Der Begriff Arbeitslosigkeit bezieht sich ausschliesslich auf die Erwerbstätigkeit, nicht aber auf andere Formen der Arbeit. Mindestens drei Bedingungen müssen Arbeitslose erfüllen: Arbeitsfähigkeit, d.h. einer Anstellung dürfen nicht Hindernisse wie Alter, Krankheit, Unfall oder Verpflichtungen entgegenstehen; in der Referenzperiode keine Erwerbstätigkeit; Arbeitswilligkeit (bewiesen z.B. durch aktive Bemühung um Erwerbsarbeit). Diese Kriterien sind weder vorgegeben, noch lassen sie sich in der Praxis problemlos umsetzen. Zudem erfassten sie bis in jüngste Zeit vor allem Männer, da Frauen sich bei Entlassungen gesellschaftlichen Leitbildern entsprechend eher vom Arbeitsmarkt zurückzogen.
Menschen, die dauernd oder vorübergehend keiner Erwerbsarbeit nachgingen und denen deshalb die Mittel zum Lebensunterhalt fehlten, gab es schon in vorindustriellen Gesellschaften. Sie bildeten die Masse der Armen (Pauperismus), deren Schicksal als gottgegeben oder als individuelles Versagen gedeutet wurde. Ihnen galt ein breites Bündel von Massnahmen, von der Wohltätigkeit bis zur Zwangsarbeit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Verhältnisse in industriell entwickelten Regionen stark geändert. Einerseits erschwerten die Ausbreitung der Lohnarbeit und die Verstädterung eine familienwirtschaftliche Versorgung in Notlagen. Andererseits stellte eine erstarkende Arbeiterbewegung bestehende Verhältnisse unter Berufung auf Missstände in Frage. Vor allem von den 1880er Jahren an begann deshalb die Sozialpolitik die Risiken, die zur Armut führten, zu differenzieren. Gesellschaftliche Anerkennung fanden Krankheit, Unfall, Alter und Arbeitslosigkeit. Letztere versuchte man in verschiedenen Ländern zwischen ca. 1880 und dem Ersten Weltkrieg mit unterschiedlichem Erfolg abzugrenzen. Erst seither verbreitete sich der Begriff Arbeitslosigkeit, oft präzisiert als «wirkliche Arbeitslosigkeit» oder «unverschuldete Arbeitslosigkeit». Nachdem Arbeitslose schon früher gelegentlich kollektiv Hilfe gefordert hatten, gelang es ihnen von den späten 1870er Jahren an mit Demonstrationen und Versammlungen (u.a. in Genf, Bern, Zürich und Basel), ihre Notlage dauerhaft als gesellschaftliches Problem zu definieren. Hilfskomitees wohltätiger Bürger mit zunehmender Unterstützung der öffentlichen Hand gelang es aber nie, Arbeitslose im engeren Sinne von anderen Armen zu trennen. Vor allem die Unterstützung von Trinkern und sonstigen Arbeitsunwilligen schadete nach Ansicht von Behörden und Arbeiterorganisationen dem Ruf der unverschuldet Arbeitslosen. Deren klarere Abgrenzung ermöglichten erst die sich ausbreitenden Arbeitslosenversicherungen und die Unterstützungsaktionen der Zwischenkriegszeit mit ihren verfeinerten Kriterien. Noch heute gilt aber Arbeitslosigkeit in der Sozialpolitik als weit umstrittenere Kategorie als Alter, Krankheit oder Unfall.
Arbeitslosigkeit manifestiert sich vor allem in vier Formen: Tiefgreifende Verschiebungen im Wirtschaftsgefüge führen zu struktureller Arbeitslosigkeit, wenn vom Niedergang einer Branche Betroffene wegen spezifischer Qualifikation oder mangels Alternative in ihrer Region lange keine neue Stelle fanden, wie etwa in der Zwischenkriegszeit in der Stickerei um St. Gallen oder in den 1970er Jahren in der Uhrenindustrie der Westschweiz.
