de fr it

Kunstfaserindustrie

Die heute als Chemiefaserindustrie bezeichnete Kunstfaserindustrie stellt alle Arten von künstlichen Fasern und Folien her. Obwohl die meisten Unternehmen auch Fasern für technische Anwendungen produzieren, gehört die Kunstfaserindustrie zur Textilindustrie.

Werbeplakat für Helanca, 1970 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Werbeplakat für Helanca, 1970 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Die Entwicklung von Kunstfasern geht auf eine Entdeckung des Chemikers Christian Friedrich Schönbein zurück, der 1846 in Basel Baumwolle mit Salpeter- und Schwefelsäure behandelte und die sogenannte Schiessbaumwolle gewann, aus der Fäden gezogen werden konnten. 1884 gelang es, die aus Zellulose gewonnenen Kunstfasern zu denitrieren und ihnen damit die Explosivität zu nehmen. 1890 konnte in Besançon die erste Kunstseidenfabrik in Betrieb genommen werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die vorwiegend aus Holz gewonnene Kunstseide zu einem bedeutenden Ausgangsstoff für die Textilindustrie. Vor allem die Viskose wies ähnliche Eigenschaften wie Baumwolle auf, war in der Herstellung günstiger als Naturfasern und leicht färbbar. Unter Zusatz von Naturseideabfällen erlangte die halbsynthetische Faser einen seidenartigen Glanz. Die steigende Nachfrage nach Textilfasern provozierte die Suche nach neuen Ausgangsstoffen für die Faserherstellung. In den späten 1930er Jahren patentierten die amerikanische Firma Du Pont (Nylon) und die deutsche IG Farben (Perlon, Grilon) unabhängig voneinander die ersten vollsynthetischen Textilfasern auf Erdöl- bzw. Kohlebasis. Sie liessen sich in bisher unbekannter Feinheit herstellen. Erste Anwendung fanden sie in den ab 1940 hergestellten Nylonstrümpfen.

Obwohl die ersten Erfindungen zur Herstellung von Kunstfasern in der Schweiz gemacht wurden, setzte sich die Kunstfaserindustrie hier nur langsam durch. Die ersten Unternehmen mussten ihren Betrieb nach kurzer Zeit wieder einstellen. 1905 gelang es der französischen Société de la Viscose, in Emmenbrücke eine rentable Tochtergesellschaft zu gründen, die nach kurzer Zeit die Selbstständigkeit erlangte und Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch die wichtigste Produzentin von Kunstfasern war (Viscosuisse, heute SwissFlock). Die Schappeindustrie begann ab 1920 mit der Verarbeitung von Kunstseide. Vollsynthetische Kunstfasern, die im Vergleich zum Ausland in der Schweiz lange wenig gefragt waren, wurden 1949 bis Ende 1997 in Ems von der Fibron S.A. (damals Tochter der Ems-Chemie) hergestellt. Da die Kunstfaserherstellung kapitalintensiv ist, konzentrierte sie sich auf einige wenige Unternehmen. In ihrer Blütezeit um 1965 waren 6600 Personen in acht Betrieben beschäftigt. Diese stellten eine breite Palette von Spezialfasern her, die mit Erfolg exportiert wurden. Dagegen wurden Massenprodukte wie Nylon vorwiegend importiert.

Kunstfasern ermöglichten die günstigere Produktion von Textilien und trugen damit zum schnelleren Wandel der Mode bei. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die vollsynthetische Kunstfaser zu einem Symbol der Modernisierung. Nylonstrümpfe und -hemden zu tragen galt zwar als unmoralisch, doch war die Pflege dieser Kleidungsstücke anspruchsloser (schnelles Trocknen, kein Bügeln). Die sogenannte Vermassung der Mode wurde zum Schlagwort, das die Ambivalenz der neuen Fasern zum Ausdruck brachte. In den 1960er Jahren verloren die Kunstfasern ihre symbolische Kraft. Kleidungsstücke aus Helanca (patentierte Schutzmarke der Heberlein & Co. in Wattwil), einem gekräuselten Nylongarn, das die Elastizität synthetischer Fasern gewährleistete, ohne dass die Kleidungsstücke den sterilen Glanz der Nylonfäden aufwiesen, prägten die Mode der 1960er und 1970er Jahre. Neue technische Verfahren ermöglichten die Produktion von Mischgeweben, die trotz ihrer günstigen Preise den Naturfasern in Aussehen und Eigenschaften nahekommen.

Quellen und Literatur

  • W. Bodmer, Die Entwicklung der schweiz. Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige, 1960
  • A. Schlatter, Der Einfluss der Chemiefasern auf Entwicklung und Struktur der schweiz. Textilindustrie (inklusive Wirkerei und Strickereiindustrie), 1969
  • W. Meyer-Larsen, Chemiefasern, 1972
Weblinks

Zitiervorschlag

Niklaus Stettler: "Kunstfaserindustrie", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.09.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013969/2008-09-04/, konsultiert am 25.03.2025.