Getreide ist ein Überbegriff für mehrere Kulturpflanzen, die zur Familie der Süssgräser gehören. Im Fruchtbaren Halbmond in Vorderasien wurde Wildgetreide bereits vor 13'000 v.Chr. geerntet, ab ca. 9000 v.Chr. angebaut und ab ca. 7600 v.Chr. domestiziert.
Von den Anfängen bis zum 18. Jahrhundert
Urgeschichte bis Frühmittelalter
Das Neolithikum, die Epoche des Übergangs von der Jagd- und Sammelwirtschaft zum Ackerbau und zur Viehhaltung, setzte im Gebiet der heutigen Schweiz wesentlich später ein als im Vorderen Orient. Die ältesten Nachweise des Getreidebaus (verkohlte Getreidekörner) stammen aus Bellinzona und dem Rhonetal und datieren aus dem 6. Jahrtausend v.Chr.; spätestens um 5000 v.Chr. wurde im Mittelland Getreide angepflanzt. Der Übergang von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaftsweise ermöglichte eine erhebliche Bevölkerungszunahme. Die Archäobotanik weist für diese Epoche Gerste, Einkorn, Emmer und Nacktweizen (Weizen) nach. In der Bronzezeit (2200-800 v.Chr.) sind Hirse und Dinkel bezeugt, in der Eisenzeit (800 v.Chr. bis zur Zeitenwende) zudem Roggen und Hafer. Seit der Bronzezeit benutzte man Hakenpflüge mit vorgespannten Zugtieren (Pflug). In der späten Eisenzeit kam der Beetpflug auf, der die Erde einseitig aufhäuft; man begann auch, die Pflugschar aus Eisen herzustellen. In der römischen Epoche wurde zwar der Rebbau eingeführt, am Getreidebau aber wenig verändert. Die landwirtschaftliche Produktionseinheit war die villa. Dieser Ausdruck wird in der Regel mit dem Wort Gutshof (Römischer Gutshof) übersetzt, ein Begriff, der nicht sehr genau ist, denn die Bandbreite der archäologisch nachgewiesenen villae reicht von grossflächigen Anlagen, die mit abhängiger Arbeit bewirtschaftet wurden, bis zu kleinen Höfen und Familienbetrieben. Umstritten ist, inwieweit die Getreideproduktion in der römischen Zeit «exportorientiert» war (Verkäufe zum Beispiel an die Armee) bzw. inwieweit sie der Selbstversorgung diente.
Mit dem allmählichen Zerfall des weströmischen Reiches dürfte ein markanter Rückgang der Bevölkerung und damit auch des Getreidebaus verbunden gewesen sein. Burgunder und Alemannen, die kurz vor der Mitte des 5. bzw. im 7. Jahrhundert das Gebiet der heutigen Schweiz besiedelten, nutzten alle verfügbaren Getreidearten: Gerste, Nacktweizen, Dinkel, Hafer, aber auch Einkorn, Roggen und Hirse. Neuere Forschungen lassen vermuten, dass sich viele ländliche Siedlungen aus früheren villae entwickelten. Über die Organisation der Getreideproduktion im Frühmittelalter wissen wir mangels Quellen nur sehr wenig. Für das 8. Jahrhundert ist die sogenannte zweigeteilte Grundherrschaft nachgewiesen: Zu den Fron- oder Salhöfen (curtis) gehörten jeweils mehrere Huben, die von abhängigen Bauern bewirtschaftet wurden.
Seit dem 7. Jahrhundert dürfte die Produktion langsam wieder angestiegen sein. Das übliche Bodennutzungssystem in der nachrömischen Zeit war die Feldgraswirtschaft, bei der Land umgebrochen und mehrere Jahre hintereinander mit Getreide bepflanzt, dann wieder dem Graswuchs überlassen wurde. Die verbreiteten Getreidearten waren Gerste, Dinkel und Roggen in den höheren Lagen, Saatweizen, Dinkel und Hafer in den tieferen.