Wirtschaftliche Abschwünge oder Krisen führen zur meist unerwartet und massiv auftretenden konjunkturellen Arbeitslosigkeit, die sich in der Schweiz jeweils zuerst in der Exportwirtschaft, danach in den mit ihr eng verbundenen Branchen bemerkbar machte. Diese Form der Arbeitslosigkeit erfasste weitaus am meisten Menschen gleichzeitig; gegen sie richtet sich denn auch die Mehrheit der sozialpolitischen Massnahmen wie Arbeitsbeschaffung, Versicherungsreformen usw.
Eine dritte Form der Arbeitslosigkeit ist vor allem in Branchen wie dem Baugewerbe oder dem Tourismus verbreitet, die vom Wetter abhängen. Sie kannten daher im Winter regelmässig die sogenannte saisonale Arbeitslosigkeit. Schon die Hilfskomitees um die Jahrhundertwende beschränkten deshalb ihre Aktivität in der Regel auf die kalten Monate. Im Laufe der Zeit verlor diese Form der Arbeitslosigkeit allerdings wegen neuer Verfahren und Gewohnheiten an Bedeutung. Lag die Arbeitslosigkeit jeweils im Februar 1920-1924 noch 64% höher als im Juli, so hat sich das Verhältnis im letzten Jahrzehnt ausgeglichen. Seit dem späten 19. Jahrhundert entlasten zudem abwandernde Saisonniers im Winter den Arbeitsmarkt.
Bedeutend war bis zum Ersten Weltkrieg die sogenannte Fluktuations-Arbeitslosigkeit. Wandernde Handwerker hatten zwischen zwei Anstellungen oft eine Durststrecke zu überwinden, und die Industrie kannte ebenfalls noch bedeutende Fluktuationen. Als Gegenmittel entstanden seit den späten 1880er Jahren öffentliche Arbeitsnachweis-Büros ― die Vorgänger der Arbeitsämter ―, die die Transparenz auf dem Arbeitsmarkt erhöhten, sowie bereits früher Naturalverpflegungs-Stationen für wandernde Arbeitsuchende. Neben der Voll-Arbeitslosigkeit traf die Teil-Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit vor allem in Zeiten und Branchen mit niedrigem Lohnniveau Betroffene hart. Bei konjunkturellen Rückschlägen, Absatzproblemen oder Rohstoffmangel (Kriege) versuchten Firmen in einer ersten Phase, mit unbezahlten Arbeitszeitverkürzungen Entlassungen zu vermeiden. So verliefen zum Beispiel die Kurven der Teil-Arbeitslosigkeit und der Voll-Arbeitslosigkeit in der Krise der 1920er Jahre mit zeitlicher Verschiebung analog.
