Feldarbeit im Mittelland. Illustration aus der Schweizer Chronik vonChristoph Silberysen,1576 (Aargauer Kantonsbibliothek, Aarau, MsWettF 16: 1, S. 454; e-codices).
[…]
Bis ins 19. Jahrhundert war die Landwirtschaft sowohl bezüglich der Zahl der darin beschäftigten Personen (weit über 80%, Bauern) wie auch aufgrund des Anteils am Bruttosozialprodukt der mit Abstand wichtigste wirtschaftliche Sektor, der auch die ländliche Gesellschaft wesentlich prägte. Wichtige Faktoren für die Landwirtschaft, die gerade in der Schweiz in vergleichsweise kleinen geografischen Räumen sehr unterschiedlich ausgestaltet sein konnte, waren die naturräumlichen Voraussetzungen (Klima), die Entwicklung der Bevölkerung und die Agrarverfassung.
Autorin/Autor:
Anne-Marie Rachoud-Schneider
Übersetzung:
Elmar Meier
Wohl um 5500 v.Chr. begann in der Schweiz die Umstellung auf die neolithische Wirtschaftsform (Neolithikum), deren wesentlicher Bestandteil die Landwirtschaft war. Aufgrund der uneinheitlichen archäologischen Dokumentation lässt sich der Übergang von den letzten Jäger- und Sammlergesellschaften (aneignende Wirtschaftsweise) zu den ersten neolithischen Bauerngesellschaften (produzierende Wirtschaftsweise) nicht in eine allgemeingültige Theorie fassen. Gesichert scheint lediglich, dass beide Gesellschaftsformen nebeneinander bestanden haben; ihr Lebensraum waren vom Menschen noch wenig beeinflusste Wälder, in denen die Laubbäume vorherrschten. In der Gegend von Basel und Zürich sind Rodungen, der Anbau von Nahrungspflanzen wie Emmer, Einkorn und Erbsen sowie Textilpflanzen wie Lein und Mohn ab dem Altneolithikum (ca. 5500-4900 v.Chr.) belegt. Im Wallis und Tessin setzte sich vermutlich rasch eine weit entwickelte neolithische Wirtschaft durch. Ackerbau und Viehwirtschaft sowie die Herstellung von geschliffenen Steinwerkzeugen, von Keramik und Mahlsteinen waren an den altneolithischen Stätten direkt miteinander verbunden.
Im Mittelneolithikum (ca. 4900-3200 v.Chr.), als die Ufersiedlungen aufkamen, intensivierten sich Bodennutzung und Bodenerschliessung in dem Masse, wie die Bevölkerung wuchs. Auf den Feldern wurden wahrscheinlich mehrere Jahre hintereinander verschiedene Getreidearten angebaut (im Mittelland war Weizen die Hauptfrucht), worauf jeweils eine längere Brache folgte. Auf dem Brachland wuchs rasch ein Sekundärwald hauptsächlich mit Haselsträuchern und Birken nach, der die Menschen mit Nutz- und Brennholz sowie diversen Früchten wie Haselnüssen und Äpfeln versorgte (Sammelwirtschaft). Diese an die noch vorherrschende Waldlandschaft (Buchen- und Tannenwald) gut angepasste Anbaumethode ermöglichte eine ausreichende Bodenregeneration. Das Kulturland, welches dem Bedarf entsprechend vermutlich durch Brandrodung neu erschlossen wurde, hatte zunächst noch bescheidene Ausmasse. Im Jung- und Endneolithikum (ca. 3200-2200 v.Chr.) dehnte es sich allmählich weiter aus. Die Brache verkürzte sich, und in der Umgebung der Dörfer wurden grössere Bodenflächen bestellt. Die Intensivierung der Landwirtschaft verlief wohl parallel zum Bevölkerungswachstum, das für diesen Zeitraum angenommen wird.