Getreidebau im Mittelland
Die starke Bevölkerungszunahme nach der Jahrtausendwende bewirkte eine Änderung der Anbaumethode. Die Dreifelderwirtschaft (um 800 erstmals urkundlich erwähnt) erlangte während des Hochmittelalters allgemeine Verbreitung, weil sie die Erträge des Kornbaus um ca. 50% steigerte. Beim Dreifelderbau handelte es sich um eine dreijährige Fruchtfolge, bei der im ersten Jahr ein Wintergetreide, im zweiten Jahr eine Sommerfrucht geerntet wurde; im dritten Jahr lag der Acker brach, um sich ― auch durch den Dünger der weidenden Tiere ― zu regenerieren (Brache). Als Winterfrucht wurde in der Deutschschweiz hauptsächlich Dinkel gesät, in der Westschweiz der hochwertigere, aber empfindlichere Weizen. Hafer und in der frühen Neuzeit vielerorts Roggen waren die verbreitetsten Sommerfrüchte.
Der dreijährige Fruchtwechsel wurde zunächst von einzelnen Bauern angewendet (Dreifelderwirtschaft im engeren Sinne), bald aber bürgerte sich das System der kollektiven Rotation ein, bei welcher die Bauern eines ganzen Dorfes die Ackerflur in drei Zelgen einteilten und auf derselben Zelge die gleiche Getreideart anbauten (Dreizelgenwirtschaft, Zelgensysteme). Dies brauchte wenig Zäune und Hecken, was platz- und holzsparend war; die Herde des ganzen Dorfes konnte gemeinsam gehütet werden; zudem ging kein wertvolles Kulturland für Wege verloren. Zur Dreizelgenordnung gehörte das Recht aller Dorfgenossen, ihr Vieh nach den Ernten und im Brachjahr ohne Rücksicht auf die Besitzverhältnisse auf der ganzen Zelge weiden zu lassen (Gemeinweide). Der Dorfplan von Kaiseraugst im Fricktal, den der österreichische Oberamtmann um 1772 erstellen liess, vermittelt ein besonders klares Bild einer Dreizelgenflur.
Im Mittelland blieb der Grossteil des Getreidebaus bis ins 19. Jahrhundert im Dreizelgensystem organisiert (Agrarzonen). Die Solidarität der Dorfgemeinschaft und das Abgabensystem verliehen ihr eine grosse Stabilität, weil ein einzelner Dorfgenosse nur mit grosser Mühe ausscheren konnte und weil die Abgaben in aller Regel in hergebrachten Getreidesorten zu entrichten waren. Die Grundherrschaft forderte den Grundzins ein, der aus einem festen Quantum von Korn (Dinkel, Saatweizen) und Weichgetreide (Hafer, Ackerbohnen, Gerste usw.) bestand; die geistliche Herrschaft erhob den Zehnten, ein je nach Ernteertrag schwankendes Quantum von Brot- und/oder Weichgetreide. Wegen der Festlegung dieser Abgaben kam es nur selten und unter aussergewöhnlichen Umständen zu einer Veränderung im Kanon der angebauten Ackerfrüchte. Vom Spätmittelalter an begannen die städtischen Obrigkeiten, Getreideproduktion und -markt in ihrem Untertanengebiet zu regeln: Ihre Sorge galt der ausreichenden Versorgung der städtischen Bevölkerung (Kornpolitik).
