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Dienstleistungssektor

Tertiärsektor

Die Vorstellung von einem eigenständigen Dienstleistungssektor setzte sich, nach Ansätzen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Drei-Sektoren-Modell der Wirtschaft durch: Der 1. Sektor umfasst die primäre Produktion (v.a. die Landwirtschaft), der 2. die Herstellung materieller Güter durch das Handwerk und im Industriesektor und der 3. die Dienstleistungen. Die eidgenössische Volkszählung hat dieses Konzept 1970 übernommen. In der Allgemeinen Systematik der Wirtschaftszweige (Noga), die auf institutionellen Kriterien basiert und mit Hilfe von Buchstaben kategorisiert ist, bildet der Dienstleistungssektor eine Residualgrösse. Sie vereinigt Aktivitäten, die nicht auf die Erzeugung materieller Güter ausgerichtet sind. Dazu gehören die Erwerbsgruppen (G) Handel und Reparatur von Motorfahrzeugen, (H) Verkehr und Lagerei, (I) Beherbergung und Gastgewerbe, (J) Information und Kommunikation, (K) Finanz- und Versicherungsdienstleistungen (Banken, Versicherungen), (L) Grundstücks- und Wohnungswesen, (M) freiberufliche, wissenschaftliche und technische Dienstleistungen, (N) sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen, (O) öffentliche Verwaltung, (P) Erziehung und Unterricht, (Q) Gesundheits- und Sozialwesen, (R) Kunst, Unterhaltung und Erholung, (S) sonstige Dienstleistungen, (T) Haushalte, (U) Exterritoriale Organisationen und Körperschaften. Als zentrale Eigenschaften von Dienstleistungen wurden lange ihre Immaterialität, die zeitliche und räumliche Koppelung von Produktion und Verbrauch sowie die geringe Möglichkeit zur Substitution von Arbeitskräften durch moderne Technologien angesehen. Angesichts des erheblichen Potentials zur Rationalisierung (z.B. bei Finanzdienstleistungen) und zur Produktion auf Vorrat (so in der Software-Entwicklung) sind Teile dieser Definition bereits veraltet.

Die Einteilung der Wirtschaft in drei Sektoren steht meist in Zusammenhang mit Theorien über einen langfristigen sektoralen Strukturwandel. Demnach bewirkte das Wirtschaftswachstum in den industrialisierten Ländern ab dem 19. Jahrhundert eine Gewichtsverlagerung vom 1. über den 2. auf den 3. Sektor. Seit den späten 1960er Jahren verbreiteten sich zudem Vorstellungen von einer postindustriellen bzw. Dienstleistungsgesellschaft.

Die Zuteilung eines Unternehmens zu einem Sektor erfolgt in der Statistik pragmatisch nach dem Schwerpunkt seiner Tätigkeit, in der Regel gemessen an der Anzahl Beschäftigter. Schon leichte Verschiebungen in der Produktionsstruktur oder in deren Wahrnehmung können zu Umgruppierungen führen: So kamen in der Betriebszählung 1975 das Reparaturgewerbe sowie das Architektur- und Ingenieurwesen neu zum Dienstleistungssektor. Auch betriebswirtschaftliche Paradigmenwechsel blieben nicht ohne Einfluss. Die Auslagerung zuvor intern erbrachter Dienstleistungen wie Informatik, Werbung, Reinigung usw. durch Industrieunternehmen führte statistisch zu einer Gewichtsverlagerung vom sekundären zum tertiären Sektor. Zu dessen Wachstum trug überdies die Professionalisierung einst unentgeltlicher Tätigkeiten zum Beispiel im Sozialbereich oder in der spitalexternen Pflege bei. Auch veränderte Verhaltensmuster der Haushalte können die Entwicklung des Dienstleistungssektors negativ (z.B. Transporte mit dem eigenen Auto) bzw. positiv (Kantinen- oder Restaurantmahlzeiten) beeinflussen. Weil der Dienstleistungssektor auch Vorleistungen für die industrielle Produktion erbringt, darf sein Wachstum nicht unbesehen mit einem gesteigerten Dienstleistungskonsum durch den Endverbraucher gleichgesetzt werden. Schliesslich fällt der Dienstleistungssektor erheblich grösser aus, wenn er nicht nach gängigen institutionellen Kriterien, sondern nach funktionalen erfasst wird, indem die Sektoren nach Berufsfunktionen abgegrenzt werden, etwa über die Einordnung von Chauffeuren, Ingenieuren, Büropersonal usw. in Betrieben des 2. Sektors als Dienstleistungserbringer.

Im 20. Jahrhundert war ein verhältnismässig kleinerer Teil der Schweizer Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor beschäftigt als in vergleichbar industrialisierten Staaten. Erst um 1990 wurde das OECD-Mittel überschritten. Im Inland liess der Dienstleistungssektor den primären Sektor zwischen 1900 und 1910, den sekundären 1971 hinter sich. Von diesen unterscheidet ihn nicht zuletzt der beachtliche, um 50% schwankende Frauenanteil. Er ergibt sich aus der grossen Anzahl weiblicher Erwerbstätiger etwa im Gastgewerbe, früher auch in der Hauswirtschaft und ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in Handel, Gesundheits- und Unterrichtswesen.