In der Bronzezeit (ca. 2200 bis 750-700 v.Chr.) kam die Gestaltung der Kulturlandschaft durch die Bauern zu einem vorläufigen Abschluss. Bereits in der späten Bronzezeit glich sie im Mittelland, zum Beispiel im Bodenseeraum, derjenigen des Mittelalters, in der Wiesen und bestellte Felder an bewirtschaftete Waldparzellen grenzten. Die ersten Rodungsspuren im Jura stammen aus der mittleren und späten Bronzezeit. Gerste wurde zur wichtigsten Getreideart, gefolgt von Dinkel. Der Anbau von Hirse kam auf, und die Hülsenfrüchte (Ackerbohne, Linse, Erbse) gewannen an Bedeutung. Lein und Mohn wurden weiterhin angebaut, neu dazu kam der Leindotter. Die äusserst zahlreich belegten Wiesen- und Weidepflanzen lassen auf eine Ausweitung des Grünlandes spätestens in der ausgehenden Bronzezeit schliessen. In den Alpentälern verstärkte sich der Einfluss des Menschen auf die waldnahen Bereiche, doch über die Sömmerung des Viehs vor dem Mittelalter ist nichts bekannt. Während der gesamten Bronzezeit herrschte eine agropastorale Produktionsweise vor. Auf dem Ackerland wurden die mehrjährigen Fruchtfolgen von eher kurzen Brachperioden unterbrochen, während denen das Land wahrscheinlich beweidet wurde. Der Boden wurde, wie in den Felsbildern im Val Camonica dargestellt, mit einem von Ochsen gezogenen Hakenpflug bearbeitet (Pflug). Seit dieser Zeit finden sich hinreichend Belege für Sommerfrüchte (Hirse und Hülsenfrüchte) und Winterfrüchte (Dinkel). Letztere hatten den Vorteil, dass sie früh reiften und ertragreicher waren als das Sommergetreide.
Der Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit (Hallstattzeit, Latènezeit), der auf ca. 800-750 v.Chr. anzusetzen ist, fiel mit einer rund hundert Jahre anhaltenden Klimaverschlechterung zusammen. In der Eisenzeit (bis ca. 50 v.Chr.) nahmen die Rodungen zu. Die Ausbreitung der Eiche und Buche war wohl eine Folge davon, dass diese Bäume nun wegen ihrer Früchte, der Eicheln und Bucheckern, genutzt wurden. Die neu hinzugekommene Hainbuche lieferte das Holz für die Metallbearbeitung. Das Spektrum der Kulturpflanzen unterschied sich – abgesehen vom neu angebauten Hafer – kaum von dem der Bronzezeit. Die bedeutendsten Neuerungen sind bei der landwirtschaftlichen Technik auszumachen. Das Eisenhandwerk brachte eine Diversifizierung der Arbeitsgeräte und eine Verbesserung der Hakenpflüge mit sich. Der Wechsel der Getreidekulturen mit dazwischengeschalteten kurzen Brachen ist weiterhin belegt. Auch Dünger dürfte verwendet worden sein. Bei der Bewirtschaftung des Grünlands ging man von einer extensiven Nutzung der Waldweiden zu Wiesen über, die gemäht und beweidet wurden. Die Heugewinnung steht im Zusammenhang mit der aufkommenden Stallhaltung des Viehs in Wohnstallhäusern. Bekanntlich exportierten die Helvetier neben Käse und Vieh auch Getreide, woraus sich schliessen lässt, dass ihre landwirtschaftliche Tätigkeit nicht mehr ausschliesslich der Selbstversorgung diente.
Die wichtigste agrarische Innovation der Römerzeit (50 v.Chr. bis 400 n.Chr.) war die Verbreitung neuer Kulturpflanzen: Nussbäume und Kastanien (beide erschienen gleichzeitig), Hanf, Roggen (noch selten) und wahrscheinlich Reben (Weinbau). Abgesehen von der Ausdehnung des Ackerlands, der Wiesen, Weiden und Waldweiden ist zwischen der Eisenzeit und der römischen Epoche kein wirklicher Bruch in der Vegetationsentwicklung festzustellen, was auf eine Fortdauer der agropastoralen Produktion schliessen lässt. Im Mittelland bildete Dinkel das Hauptgetreide. Es wurden vielerlei Textil- und Ölpflanzen angebaut: Lein, Hanf, Mohn und Leindotter. In Gärten und Baumgärten in der Nähe des Wohnbereichs (Römischer Gutshof) wurden Gemüse, Gewürze, Arzneipflanzen und Obstbäume, darunter der neu eingeführte Pfirsichbaum, angepflanzt. Eine grössere Veränderung der Vegetationsdecke trat nachweislich erst ab 1000 n.Chr. ein, was für die Kontinuität der landwirtschaftlichen Entwicklung zwischen Römerzeit und Frühmittelalter spricht.