Die Ackergeräte veränderten sich über die Jahrhunderte nur wenig: Generell wurden Pflüge mit Streichbrettern verwendet, welche die Scholle kehrten; die Zugtiere, gewöhnlich vier Ochsen, zogen im Joch, die Ernte geschah meist mit der Sichel. In den Randzonen des Kornlandes und in den Alpen wurde der Boden häufig mit der Hacke bearbeitet. Zwischen 1600 und 1700 kamen zuerst in den Grenzzonen zwischen Mittelland und Voralpen «Einschläge» auf, d.h. eingefriedete Parzellen, die aus der Zelgenrotation herausgenommen wurden und in denen kein Anbauzwang mehr galt (Einschlagsbewegung). In den Einschlägen produzierten die Besitzer, je nach Gegend und Agrarkonjunktur, entweder Getreide und Heu in Wechselwirtschaft oder ausschliesslich Heu, im 18. Jahrhundert auch Kartoffeln; Heuvorräte und Stallhaltung des Viehs erlaubten die Erhöhung des Rindviehbestandes und damit bessere Düngung sowie Steigerung der Zugleistung vor dem Pflug. Wo die Bauern vom Getreidebau abrückten, mussten sie sich von den Naturalabgaben mit Geldbeträgen loskaufen oder Zinse und Zehnten aus den Erträgen ihrer nicht eingeschlagenen Äcker liefern.
Die Dreizelgenwirtschaft wurde in der agrarhistorischen Diskussion bis vor kurzem hart kritisiert und als Korsett bezeichnet, das die Entwicklung des Ackerbaus gehemmt habe. Dieses Nutzungssystem war aber weniger starr, als vielfach angenommen wird; es bot mancherlei Nischen, welche die dörfliche Unterschicht ausnützen konnte, um ihr Leben zu fristen. Wer Haus und Garten besass, Anteil an der Wald- und Weidenutzung hatte und ausserdem am gemeinen Weidgang teilnehmen durfte, konnte sich auch mit einem kleinen Anteil am Zelgenland behelfen. Das Zelgensystem bot also zusammen mit den Allmendrechten die Existenzsicherung für eine kleinbäuerliche Schicht, deren Angehörige als Tauner bezeichnet wurden; sie hätten ohne diese Möglichkeiten der «Nischenlandwirtschaft» auswandern müssen. Ausserdem war die Dreizelgenordnung elastisch und ermöglichte Intensivierungen des Anbaus in den Gärten, in den für Textilpflanzen reservierten Bünten und in den Einschlägen.
Getreide wurde aber auch ausserhalb des eigentlichen Dreizelgengebiets produziert: Die Einzelhöfe in den höheren Lagen des Mittellandes betrieben einen extensiveren Getreidebau, der in den Schriften der Agrarreformer des 18. Jahrhunderts als vorbildlich galt, weil er keinem Flurzwang unterstellt war und wegen der grösseren Viehbestände der Einzelhofbauern eine bessere Düngung erfuhr. Der bedeutende Getreidebau der Einzelhöfe zeigt, dass im Mittelland auch dort Getreide erzeugt wurde, wo der Zwang der dörflichen Genossenschaft fehlte: Getreide war in dieser Landesgegend Hauptbestandteil der Ernährung (Brot und Brei); erst mit dem Aufkommen der Kartoffel gab es eine Alternative dazu. Im nord- und voralpinen Raum hingegen, wo die Viehwirtschaft vom Spätmittelalter an den Getreidebau immer mehr verdrängt hatte, spielten die Milchprodukte eine grössere Rolle.
Getreidebau im Alpenraum und in der Südschweiz
Anders als am Alpennordabhang säten die Bauern des inneren Alpengürtels und der Südschweiz bis ins 20. Jahrhundert in bedeutendem Ausmass Getreide an. Terrassen, Getreidespeicher (Walliser Stadel, die torbe im Tessin) und Kornhisten (Holzgestelle zur Nachreife des Korns) zeugen davon. Allerdings dürften in der frühen Neuzeit das Wallis, nicht aber Graubünden und das Tessin genügend Getreide zur Selbstversorgung erzeugt haben; diese beiden Kantone mussten Getreide importieren. Es scheint, dass der Getreidebau bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts umfangmässig konstant blieb; ein Rückgang lässt sich anhand der Quellen nicht belegen.