Wegen erheblichen Abgrenzungsproblemen gehören Arbeitslosenzahlen zu den umstrittensten Daten der Statistik. Grundsätzlich stehen zwei Methoden zur Verfügung: Zum einen der Labour Force Survey mit dem Kriterium aktive Stellensuche, zum anderen die Registratur beim Arbeitsamt. Sie liefern höchst unterschiedliche Ergebnisse, wie ein Vergleich zwischen der Statistik des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Biga) und der des Bundesamtes für Statistik (BfS) zeigt. Ersteres erfasste jeweils im 2. Quartal 1991 32'120, 1992 82'047 und 1993 152'766 «eingeschriebene Arbeitslose», Letzteres verzeichnete in der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) gleichzeitig 68'000, 110'000 und 144'000 «Erwerbslose». Historisch stehen nur nach der Registraturmethode erhobene Daten zur Verfügung. Sie erfassten vor allem diejenigen, die sich von der Anmeldung eine Verbesserung der Lage ― zum Beispiel Taggelder ― versprachen. Bis in jüngste Zeit blieben Frauen und Ausländer statistisch unterrepräsentiert, weil sie nach gängiger Auffassung in den Haushalt bzw. in ihre Herkunftsländer zurückkehren konnten. Ab den 1880er Jahren führten in einigen Städten verschiedenste Instanzen (u.a. Hilfskomitees) Zählungen durch. Die öffentlichen Arbeitsnachweise publizierten ab den 1890er Jahren Frequenzstatistiken, seit 1905 in den Jahrbüchern des Verbandes schweizerischer Arbeitsämter zusammengefasst. Diese Gegenüberstellungen von Arbeitssuchenden und offenen Stellen blieben bis 1920 die einzigen quantitativen Indikatoren zum Arbeitsmarkt. Der Bundesbeschluss vom 29. Oktober 1919 brachte ab dem folgenden Jahr monatliche Stichtagzählungen unter Leitung des Eidgenössischen Arbeitsamtes bzw. des Biga, die 1924 auf eine erweiterte Grundlage gestellt und seither mehrmals verfeinert wurden. Sie ermöglichen folgende Statistik:
Arbeitslose und Arbeitslosenquote 1920-2000 (jährliches Mittel)
Jahr | Anzahl | Quotea |
---|---|---|
1920 | 6 522 | 0,3 |
1921 | 58 466 | 3,1 |
1922 | 66 995 | 3,6 |
1923 | 32 605 | 1,7 |
1924b | 14 692 | 0,8 |
1925b | 11 090 | 0,6 |
1926b | 14 118 | 0,8 |
1927b | 11 824 | 0,6 |
1928b | 8 380 | 0,4 |
1929b | 8 131 | 0,4 |
1930b | 12 881 | 0,7 |
1931b | 24 208 | 1,2 |
1932b | 54 366 | 2,8 |
1933b | 67 867 | 3,5 |
1934b | 65 440 | 3,4 |
1935b | 82 468 | 4,2 |
1936b | 93 009 | 4,8 |
1937b | 71 130 | 3,7 |
1938b | 65 583 | 3,4 |
1939b | 40 324 | 2,1 |
1940b | 16 374 | 0,8 |
1941 | 9 095 | 0,5 |
1942 | 8 841 | 0,4 |
1943 | 6 058 | 0,3 |
1944 | 6 533 | 0,3 |
1945 | 6 474 | 0,3 |
1946 | 4 262 | 0,2 |
1947 | 3 473 | 0,2 |
1948 | 2 971 | 0,1 |
1949 | 8 059 | 0,4 |
1950 | 9 599 | 0,4 |
1951 | 3 799 | 0,2 |
1952 | 5 314 | 0,2 |
1953 | 4 995 | 0,2 |
1954 | 4 329 | 0,2 |
1955 | 2 713 | 0,1 |
1956 | 3 038 | 0,1 |
1957 | 2 047 | 0,1 |
1958 | 3 373 | 0,2 |
1959 | 2 426 | 0,1 |
1960 | 1 227 | 0,0 |
1961 | 647 | 0,0 |
1962 | 599 | 0,0 |
1963 | 825 | 0,0 |
1964 | 288 | 0,0 |
1965 | 299 | 0,0 |
1966 | 296 | 0,0 |
1967 | 256 | 0,0 |
1968 | 303 | 0,0 |
1969 | 175 | 0,0 |
1970 | 104 | 0,0 |
1971 | 100 | 0,0 |
1972 | 106 | 0,0 |
1973 | 81 | 0,0 |
1974 | 221 | 0,0 |
1975 | 10 170 | 0,3 |
1976 | 20 703 | 0,7 |
1977 | 12 020 | 0,4 |