Mittelalter
Autorin/Autor:
Martin Leonhard
Zur frühmittelalterlichen Landwirtschaft sind noch viele Fragen offen, da die von der Grundherrschaft schwach erfassten Bereiche der Landwirtschaft in den schriftlichen Quellen kaum erscheinen und für den ländlichen Raum auch erst wenige Resultate der Mittelalter-Archäologie vorliegen. Verschiedenenorts sind Hinweise auf bäuerliche Siedlungsbildungen im Bereich ehemaliger römischer Gutshöfe vorhanden (z.B. Munzach, Dietikon, Vicques). Nach gängiger Lehrmeinung kam der Viehwirtschaft im Vergleich zum Hochmittelalter eine grössere Bedeutung zu, was sich zum Beispiel in der differenzierten Terminologie der Rechtsquellen zu Hausrind und Schwein äussert. Trotzdem ist für diese Zeit noch nicht von spezialisierten Viehhöfen (Schweighöfe), sondern vielmehr von gemischtwirtschaftlichen Betrieben auszugehen, in deren unmittelbarer Umgebung ein extensiver, individuell organisierter Ackerbau betrieben wurde. Dass vor allem geistliche Grundherren die Landwirtschaft in ihrem Herrschaftsbereich im Frühmittelalter nach dem System des Fronhofs organisierten, ist zum einen aus den wenigen zeitgenössischen Urkunden (z.B. des Klosters St. Gallen), zum anderen aus Überresten in hoch- und spätmittelalterlichen Quellen zu erschliessen.
Vom 9. bis 12. Jahrhundert wurde im Zuge des Bevölkerungswachstums immer mehr Kulturland für den Ackerbau erschlossen. Inwieweit die Viehhaltung mit dieser Entwicklung Schritt hielt, d.h., ob sie in gleichem Mass ausgedehnt wurde, ist in der Forschung umstritten – nicht zuletzt aufgrund der für wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen äusserst dürftigen Quellenlage. Seinen Höhepunkt erreichte der Landesausbau im Hochmittelalter, insbesondere im 12. bis 13. Jahrhundert: Um die wachsende Bevölkerung ernähren zu können, wurde im schweizerischen Mittelland der Getreidebau intensiviert, einerseits indem Weide- in Anbauflächen umgewandelt und die Haltung vor allem von Kleinvieh wie Ziegen oder Schafen entsprechend reduziert wurde, andererseits indem die so erschlossenen Böden durch den Übergang zur kommunal organisierten Dreizelgenwirtschaft (Dorf, Zelgensysteme) besser genutzt und mit technologischen Verbesserungen wie der Einführung des Beetpflugs die Ackererträge gesteigert wurden. Von dieser Entwicklung nicht betroffen waren Regionen mit ackerbaulichen Grenzböden, wie die höher gelegenen Teile der Voralpen und Alpen. Hier, vor allem im nördlichen Voralpenraum, spezialisierte sich die Landwirtschaft vom 14. Jahrhundert an zunehmend auf Viehwirtschaft. Getragen wurde diese Entwicklung, zumindest in Teilen der Innerschweiz, von neuen, viehbäuerlichen Führungsgruppen, die sich immer stärker an der Nachfrage der städtischen Märkte vor allem Oberitaliens orientierten (Viehhandel). Die Spezialisierung innerhalb der spätmittelalterlichen Landwirtschaft bedingte eine stärkere Marktorientierung der bäuerlichen Produzenten, nicht nur für den Absatz, sondern auch zur Deckung des Eigenbedarfs (Agrarmarkt). Sie förderte eine teils klein-, teils grossräumige landwirtschaftliche Regionalisierung, wie sie zum Beispiel im Umland von St. Gallen mit dem St. Galler Rheintal (Rebbau), dem Appenzellerland (Viehwirtschaft) und dem östlichen Mittelland (Getreidebau) nachgezeichnet werden konnte. Ergebnis dieses Auseinandergehens waren schliesslich die arbeitsteilig produzierenden Agrarzonen.