Die wichtigsten Getreidearten in Graubünden waren Gerste und Roggen. In Nordbünden (Surselva, Prättigau) wurde das Getreide vorwiegend auf Wechselland angebaut, das einige Jahre Früchte trug und danach wieder als Heuwiese diente. Diese Form des Getreidebaus erwies sich in niederschlagsreichen Gebieten als vorteilhaft. In Südbünden herrschte der Dauerfeldbau ohne Brache vor, bei welchem die gleichen Böden Jahr für Jahr mit Getreide angesät wurden. In Mittelbünden kombinierte man beide Systeme: In Dorfnähe baute man auf fest ausgeschiedenen Äckern an, in grösserer Entfernung vom Dorf auf Wechselwiesen, sodass eine Art Innenfeld-Aussenfeldwirtschaft entstand.
Im Tessin wurde ebenfalls in allen Regionen Getreide angepflanzt, selbst in den alpinen Tälern bis auf eine Höhe von ca. 1000-1200 m, obwohl dort die Viehwirtschaft Hauptzweig der Landwirtschaft war. Im Hügelgebiet (Bellinzonese, Locarnese und Luganese) und im Flachland (v.a. Mendrisiotto) erzeugte man hauptsächlich Weizen, Roggen und vom 17. Jahrhundert an Mais. Bis auf ca. 800 m war ein zweijähriges Fruchtfolgesystem verbreitet: Auf Sommergetreide im ersten Jahr folgten im zweiten Jahr Wintergetreide und im gleichen Jahr als Nachfrucht ein zweites Mal Sommergetreide. Im Mendrisiotto gehörten eine bestimmte Maisart (quarantino), Buchweizen, Kolbenhirse und Hirse zu den Sommerfrüchten. Dieses intensive Feldsystem lieferte mehr Getreideernten als die Dreizelgenwirtschaft nördlich der Alpen: In sechs Jahren fielen im Südtessiner System neun, beim mittelländischen nur vier Ernten an. Am Rande und teilweise über den Getreideäckern wurden nach Art der mediterranen Mischkulturen (coltura mista oder coltura promiscua) Reben und Maulbeerbäume gezogen. Obwohl die einzelnen Ernteerträge gering waren, gibt es keinen Grund, diesem System mehr Rückständigkeit zuzuschreiben als der Getreidewirtschaft des Mittellandes.
Im unteren und mittleren Wallis war der Getreidebau nicht nur in der Talsohle, sondern auch in den Seitentälern sehr verbreitet. Im Spätmittelalter dominierte der Roggen; Gerste, Hafer und Weizen baute man nur wenig an. Das Getreide wurde auf fest ausgeschiedenen Parzellen angesät, aber anders als in Graubünden und im Tessin liess man die Äcker periodisch brachliegen. Die Quellen liefern Anzeichen dafür, dass schon im 13. Jahrhundert eine Zweifelderwirtschaft praktiziert wurde, bei der auf ein Getreide- ein Brachjahr folgte. Dieses System war vor allem dort verbreitet, wo die Bauern auch Weinbau betrieben; sie setzten fast allen Dünger für die Reben ein, weshalb sie die Äcker nur extensiv bewirtschaften konnten.
19. und 20. Jahrhundert
Rückgang des Getreidebaus nach 1850
Um 1800 machte das Ackerland im Gebiet der heutigen Schweiz ca. 600'000 ha aus, um 1850 zählte man ca. 580'000 ha, gut die Hälfte diente dem Getreidebau. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der Übergang von der traditionellen zur verbesserten Dreizelgenwirtschaft das Brachland auf höchstens 5% der Ackerfläche reduziert; da auf der neu gewonnenen Fläche aber vor allem Kartoffeln und Klee, selten auch Hafer angebaut wurden, hatte dieser Übergang nur wenig Einfluss auf die Getreidefläche. Der Anteil des Weizens wuchs bis zur Jahrhundertmitte im Westen auf Kosten des Roggens, im Norden und Osten auf Kosten des Dinkels. Gerste und Hafer verloren mit dem Rückgang der Breinahrung (an deren Stelle Kartoffeln, Gemüse, Brot, Milchkaffee traten) an Bedeutung, die Hirse wurde nur noch im Tessin in grösserem Umfang angebaut, Mais gab es ebenfalls im Tessin und im Rheintal. Die Zunahme des Hofdüngers als Folge der Agrarrevolution steigerte die Erträge langsam; sie lagen ― bei beträchtlichen jährlichen Schwankungen ― im 19. Jahrhundert über dem europäischen Durchschnitt, aber unter den Spitzenwerten Englands und der Niederlande.