Die Schwierigkeiten, den Dienstleistungssektor von den übrigen Sektoren abzugrenzen, erschweren die Beurteilung seiner Bedeutung und die quantitative Erfassung der Dienstleistungserbringer vor 1970. Der Dienstleistungssektor umfasste eine sozial breite Gruppe, von Dienstbotinnen über das öffentliches Personal bis hin zu den tragenden Schichten des Bürgertums mit Ärzten und Advokaten oder den Entscheidungsträgern auf dem Geld- und Kapitalmarkt. Verschiedene Bereiche unterlagen einem grundlegenden Wandel, zum Beispiel mit dem weitgehenden Ersatz von für Gotteslohn arbeitenden Ordensfrauen durch bezahltes Fachpersonal in den Spitälern.

Anteil des Dienstleistungssektors am Total der Erwerbstätigen 1800-2000

JahrAnteil
18007,9%
185010,2%
188822,0%
191029,1%
193035,0%
195035,8%
197045,3%
198055,0%
199061,8%
200069,1%
Anteil des Dienstleistungssektors am Total der Erwerbstätigen 1800-2000 -  Eidgenössische Volkszählungen; Erwerbstätigenstatistik; Historische Statistik der Schweiz

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete die Hauswirtschaft, vor allem mit den Dienstbotinnen der Privathaushalte, den weitaus grössten Bereich des Dienstleistungssektors, stagnierte danach zahlenmässig und erlebte ab 1950 einen raschen Niedergang. Seit Ende des 19. Jahrhunderts steht der Handel – der erst seit kurzem überwiegend Frauen einsetzt – beschäftigungsmässig an der Spitze des Dienstleistungssektors, vor allem wegen des arbeitsintensiven Detailhandels. Stets einen beträchtlichen Anteil beanspruchten das Gastgewerbe und der Verkehr, zu dem man bis weit ins 20. Jahrhundert neben den Eisenbahnen und der privaten Fuhrhalterei auch die Post und die Telekommunikation zählte. Das Gesundheitswesen, die öffentliche Verwaltung sowie der Bereich Unterricht und Wissenschaft legten im 20. Jahrhundert klar zu. Andere, heute starke Erwerbsgruppen blieben lange von untergeordneter Bedeutung: Banken und Versicherungen machten vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigungsmässig bloss ein Vierzigstel des Dienstleistungssektors aus. Erst seit den 1960er Jahren erfolgte der steile Aufstieg auf rund einen Zehntel zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die etwa gleich grosse Gruppe Beratung, Planung, kommerzielle Dienste, Informatik wird in der Statistik erst seit 1980 ausgewiesen. Über erhebliches Gewicht im Dienstleistungssektor verfügt der öffentliche Dienst. Er ist allerdings in der Statistik nicht direkt ausgewiesen. Nur ein kleiner Teil seiner Leistungen wird unter der Erwerbsgruppe öffentliche Verwaltung abgebucht, während der grössere im Verkehrs-, Unterrichts- oder Gesundheitswesen sowie in Bereichen des 2. Sektors wie der Energie- und Wasserversorgung erfasst wird.

Als sich in den 1970er Jahren im 2. Sektor ein Ende des Wachstums, dann sogar ein Schrumpfungsprozess abzeichnete, hoffte man, dass der Dienstleistungssektor den Beschäftigungseinbruch problemlos auffangen könnte. Inzwischen zeigte sich aber auch hier ein erhebliches Rationalisierungspotential. In den frühen 1990er Jahren wiesen Gruppen wie der Gross- und Detailhandel, das Gastgewerbe, der Verkehr sowie die Banken und Versicherungen einen Rückgang an Beschäftigten auf. Auch wenn sich diese Tendenz in den folgenden Jahren zunächst aufrechterhielt, verzeichnete das Banken- und Versicherungswesen 2000 wieder einen Anstieg der Zahl der Angestellten.

Zum Anteil des Dienstleistungssektors an der Wertschöpfung gibt es nur – vor allem für die Zeit vor der Mitte des 20. Jahrhunderts sehr grobe – Schätzungen. Danach entsprach dieser Mitte 19. Jahrhundert einem Viertel, um die Jahrhundertwende einem Drittel, 1960 der Hälfte und 1990 etwas weniger als zwei Dritteln. Dienstleistungen werden auch für den Bereich der Aussenwirtschaft ausgewiesen. Ihr Exportwert stieg ständig und macht heute wertemässig rund ein Drittel der schweizerischen Exportindustrie aus. Im Gegensatz zum Aussenhandelssaldo der Exportindustrie fiel aber jener des Dienstleistungssektors in den letzten Jahrzehnten deutlich positiv aus. Bis Ende 2003 blieb der Tourismus wichtigste Bruttoeinnahmequelle, gefolgt von den Finanzdienstleistungen; danach wechselten diese Positionen. Analysiert man dabei die Nettoeinnahmen, nahm die Wichtigkeit des Tourimus nicht zuletzt wegen der vermehrten Auslandreisen ab.

Quellen und Literatur

  • H. Kleinewefers, Die schweiz. Volkswirtschaft, 1982, 662-665; 41993, 470
  • Dienstleistungen / Les services, hg. von H.-J. Gilomen et al., 2007
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Dienstleistungssektor", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.06.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/014035/2017-06-15/, konsultiert am 29.03.2024.