Grossen Einfluss auf diese Entwicklung der Landwirtschaft hatten spätestens vom 13. Jahrhundert an die aufblühenden Städte. Herrschte bis dahin die Subsistenzwirtschaft vor, so verkaufte vorerst eine bäuerliche Oberschicht ihre Überschüsse vermehrt auf städtischen Märkten. Gezielte Investitionen städtischer Bürger liessen rings um die Städte Sonderkulturgürtel entstehen, in denen leicht absetzbare Produkte wie Wein, Fleisch, Gemüse, Obst, Flachs, Hanf und Färbepflanzen produziert wurden (Stadt-Land-Beziehungen). Begünstigt haben die angesprochene Dynamik der Landwirtschaft im Spätmittelalter auch die unter dem Stichwort Krise des Spätmittelalters zusammengefassten Prozesse, namentlich die Mobilisierung der landwirtschaftlichen Besitzstrukturen infolge der demografischen Entwicklung, die unterschiedlichen Preisbewegungen agrarischer Produkte sowie die Ökonomisierung und Neuausrichtung der Abhängigkeiten und Beziehungen.
Frühe Neuzeit
Autorin/Autor:
Albert Schnyder
Trotz der im späteren 16. Jahrhundert einsetzenden Protoindustrialisierung blieb der Agrarsektor über die gesamte frühe Neuzeit der bei weitem wichtigste Zweig der schweizerischen Wirtschaft. Obwohl statistische Daten von hinreichender Qualität fehlen, gilt dies für alle relevanten Grössen: den Kapitalstock, Investitionen, Quantität und Wert der Produktion und schliesslich auch für die Anzahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten. Die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung lebte in und von der Landwirtschaft, die bis ins 19. Jahrhundert weitgehend auf den regional verfügbaren Ressourcen basierte.
Der Agrarsektor trug demnach auch wesentlich zur Finanzierung des öffentlichen Haushalts bei. Vor allem im "Kornland" war die Landwirtschaft mit der Dreizelgenwirtschaft und den Feudallasten in hohem Ausmass in die Herrschaftsbeziehungen zwischen städtischen Obrigkeiten und ländlichen Untertanen eingebunden. Im "Hirtenland", und im 18. Jahrhundert auch in gewissen Gebieten des höheren Mittellandes (z.B. Zürcher Oberland), waren wirtschaftlich-soziale und herrschaftliche Beziehungen indirekter und lockerer miteinander verflochten.
Von grosser Bedeutung waren auch für die frühneuzeitliche Agrargesellschaft die kommunalen Rechts- und Normensysteme, die je nach Agrarzone eine grosse Vielfalt aufwiesen. Dazu gehörten die Organisation des Alltags der landwirtschaftlichen Produktion, besonders Absprachen im Bereich kollektiver Nutzungen, ferner die Regelung des Zugangs zur Allmend, die Handhabung der Gütertransfers im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung, aber auch die Bürgerrechtspolitik, die innergemeindliche Versorgungspolitik und der Umgang mit den sozialen Gegensätzen innerhalb der Gemeinden. Dies alles spielte sich in einer Gesellschaft ab, die ganz wesentlich auf rechtlicher, politischer und sozialer Ungleichheit basierte.