Zwei Drittel des Ertrags dienten der menschlichen Ernährung. Stefano Franscini schätzte den Selbstversorgungsgrad der Schweiz 1848 auf 80%, korrigierte die Zahl aber später auf 59%.
Weizenerträge (in q/ha)a
Jahr | Schweiz | Europab |
---|---|---|
1800 | 11,0 | 8,6 |
1850 | 13,0 | 9,4 |
1910 | 21,2 | 12,6 |
1936 | 24,0 | 14,2 |
1985 | 53,7 | 43,6 |
a Fünfjahresschnitt
b ohne Russland
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte der Rückgang des Getreidebaus ein. Die in ganz Europa sinkenden Getreidepreise machten auch in der Schweiz den Getreidebau immer unrentabler. Bereits ab 1830 hatte sich die Preisrelation zwischen Getreide und tierischen Produkten zuungunsten des Ersteren verändert. Von den 1860er Jahren an beschleunigte der schwindende Entfernungsschutz (Dampfschiffe, Eisenbahn) die Entwicklung. Betrug das Preisverhältnis zwischen 1 kg Milch und 1 kg Getreide 1870 noch 1:3, so sank es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf 1:1,2. Entsprechend ging der Getreidebau zurück. Die Anbaufläche sank von 300'000 ha in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf 105'000 ha 1914. Die natürlichen Bedingungen begünstigten in der Schweiz die Verlagerung auf Vieh- und Milchproduktion, für welche bei der wachsenden Inlandbevölkerung wie im Ausland (Käse, Kondensmilch, Schokolade) Absatzmöglichkeiten bestanden. Am radikalsten war die Umstellung im niederschlagsreichen Voralpengebiet, wo der Ackerbau ganz aufgegeben wurde. Eine gewisse Bedeutung behielt der Getreidebau vor allem in den nördlichen, niederschlagsarmen Landesteilen im Rahmen der «verbesserten Dreifelderwirtschaft», im westlichen Mittelland sowie in Graubünden und im Wallis.
Zwar baute immer noch mehr als die Hälfte der Bauern in der Schweiz Getreide an, aber fast nur noch für den Eigenbedarf im Haushalt und für das Vieh, für das man auch das Stroh brauchte. So kehrten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Beziehungen um: Hatte ursprünglich die Viehhaltung dem Getreidebau gedient, so diente jetzt der Getreidebau der Vieh- und Milchproduktion (Futtermittel). 1911 machte er nur noch 2,6% des Rohertrags der schweizerischen Landwirtschaft aus. Der Getreidebedarf der Bevölkerung wurde 1880 noch zu 43% durch die einheimische Produktion gedeckt (Schätzung Friedrich Gottlieb Stebler), in den 1890er Jahren zu 21%, vor dem Ersten Weltkrieg nur noch zu 15% (Schätzung Ernst Laur). Der geringe Selbstversorgungsgrad löste damals die Diskussion um die wirtschaftliche Landesversorgung aus. 1917 hielten die einzelnen Getreidearten folgende Anteile an der gesamten Getreideanbaufläche: Weizen 35%, Hafer 24%, Roggen 17%, Dinkel 15%, Gerste 7% und Mais 2%.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden technische Fortschritte erzielt, die zu einer beträchtlichen Ertragssteigerung führten: Dazu gehörten die Verbesserung des Saatgutes (Pflanzenzüchtung), dem sich die landwirtschaftlichen Vereine und ab 1916 die Saatzuchtgenossenschaften widmeten, ein leistungsfähigerer Wendepflug (Selbsthalterpflug) und ein vorerst bescheidener Kunstdüngereinsatz. Bei einer durchschnittlichen Anbaufläche von weniger als 1 ha pro Getreidepflanzer spielte die Mechanisierung eine geringe Rolle. Zwar hatte nach der Jahrhundertmitte der Einsatz der Sense anstelle der Sichel die Erntearbeit beschleunigt. Aber nur eine kleine Minderheit verwendete schon im 19. Jahrhundert Sämaschinen; gut ein Drittel der Betriebe, vor allem in der Westschweiz, drosch 1905 maschinell. So blieb der Getreidebau im Ganzen arbeitsintensiver als die Viehwirtschaft, ein weiteres Motiv, ihn angesichts von Arbeitskräftemangel und steigenden Löhnen einzuschränken oder ganz aufzugeben.
