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Johann Jakob vonTschudi

25.7.1818 Glarus, 8.10.1889 Lichtenegg (Niederösterreich), reformiert, von Glarus. Forschungsreisender in Südamerika, Sammler, Zoologe, Ethnologe, Arzt, erster Schweizer Diplomat in Brasilien, später Diplomat in Österreich.

Undatiertes Porträt von Johann Jakob von Tschudi. Gerahmtes Aquarellbild, 22 x 18 cm, in Lederhülle, 65 x 37 cm (Museum des Landes Glarus, Näfels, Inv. 06226).
Undatiertes Porträt von Johann Jakob von Tschudi. Gerahmtes Aquarellbild, 22 x 18 cm, in Lederhülle, 65 x 37 cm (Museum des Landes Glarus, Näfels, Inv. 06226).

Johann Jakob von Tschudi war der Sohn des Johann Jakob von Tschudi, Kaufmanns und Ratsherrn, und der Anna Maria geborene Zwicky aus der gleichnamigen Glarner Häupterfamilie sowie der Bruder von Iwan, Friedrich und Anna Katherina von Tschudi, die 1835 Christoph Zollikofer heiratete. Von Tschudi studierte ab 1836 zunächst in Zürich unter anderem bei Heinrich Rudolf Schinz, ab 1837 dann in Neuenburg bei Louis Agassiz Naturwissenschaften sowie Medizin. Mit Alfred Escher war er eng befreundet. 1837 publizierte er über Echsen sowie 1838 über froschartige Tiere und doktorierte 1838 an der Universität Zürich. Im Auftrag des 1837 von Louis Coulon eröffneten Naturhistorischen Museums Neuenburg unternahm er 1838-1842 eine erste Südamerikareise nach Chile und Peru zur Erforschung der Tierwelt und zum Aufbau einer Sammlung (Museen). Unternehmerfamilien wie die Coulon aus Neuenburg und die de Grenus aus Genf unterstützten die Expedition finanziell. Nach der Rückkehr setzte von Tschudi seine Studien und Forschungen in Berlin, Würzburg (1844 Dr. med.) und Wien fort. Ab 1848 lebte er als Gutsbesitzer und Arzt auf dem Jakobshof in Niederösterreich. Er heiratete 1849 Ottilie Schnorr von Carolsfeld, die Tochter des Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld, Malers und Kustos der königlichen Gemäldegalerie im Schloss Belvedere in Wien, und der Karoline geborene von Jankwitz. Deren gemeinsamer Sohn war der Kunsthistoriker Hugo von Tschudi.

Frontispiz und Tafel XIII des zweiten Bands des 1851 in Wien publizierten Werks Antigüedades Peruanas von Mariano Eduardo de Rivero und Johann Jakob von Tschudi mit 58 ethnografischen und archäologischen Darstellungen, Lithografien von D. Leopold Müller (Biblioteca Virtual del Patrimonio Bibliográfico, Madrid, y Z 120).
Frontispiz und Tafel XIII des zweiten Bands des 1851 in Wien publizierten Werks Antigüedades Peruanas von Mariano Eduardo de Rivero und Johann Jakob von Tschudi mit 58 ethnografischen und archäologischen Darstellungen, Lithografien von D. Leopold Müller (Biblioteca Virtual del Patrimonio Bibliográfico, Madrid, y Z 120). […]

Von Tschudi entwickelte sich vom Zoologen und Sammler zum Anthropologen, Ethnologen, Kulturhistoriker, Jagdwissenschaftler und Sprachforscher und publizierte in all diesen Disziplinen. Die mehrbändigen Untersuchungen über die Fauna Peruana (1844-1846), die beiden Bände Peru. Reiseskizzen aus den Jahren 1838-1842 (1846, englische Übersetzung 1847), die mit Mariano Eduardo de Rivero verfassten zwei Bände Antigüedades Peruanas (1851, englische bzw. französische Übersetzung 1855 und 1859) sowie das zweibändige Werk Die Kechua-Sprache (1853) zählen zu den grundlegenden Werken der frühen Peruanistik. 1848 unterstützte von Tschudi die reaktionären aristokratischen Kreise in Wien und legitimierte deren Gewalt gegenüber den Revolutionären, die er in seiner anonym erschienenen Publikation Wiens Oktobertage (1849) als unzivilisiert und ungebildet bezeichnete. Von Tschudi bearbeitete auch das bekannteste deutsche Jagdhandbuch des 19. Jahrhunderts, das 1805-1820 erschienene Handbuch für Jäger, Jagdberechtigte und Jagdliebhaber von Georg Franz Dietrich aus dem Winckell, das er 1858-1865 neu herausgab (Jagd).