Darstellung und Beschreibung der zwölf Monate und ihrer Arbeiten. Neujahrsblatt der Burgerbibliothek Zürich auf das Jahr 1663, gestochen vonConrad Meyer (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
[…]
Mit Ausnahme des stark exportorientierten "Hirtenlandes" war die frühneuzeitliche Landwirtschaft in der Schweiz primär an der Selbstversorgung und nur sekundär an regionalen, selten an überregionalen Märkten orientiert. Die Produktion für den Agrarmarkt war zudem meistens der wirtschaftlichen Elite der ländlichen Produzenten vorbehalten. Von Hochkonjunkturen im Agrarbereich, wie etwa dem Aufschwung während des Dreissigjährigen Kriegs (Exporte in die süddeutschen Kriegsgebiete), profitierten in erster Linie die Grossbauern. Die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung partizipierte nur marginal, zum Beispiel als Kleinhändler, am regionalen Agrarmarkt und war für ihren Unterhalt (Nahrungsmittel und Verdienst) von der Elite der ländlichen Produzenten abhängig. Während bei der ländlichen Oberschicht die Ausrichtung am familienwirtschaftlichen Ziel der Selbstversorgung mit Marktorientierung verbunden war, beruhte für die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung, d.h. für die Mittel- und Unterschicht, die Erreichung des Subsistenzziels auf der Verbindung der eigenen landwirtschaftlichen (Klein-)Produktion mit Zusatzeinkommen unterschiedlichster Art aus Kleinhandel, Teilzeitarbeit von Frauen und Männern in Handwerk, Gewerbe oder Landwirtschaft (Taglöhner).
Eine grosse Herausforderung für die Landwirtschaft stellte das erhebliche und im europäischen Vergleich überdurchschnittliche Wachstum der Bevölkerung dar, die sich 1500-1700 verdoppelte, bis 1800 fast verdreifachte. Vor allem zu Beginn der frühen Neuzeit wurde zur Steigerung der Agrarproduktion viel Neuland erschlossen und bestehendes Kulturland intensiver genutzt. Bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert wurde am südlichen Rand des Mittellands die dörfliche Zelgenwirtschaft durch eine getreideintensive Feldgraswirtschaft ergänzt, zum Teil auch verdrängt. Typische Begleiterscheinung dieser Intensivierung waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vermehrte Nutzungskonflikte. Zwar vermochte die Getreideproduktion in vielen Ackerbauregionen langfristig mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten – in Luzerner Getreidebaugebieten verdreifachten sich z.B. 1500-1700 die Zehnterträge. Regionen mit vorwiegender Viehwirtschaft und Protoindustrie waren jedoch auf Getreideeinfuhren angewiesen, zum Beispiel aus Süddeutschland oder dem Piemont. Begleiterscheinungen des starken Bevölkerungswachstums waren fortgesetzte Güterteilungen verbunden mit einer relativen Zunahme der unterbäuerlichen ländlichen Bevölkerung (Tauner), wiederholte Hungersnöte, Verarmung, steigende Bodenpreise und eine wachsende Agrarverschuldung.
Im Gegensatz zur Ausdehnung der Gutswirtschaft in anderen Teilen Europas stützte sich die frühneuzeitliche Landwirtschaft in der Schweiz weiterhin auf die bäuerlichen Familienbetriebe. Mit der Ausbreitung der Heimarbeit im 18. Jahrhundert wurden zusätzliche, neuartige Verdienstmöglichkeiten geschaffen, die vor allem den Familien der ländlichen Unterschicht zugute kamen. Insbesondere die Kombination von Kleinlandwirtschaft und heimindustrieller Arbeit bot bei Ausnutzung aller familieninternen Arbeitskräfte neue Möglichkeiten für Existenzgründungen.
Tafel aus der Encyclopédie ou Dictionnaire universel raisonné des connoissances humaines. Mis en ordre par M. de Félice, radiert vonCharles Boily,1775 (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne).