Ausdehnung des Getreidebaus in den Weltkriegen
Aufgrund der Versorgungsengpässe im Ersten Weltkrieg begann der Bund die Agrarproduktion mit gesetzlichen Vorschriften und finanziellen Anreizen zu steuern. Als 1917 die Getreideimporte auf die Hälfte sanken, wurde nicht nur eine erste Anbauerhebung durchgeführt, sondern auch der Zwangsanbau verordnet (bis 1919). Gleichzeitig wurden durch Preisgarantie und Übernahmepflicht des Bundes Anreize für den Getreidebau geschaffen; ab 1925 richtete man zudem eine Mahlprämie für Getreide zur Selbstversorgung aus. Diese Instrumente blieben auch nach der Abschaffung des im Krieg eingeführten Getreidemonopols in der Getreideordnung von 1929 erhalten. Sie verhinderten allerdings nicht, dass der Getreidebau in den 1920er Jahren erneut stark zurückging und trotz aller Appelle zur Entlastung des überquellenden Milch- und Fleischmarktes in den 1930er Jahren nur langsam wieder an Boden gewann. Besonders der Futter-Getreidebau war der ausländischen Konkurrenz nicht gewachsen.
Erst die 1939 und 1940 ausgerichteten Anbauprämien und die kriegsbedingte Verknappung und Verteuerung führten auch hier zu einer Trendwende; während des Zweiten Weltkriegs nahm die Futtergetreidefläche viel stärker zu als die Brotgetreidefläche, zumal der Bedarf an Hafer für die stark beanspruchten Pferde und an Gerste für den übrigen Tierbestand gross war. Der wesentlich besser als im Ersten Weltkrieg organisierte Zwangsanbau im Rahmen des Wahlen-Plans vermochte die Getreidefläche wieder auf den Stand des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu heben. Auf dem Höhepunkt der Anbauschlacht hatte sich sowohl die gesamte Getreidefläche als so auch jene für das Brotgetreide gegenüber dem Tiefstand vor dem Ersten Weltkrieg verdoppelt. In der Nachkriegszeit nahm die Fläche wieder ab, sank aber nie mehr auf das tiefe Niveau der Vorkriegszeit. Bis in die 1960er Jahre dominierte der Brot-Getreidebau, dann dehnte sich, gefördert durch Flächenanbauprämien, der Futter-Getreidebau (primär Mais) aus, zunächst auf Kosten des Brotgetreides. In den 1980er Jahren bewirkte der wachsende Futter-Getreidebau sogar wieder eine Zunahme der gesamten Getreidefläche, die sich um 1990 je zur Hälfte auf Futter- und Brotgetreide verteilte.
