlagssystem organisiert.

Hirschen- und Seilergraben mit dem neuen Stadtpalais zur Krone in Zürich. Lavierte Federzeichung von Johann Jakob Hofmann, 1772 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Hirschen- und Seilergraben mit dem neuen Stadtpalais zur Krone in Zürich. Lavierte Federzeichung von Johann Jakob Hofmann, 1772 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

In Europa ist das Verlagssystem schon im Mittelalter bezeugt. In der Schweiz produzierte zuerst die Fleckenstein-de-Sala-Gesellschaft zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Lugano im Verlagssystem. Ab dem späten 16. Jahrhundert wurde dieses auch in Genf und in Zürich bedeutsam. Die Verbreitung des Verlagssystems ging mit zwei sozialen Veränderungen einher: Erstens musste der Widerstand der Zünfte gebrochen werden, zweitens begünstigte das System die Abhängigkeit der Produzenten vom Verleger. Besonders die Basler Seidenbandfabrikation entfaltete sich erst nach 1666 in grossem Umfang, nachdem die Kaufleute in mehreren Ratsbeschlüssen gegenüber den städtischen Posamentern das Recht durchgesetzt hatten, den holländischen Seidenbandstuhl, der die Fabrikation mehrerer Bänder im selben Arbeitsgang erlaubte, einzusetzen und ländliche Posamenter zu beschäftigen. Auch für die Entfaltung des Zürcher Bombasingewerbes (Bombasin: Mischgewebe aus Baumwolle und Leinen) im späten 16. Jahrhundert spielte die Brechung des zünftigen Widerstands für den Übergang vom Zunfthandwerk zum Verlagssystem eine Rolle. Das Verlagssystem brachte dem Unternehmer den Vorteil, die Technologie, die Produktgestaltung und insbesondere die Arbeitskraft flexibel der Nachfrage anpassen zu können. Allerdings spielte das Zunfthandwerk im Fall von komplexen, qualitativ hochstehenden Produkten auch noch in der Protoindustrialisierung eine wichtige Rolle: Der Wandel Genfs zur Manufakturstadt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ging mit der Bildung zahlreicher Handwerkszünfte einher.

In Zürich führte die Verbreitung des Verlagssystems im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert zu zunehmender Abhängigkeit kleiner städtischer und ländlicher Leinwand- und Baumwolltuchproduzenten von städtischen Fernkaufleuten. Diese erschlossen neue Absatzmärkte und förderten neue Textilbranchen. Der Import auswärtiger Rohwaren und der Direkteinkauf von Baumwolle in Venedig oder Lyon, aber auch von Seide und Wolle, nahm zu. Das Verlagssystem nahm deshalb sowohl in Zürich als auch in der Woll- und Seidentuchfabrikation in Genf zuerst die Form von Warenkreditbeziehungen zwischen Fernkaufleuten und Tüchlerinnen an. Die vermehrte Bedienung ferner Märkte, die ausserhalb der Reichweite der Produzenten lagen, sowie deren Kapitalknappheit, die eine der steigenden Nachfrage entsprechende Expansion der Produktion erschwerte, begünstigte die Abhängigkeit von den Fernkaufleuten weiter. Das Verlagssystem war deshalb bis zum 18. Jahrhundert im zentral- und ostschweizerischen Baumwollrevier, also neben Zürich in der angrenzenden Innerschweiz, in Glarus, in Appenzell Ausserrhoden, im Toggenburg und im Rheintal, allgemein verbreitet. Ähnliche Faktoren, zusammen mit Spezialisierungsgewinnen aus einer gesteigerten Arbeitsteilung, lagen dem Aufkommen der sogenannten Etablissage im jurassischen Uhrengewerbe des späten 18. Jahrhunderts zugrunde.

Besonders weit ging die Abhängigkeit der Arbeitskräfte in der Basler Seidenbandindustrie: Hier befanden sich sowohl die Halbfabrikate wie Seidenzwirn und Floretgarn als auch die Produktionsgeräte wie die Seidenbandwebstühle im Besitz der städtischen Kaufleute, und diese standen in direktem Kontakt mit den ländlichen Arbeitskräften. Dies erklärt das weitgehende Fehlen eines ländlichen Unternehmertums im Baselbiet noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz dazu war das Zürcher Baumwollgewerbe bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts formal weitgehend ein Kaufsystem. Dennoch bestanden auf mehreren Stufen verlagsmässige Abhängigkeiten. Die städtischen Kaufleute besassen das alleinige Recht auf den Import von Rohmaterialien sowie auf die Endverarbeitung und den Export der Baumwollprodukte. Die ländlichen Tüchlerinnen mussten daher einen Warenkredit bei den städtischen Kaufleuten aufnehmen. Die Tüchlerinnen schossen wiederum den Heimweberinnen gezetteltes und gespultes Garn vor. Das Garn beschafften sie teilweise auf dem freien Markt, teilweise verlegten sie es Spinnerinnen, mitunter über von ihnen abhängige Trager. Strukturprobleme des Verlagssystems, insbesondere die Veruntreuung von Rohmaterialen durch Arbeitskräfte und die Naturalentlöhnung, führten zur Gewerbegesetzgebung.

Quellen und Literatur

  • U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, 1992
  • J. De Vries, The Industrious Revolution, 2008
Weblinks

Zitiervorschlag

Ulrich Pfister: "Verlagssystem", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.01.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013880/2014-01-15/, konsultiert am 29.03.2024.