[…]
Während die grossen Veränderungen der Landwirtschaft des "Hirtenlandes" bereits im Mittelalter stattgefunden hatten, markiert die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts den Beginn grundlegender Veränderungen im gesamten "Kornland". Namentlich die erneute Einschlagsbewegung, die Einführung der Kartoffel, die Auflösung von Allmenden, die Bepflanzung der Brache und die Einführung der Sommerstallfütterung führten je nach Gegend in unterschiedlichem Mass zur Aufweichung der traditionellen Agrarverfassung. Der Übergang von der frühneuzeitlichen zur modernen Landwirtschaft vollzog sich zwischen 1750 und 1850 als diskontinuierlicher Prozess, der nicht in chronologischer, wohl aber in qualitativer Hinsicht als Agrarrevolution bezeichnet werden kann. Das Alte verblasste langsam, das Neue wuchs allmählich und uneinheitlich heran, alte und neue Bodennutzungssysteme existierten gerade im kommunalen Rahmen noch lange nebeneinander. Die grundlegenden Entwicklungen standen um 1800 erst am Anfang, waren aber unumkehrbar geworden.
19.-20. Jahrhundert
Autorin/Autor:
Werner Baumann, Peter Moser
Das 19. Jahrhundert brachte für die schweizerische Landwirtschaft tiefgreifende Veränderungen. In der bereits durchlöcherten Dreizelgenwirtschaft des Kornlandes war um 1850 die erste Agrarrevolution vollendet, wobei sich die praktische Aufhebung des Flurzwangs zum Teil bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinzog. Verbesserungen in der Fruchtwechselwirtschaft sowie bei der Düngung, die Aufhebung der Brache und die einsetzende Mechanisierung steigerten Ertrag und Produktivität. Vieh- und Milchwirtschaft breiteten sich im Voralpengebiet aus, Käsereien auch im Flachland, zuerst in der Westschweiz. Die Landwirtschaft wurde zunehmend zum spezialisierten Sektor für die Nahrungsmittelproduktion in der sich entwickelnden Industriegesellschaft, von den anderen wirtschaftlichen Sektoren deutlicher geschieden als bisher, gleichzeitig durch vor- und nachgelagerte Gewerbe und Industrien sowie den Markt in die Volkswirtschaft integriert.
Feldarbeit im Val Müstair um 1920 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Kopp).
[…]
Mit dem industriellen Wachstum wurde die Landwirtschaft, trotz oder gerade wegen ihrer Produktivitätsfortschritte, zum schrumpfenden Sektor: Die Zahl der Beschäftigten, die 1860 etwa 0,5 Mio. ausmachte, begann ab 1880 langsam zurückzugehen. Bis 1960 war sie auf die Hälfte gesunken, und in den folgenden 20 Jahren halbierte sie sich erneut. Der Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtzahl der Beschäftigten, den man für 1800 auf 60% und 1850 auf 50% schätzt, ging seit 1900 von 31% über 19,5% (1950) auf etwa 4% (2000) zurück (seit 1950 inklusive Teilzeitarbeit). Dank enormer Ertrags- und Produktivitätssteigerungen, vor allem seit den 1950er Jahren, konnte die Produktion dennoch dem Bevölkerungswachstum und den gestiegenen Ansprüchen an die Ernährung folgen, ja den Selbstversorgungsanteil des Landes sogar steigern. Die Bruttowertschöpfung des 1. Sektors stieg von jährlich ca. 0,5 Mrd. Franken in den 1880er Jahren auf über 10 Mrd. Franken in den 1990er Jahren, wobei ihr Anteil an der gesamtschweizerischen Wertschöpfung im gleichen Zeitraum von rund 30% auf ca. 3% sank. Allerdings ist das relative wirtschaftliche Gewicht der Agrarproduktion nicht allein an den Beschäftigten und an der Wertschöpfung der Landwirtschaft ablesbar, denn die mit der Agrarproduktion verbundenen vor- und nachgelagerten Bereiche haben im 20. Jahrhundert eine zunehmende Rolle gespielt.