Getreideanbaufläche (in ha) 1850-2000
Jahr | Getreide (Total) | davon Brotgetreide | davon Futtergetreide |
---|---|---|---|
1850 | ca. 300 000 | ||
1914 | 105 000 | 71 000 | 34 000 |
1918 | 159 000 | 116 000 | 43 000 |
1930 | 121 000 | 93 000 | 28 000 |
1939 | 137 000 | 115 000 | 22 000 |
1944 | 219 000 | 143 000 | 76 000 |
1950 | 165 000 | 122 000 | 43 000 |
1965 | 174 000 | 126 000 | 48 000 |
1980 | 177 000 | 99 000 | 78 000 |
1990 | 212 000 | 103 000 | 109 000 |
2000 | 182 000 | 99 000 | 83 000 |
Motorisierung und Ertragssteigerung in der Nachkriegszeit
Der Strukturwandel im Agrarsektor liess die Anzahl der Getreidepflanzer im 20. Jahrhundert ― ausser in der Zeit der beiden Weltkriege ― kontinuierlich zurückgehen: absolut von 182'000 bei der ersten, von der Kriegswirtschaft noch wenig beeinflussten Zählung 1917 auf 48'000 1980, aber auch relativ von rund 60% der Betriebe zu Beginn auf rund 40% am Ende des Jahrhunderts. Im gleichen Zeitraum versechsfachte sich die von einem Pflanzer bebaute Fläche von durchschnittlich 0,6 auf 3,7 ha. Die Spezialisierung in der Produktion war auch eine Folge der Mechanisierung und Motorisierung des Getreidebaus, die sich nur für grössere Bauernbetriebe lohnten. Vom Zweiten Weltkrieg an wurden alle Arbeitsgänge von der Bodenbearbeitung bis zur Ernte motorisiert und die Arbeitsproduktivität im Getreidebau gewaltig gesteigert. Vor allem in den Berggebieten gab ein Grossteil der 1917 noch existierenden kleinbäuerlichen Getreidepflanzer den Getreidebau (oder die Landwirtschaft überhaupt) auf. Besonders ausgeprägt war dieser Wandel im Tessin, wo die Zahl der Pflanzer 1917-1980 um 94% zurückging, die bebaute Fläche aber gleich gross blieb, oder in den Kantonen Waadt und Zürich, wo rund ein Drittel der Pflanzer von 1917 sechs Jahrzehnte später eine etwa doppelt so grosse Fläche bebaute.
Ehedem aufs ganze Land verteilt, dann aus den Voralpen und nördlichen Alpen verdrängt, verlagerte sich der Getreidebau nun ins Mittelland. Angebaut wurde beim Brotgetreide vornehmlich und mit wachsendem Anteil Weizen, vor allem Winter-, zeitweise auch Sommerweizen. Der Weizenanteil beim vom Bund übernommenen Getreide stieg von unter 50% im Ersten Weltkrieg nach der Jahrhundertmitte auf über 80%, während der Anteil des Roggens von etwa 30 auf 10% sank und der Dinkel, der 1917 noch fast 20% ausgemacht hatte, praktisch verschwand; 1990 belegte der Weizen 94% der Brotgetreidefläche und machte 93% des abgelieferten Getreides aus. Beim Futtergetreide dominierte der Hafer, solange die Pferdehaltung bedeutend war. Von den 1960er Jahren an rückte mit dem Ausbau der Schweinehaltung die Gerste an die Spitze, die 1990 mehr als die Hälfte der Futtergetreidefläche ausmachte. Nach der Gerste gewann der Silomais immer mehr an Bedeutung; 1990 nahm er etwa ein Viertel der Fläche ein.