1978 | 10 483 | 0,3 |
1979 | 10 333 | 0,3 |
1980 | 6 255 | 0,2 |
1981 | 5 889 | 0,2 |
1982 | 13 220 | 0,4 |
1983 | 26 288 | 0,9 |
1984 | 32 061 | 1,0 |
1985 | 27 024 | 0,9 |
1986 | 22 770 | 0,7 |
1987 | 21 918 | 0,7 |
1988 | 19 524 | 0,6 |
1989 | 15 133 | 0,5 |
1990 | 15 980 | 0,5 |
1991 | 35 065 | 1,1 |
1992 | 82 429 | 2,5 |
1993 | 144 983 | 4,5 |
1994 | 150 021 | 4,7 |
1995 | 133 154 | 4,2 |
1996 | 146 892 | 4,7 |
1997 | 162 235 | 5,2 |
1998 | 117 798 | 3,9 |
1999 | 81 912 | 2,7 |
2000 | 58 782 | 2,0 |
a Arbeitslosenquote: Anteil der Arbeitslosen an der Zahl der Erwerbspersonen der letzten Volkszählung
b 1924-1940: Stellensuchende
In vier Perioden stieg die Arbeitslosigkeit massiv an. Eine weitgehend vergessene Krise setzte im Herbst 1920 ein, wobei die Arbeitslosigkeit mit 99'541 Eingeschriebenen (5,3%) im Februar 1922 ihr Maximum erreichte. Betroffen wurden vor allem Exportindustrien (Uhren, Metall und Maschinen, Textilien), später auch das Baugewerbe. Rasch besserte sich die Lage wieder, bis sich mit Verzögerung ab Sommer 1930 die Grosse Depression schwer auf den schweizerischen Arbeitsmarkt auswirkte. Sie dauerte mit mehreren Auf- und Abschwüngen bis zum Kriege und erreichte ihre Maxima jeweils im Januar 1933 mit 101'111 (5,2%), 1935 mit 110'283 (5,7%), 1936 mit 124'008 (6,4%) und 1937 mit 110'754 (5,7%) Stellensuchenden. Hauptbetroffene waren die gleichen Berufsgruppen wie in den 1920er Jahren. Im internationalen Vergleich blieb die schweizerische Arbeitslosigkeit aber relativ gering. Mit dem Zweiten Weltkrieg setzte eine von nur leichten Rückschlägen unterbrochene, jahrzehntelange Phase guter Beschäftigungslage ein. Zwischen 1973 und 1976 aber gingen fast 11% der Arbeitsplätze verloren, ohne dass sich dies in den Arbeitslosenzahlen entsprechend niederschlug. Weil eine obligatorische Arbeitslosenversicherung fehlte, reisten entlassene Ausländer in ihre Herkunftsländer ab (Export der Arbeitslosigkeit), ungeschützte Einheimische (v.a. Frauen, Jugendliche, Ältere) zogen sich vom Arbeitsmarkt zurück. Im internationalen Vergleich registrierte man in der Schweiz eine der schwersten Krisen und zugleich eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten. Die obligatorische Arbeitslosenversicherung bewog seit den 1980er Jahren mehr Betroffene zur Anmeldung, weshalb die registrierte Arbeitslosigkeit nun bei Abschwüngen stärker zunahm. Statistisch erreichte die Arbeitslosigkeit 1992 wieder die Dimension der Grossen Depression. Im Januar 1997 überschritt die Zahl der eingeschriebenen Arbeitslosen (einschliesslich Teilarbeitslosen) erstmals 200'000, im Februar kletterte sie auf das bisherige Maximum von 206'291, was einer Quote von 5,7% entspricht.
Bei den Betroffenen verursacht Arbeitslosigkeit neben der materiellen vor allem bei langer Dauer auch psychische Not. Ihre Selbsthilfeorganisationen (z.B. Arbeitslosenkomitees der 1930er Jahre) erreichten nur selten und kurzfristig politisches Gewicht. Wirkungsvoller vertraten Gewerkschaften ihre Anliegen, weil die noch Arbeitenden den von der Arbeitslosigkeit ausgehenden Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen möglichst gering halten wollten.