Landwirtschaftliche Betriebe nach Grössenklasse 1905-2000
[…]
Nach den Umwälzungen der ersten Agrarrevolution setzte unter dem Druck des sich entwickelnden Weltagrarmarkts (Wegfall des Entfernungsschutzes, sinkende Getreidepreise) in den 1860er Jahren eine zweite Veränderungswelle ein, die vor allem das Mittelland erfasste: die Umstellung vom Getreidebau auf die Milchwirtschaft als zentralen Produktionszweig. Die natürlichen Bedingungen waren dafür günstig, der Absatz war durch die wachsende Bevölkerung in der Schweiz und durch die Nachfrage im Ausland gesichert – seit den 1880er Jahren ging mehr als ein Viertel der Milchproduktion in den Export. Neben neuen Käsereien entstand eine milchverarbeitende Industrie (Kondensmilch, Schokolade). Parallel dazu ging der Ackerbau zurück. Die Ackerfläche, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit über 500'000 ha noch rund die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche beschlagen hatte, schrumpfte auf 200'000 ha vor dem Ersten Weltkrieg. Zwar baute noch mehr als die Hälfte der Bauern Getreide an, aber fast nur noch für den Eigenbedarf und als Futtermittel. Auch der Rebbau ging zurück, besonders in der Ostschweiz. Obst- und Gemüsebau lieferten in die Städte und an die nach 1900 aufblühende Konservenindustrie. So entstand eine intensive, durch Bezug (Hilfsstoffe, Landmaschinen) wie durch Absatz stark in den Binnen- und den Weltmarkt integrierte, zum Teil mit einer Verarbeitungsindustrie verknüpfte Landwirtschaft, in der die Milchwirtschaft dominierte. Fast alle übrigen Zweige waren mit ihr als Nebenproduzenten (Schlachtvieh, Schweine) oder Rohstofflieferanten (Viehzucht, Ackerbau) verbunden. Dennoch blieb der schweizerische Agrarsektor regional vielfältig; der Rebbau hielt sich in der Westschweiz, der Ackerbau vor allem in den Gebieten der "verbesserten Dreifelderwirtschaft" der Nordschweiz.
Betriebszahlen und Kulturfläche nach Grössenklassen 1905-2000
Betriebsgrösse
1905
1929
1939
1955
1965
1975
1980
1985
1990
2000
0-5 haa
Betriebe
146 452
142 306
137 359
109 425
74 799
57 509
52 665
50 083
41 093
13 764
Kulturfläche in ha
310 193
263 326
229 121
173 158
112 828
75 292
66 566
59 714
53 208
31 545
5-10 ha
Betriebe
55 467
57 236
59 044
53 267
39 954
24 580
20 158
17 489
15 543
13 149
Kulturfläche in ha
335 968
351 081
361 707
335 437
258 184
158 205
130 894
113 467
101 497
99 056
10-15 ha
Betriebe
19 763
21 130
23 911
24 925
25 503
22 395
20 455
18 669
16 852
13 812
Kulturfläche in ha
196 049
210 212
242 137
257 004
270 025
239 082
219 797
200 903
182 504
171 817
15-30 ha
Betriebe
14 744
13 885
15 492
15 891
18 907
24 133
26 406
27 201
27 928
22 846
Kulturfläche in ha
217 722
208 118
244 708
254 788
316 675
415 212
462 108
477 975
493 503
476 172
30-50 ha
Betriebe
7 284b
2 427
2 065
1 976
2 552
3 666
4 560
5 212
5 658
5 759
Kulturfläche in ha
139 591b
53 774
54 619
54 339
76 873
113 152
141 695
160 990
173 484
212 767
>50 ha
Betriebe
1 485
610
513
699
843
1 030
1 077
1 222
1 207
Kulturfläche in ha
40 864
33 851
30 203
41 756
50 062
59 948
60 123
67 052
81 137
Total Betriebe
243 710
238 469
238 481
205 997
162 414
133 126
125 274
119 731
108 296
70 537
Total Kulturfläche in ha
1 199 523
1 127 375
1 166 143
1 104 929
1 076 341
1 051 005
1 081 008
1 073 172
1 071 248
1 072 494
Durchschnittliche Betriebsgrösse in ha
4,9
4,7
4,9
5,4
6,6
7,9
8,6
9,0
9,9
15,2
a 1905 wurden Betriebe von weniger als 0,5 ha Kulturfläche nicht erhoben.
b Total der Betriebe von 30 ha und mehr Kulturfläche.