Durchschnittliche jährliche Getreideernte (in 1000 t)
Getreide (Total) | davon Brotgetreide | davon Futtergetreide | |
---|---|---|---|
1911-20 | 249 | 175 | 74 |
1931-40 | 271 | 230 | 41 |
1951-60 | 499 | 356 | 143 |
1971-80 | 786 | 431 | 355 |
1991-93 | 1 236 | 595 | 641 |
Die gesamte Getreideernte der Schweiz verdoppelte sich von den 1910er bis in die 1950er Jahre, verdreifachte sich bis in die 1970er Jahre und erreichte in den 1990er Jahren das Fünffache der Anfang des Jahrhunderts erzielten Menge. Diese Steigerung beruhte zu einem geringeren Teil auf der Erweiterung der Anbaufläche, zum grösseren Teil auf höheren Flächenerträgen. Diese wiederum waren einerseits die Folge der Verlagerung von ertragsschwächeren Getreidearten wie Sommerroggen, Brotgetreidemischel und Hafer zu ertragsstärkeren wie Wintergerste und Körnermais, andererseits das Ergebnis technisch-wissenschaflicher Fortschritte in der Züchtung, in der Bodenbearbeitung und Ernte sowie des enorm gesteigerten Einsatzes von Hilfsmitteln der Agrochemie (mineralische Dünger, Unkraut-, Krankheits- und Schädlingsbekämpfungsmittel); vom Ende der 1980er Jahre an war der Dünger- und Chemikalieneinsatz allerdings leicht rückläufig. Bei den Ertragssteigerungen lag die Schweiz, wie schon im 19. Jahrhundert, über dem europäischen Durchschnitt, aber nicht an der Spitze.
Die Ausdehnung der Fläche und die steigenden Erträge erhöhten den Selbstversorgungsgrad des Landes trotz wachsender Bevölkerung kontinuierlich. Um 1930 machte er gemäss der eidgenössischen Getreideverwaltung 25% aus, im Zweiten Weltkrieg stieg er auf über 50%, dann sank er vorübergehend etwas ab. Die Ertragssteigerungen der Nachkriegszeit führten dazu, dass in den 1980er Jahren die Inlanderzeugung den Verbrauch überschritt; die schweizerische Landwirtschaft produzierte erstmals in der Geschichte Brotgetreideüberschüsse. Wenn die Getreideeinfuhr dennoch bis in die 1970er Jahre angestiegen war, dann wegen der Futtermittelimporte für den stark vermehrten Viehbestand, vor allem für die Schweine. Die gesamte Einfuhr war vor dem Ersten Weltkrieg allmählich auf über 800'000 t pro Jahr gestiegen, eine Grösse, die nach dem Einbruch von 1917-1918 auch in der Zwischenkriegszeit bald wieder erreicht wurde. In den 1950er Jahren lag die Getreideeinfuhr durchschnittlich bei 790'000 t pro Jahr, bis in die 1970er Jahre stieg sie auf 1,31 Mio. Tonnen. Im folgenden Jahrzehnt gingen die Importe stark zurück, Anfang der 1990er Jahre lagen sie bei 400'000 t pro Jahr. Die Inlanderzeugung von Brotgetreide deckte den inländischen Bedarf. Zur Ergänzung des Sortiments wurde aber weiterhin Brotgetreide eingeführt; die überschüssige Inlandproduktion wurde verfüttert. Auch beim Futtergetreide erhöhte sich ― bei sinkender Kraftfutterverwendung, sinkendem Tierbestand und steigender Eigenproduktion ― der Selbstversorgungsanteil von weniger als 40 auf 60%. Gesamthaft deckt der Getreidebau der Schweiz seit Ende der 1980er Jahre etwa zwei Drittel des inländischen Bedarfs.
Die grossen Steigerungen der Getreideernten änderten allerdings nichts daran, dass der Getreidebau in der schweizerischen Landwirtschaft eine der Viehwirtschaft untergeordnete Rolle spielte und, da ein grosser Teil der Ernte der Deckung des Eigenbedarfs an Brot- und Futtergetreide diente, auch am Ende des 20. Jahrhunderts nur ca. 5% des gesamten Endrohertrags ausmachte. Die Organisation der Getreideproduzenten setzte dementsprechend spät ein und blieb eher schwach. 1921 wurde der Schweizerische Saatzuchtverband (heute Saatgutproduzenten-Verband) gegründet, 1971 bildete sich die Vereinigung schweizerischer Maisproduzenten, erst 1987 entstand der Schweizerische Getreideproduzentenverband.
Quellen und Literatur
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- S. Huggel, Die Einschlagsbewegung in der Basler Landschaft, 2 Bde., 1979
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- S. Guzzi, Agricoltura e società nel Mendrisiotto del settecento, 1990
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