Betriebszahlen und Kulturfläche nach Grössenklassen 1905-2000 - Bundesamt für Statistik
Eines der ersten Werbeplakate für Walliser Weine, um 1920 (Mediathek Wallis, Sitten).
Die Erfahrung der Versorgungsschwierigkeiten im Ersten Weltkrieg sowie die Kosten der einseitigen Milchwirtschaft bei rückläufigem Käseexport veranlassten die Behörden in der Zwischenkriegszeit, die Ausdehnung des Getreidebaus auf Kosten der Milchwirtschaft zu fördern, vorerst ohne grossen Erfolg. Erst die Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg erzwang vorübergehend einen Wandel und verdoppelte die Ackerfläche annähernd auf 350'000 ha. Nach dem Krieg sank diese aber rasch wieder auf 250'000 ha, um erst in den 1980er Jahren unter dem Druck der Milchkontingentierung (seit 1977) wieder 300'000 ha zu überschreiten. Weiterhin kamen drei Viertel des Ertrags aus der Tierproduktion, wobei allerdings die Mast allmählich der Milch den Rang ablief; so übertrafen zeitweise sowohl der Rindvieh- wie auch der Schweinebestand die 2-Mio.-Grenze (Rindvieh: 1866 993'000, 1926 1'587'000; Schweine: 1866 304'000, 1926 876'000).
Herausragende Merkmale der Nachkriegszeit sind der rapide Strukturwandel sowie die enorme Steigerung der Erträge und der Produktivität (Letztere wuchs rascher als in der Industrie), welche einer neuen Agrarrevolution gleichkommen. Diese beruht vor allem auf Zuchterfolgen, einer raschen Motorisierung (1992 erreichte die Zahl der Traktoren diejenige der ständig Beschäftigten) sowie auf einem stark wachsenden Einsatz von Kunstdünger und Pflanzenschutzmitteln. Eine Umorientierung der Landwirtschaft hin zu einer stärkeren Marktorientierung und vermehrter Berücksichtigung ökologischer Ziele hat in den 1990er Jahren sowohl in der landwirtschaftlichen Praxis als auch in der Agrarpolitik eingesetzt.
Produktionsstruktur in der Landwirtschaft 1885-1998a
um 1885
1911
1931-40
1951-60
1971-80
1986-90
1995-98
Getreidebau
7,2
2,6
5,0
6,8
4,9
4,9
8,9
Kartoffelbau
4,5
3,7
3,1
3,1
1,9
1,8
2,4
Weinbau
9,1
3,3
3,4
3,7
5,3
7,3
6,7
Obstbau
9,1
8,1
6,7
5,3
4,8
3,8
4,2
Gemüsebau
4,8
7,4
5,1
5,0
3,0
3,4
5,3
übrige pflanzl. Produktionszweige
1,2
0,9
0,7
1,3
2,1
2,8
3,6
Total Pflanzenbau
35,9
26,0
24,1
25,2
22,1
24,0
31,1
Milch/Molkerei
32,5
38,5
35,6
34,6
31,7
33,3
35,7
Rindviehmast
17,7
18,2
18,3
17,4
20,7
19,3
12,9
Schweine
7,0
10,9
12,5
15,3
19,5
16,9
13,9
übrige tier. Produktionszweige
7,0
6,5
9,6
7,4
6,0
6,5
6,5
Total Tierproduktion
64,2
74,1
75,9
74,8
77,9
76,0
69,0
a Abweichungen von 100% ergeben sich durch gerundete Werte.
Produktionsstruktur in der Landwirtschaft 1885-1998 - Schätzungen und Berechnungen des Schweizerischen Bauernverbandes
W. Abel, Gesch. der dt. Landwirtschaft vom frühen MA bis zum 19. Jh., 31978
N. Morard, «L'élevage dans les Préalpes fribourgeoises», in L'élevage et la vie pastorale dans les montagnes de l'Europe au moyen âge et à l'époque moderne, 1984, 15-26
N. Morard, «L'assolement triennal à Fribourg aux 14e et 15e siècles», in Paysages découverts 1, 1989, 135-152
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