Seine zweite Südamerikareise führte ihn 1857-1858 nach Brasilien, Argentinien, über die Anden nach Chile, Bolivien und Peru. Auf seinen Expeditionen trug von Tschudi zahlreiche Objekte zusammen. Über 600 Gegenstände befanden sich 2024 im Naturhistorischen Museum Neuenburg, etwa 50 im Bernischen Historischen Museum. Dabei handelt es sich nicht nur um zoologische Exemplare, sondern auch um Kulturgüter und menschliche Überreste. Letztere verkaufte von Tschudi auch an wissenschaftliche Institutionen etwa in Deutschland. Eine als Ekeko bekannt gewordene Pukara-Figurine, die sich von Tschudi 1858 in Bolivien in der Nähe der für die Aymara heiligen Ruinenstätte Tiwanaku hinterhältig angeeignet hatte, ging 1929 in den Besitz des Bernischen Historischen Museums über.

Steinfigur aus der Pukara-Kultur Boliviens, ca. 2000 Jahre alt, Höhe 15,5 cm. Links: im Bernischen Historischen Museum, welches das Objekt 1929 von Johann Jakob von Tschudis Erben ankaufte; rechts: nach ihrer Restitution 2014 in den Händen des damaligen Präsidenten Boliviens, Evo Morales (Bernisches Historisches Museum, Christine Moor, E/1929.441.0145; KEYSTONE / AFP / Aizar Raldes, Bild 628065125).
Steinfigur aus der Pukara-Kultur Boliviens, ca. 2000 Jahre alt, Höhe 15,5 cm. Links: im Bernischen Historischen Museum, welches das Objekt 1929 von Johann Jakob von Tschudis Erben ankaufte; rechts: nach ihrer Restitution 2014 in den Händen des damaligen Präsidenten Boliviens, Evo Morales (Bernisches Historisches Museum, Christine Moor, E/1929.441.0145; KEYSTONE / AFP / Aizar Raldes, Bild 628065125). […]

Auf der dritten Reise 1860-1862 handelte von Tschudi 1861 als ausserordentlicher Gesandter der Schweiz in Brasilien (Diplomatie) eine Konsularkonvention aus, welche die Lebensbedingungen der in Halbpacht verschuldeten, schweizerischen Kolonistenfamilien verbessern sollte. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er Reisen durch Südamerika in fünf Bänden (1866-1869). Darin beschrieb er Indigene und Versklavte afrikanischer Herkunft herablassend. Er kritisierte die Sklaverei in Brasilien und missbilligte die Vermischung von «Rassen» (Rassismus). Negativ urteilte er auch über die dortigen schweizerischen und deutschen Unterschichtsmigranten und Unterschichtsmigrantinnen. Im «Bericht des Bundesrathes an den h. Nationalrath, betreffend Strafbestimmungen gegen Schweizer in Brasilien, welche Sklaven halten» vom 2. Dezember 1864 als Antwort auf eine Motion von Wilhelm Joos wurde von Tschudi dahingehend zitiert, dass Sanktionen gegen Plantagenbesitzer als «Gewaltschritt» abzulehnen seien. Ab 1866 amtierte von Tschudi als schweizerischer Geschäftsträger, 1868-1882 als ausserordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister in Wien. 1875 publizierte er eine Übersetzung des in der Quechua-Sprache verfassten Dramas Ollanta, 1884 die linguistische Untersuchung Organismus der Khetšua-Sprache.

Von Tschudis Studien zur südamerikanischen Zoologie, Ethnolinguistik und Archäologie werden in Fachkreisen nach wie vor verwendet und geschätzt. Als einer der ersten Schweizer Südamerikareisenden des 19. Jahrhunderts und gut vernetztes Mitglied der europäischen Wissenschaftselite prägte von Tschudi mit seinen Schriften zeitgenössische Vorstellungen über die südamerikanischen Gesellschaften, die er als rückständig und dekadent beschrieb (Kolonialismus). Sein Überlegenheitsgefühl beruhte auf einer klassenbezogenen und rassistischen Sichtweise; Autorität verschaffte er sich nicht zuletzt, indem er auf seinen Forschungsreisen seine Männlichkeit als Jäger und Wissenschaftler unter Beweis stellen konnte. 2014 restituierte das Bernische Historische Museum die sogenannte Ekeko-Figur an Bolivien. Weitere Objekte von Tschudis, darunter Mumien und Schädel, befinden sich immer noch in Schweizer Institutionen.

Quellen und Literatur

  • Schazmann, Paul-Emile: Johann Jakob von Tschudi. Forscher, Arzt, Diplomat, 1956 (französisch 1956).
  • Anders, Ferdinand: Johann Jakob von Tschudi. Forscher, Reisender, Diplomat, 1984 (mit Werkverzeichnis).
  • Ziegler, Béatrice: Schweizer statt Sklaven. Schweizerische Auswanderer in den Kaffee-Plantagen von São Paulo (1852-1866), 1985.
  • Zuberbühler, Alfred: «Johann Jakob von Tschudi (1818-1889)», in: Stucki, Fritz; Thürer, Hans (Hg.): Grosse Glarner. 26 Lebensbilder aus fünf Jahrhunderten, 1986, S. 177-186.
  • Veyrassat, Béatrice: Réseaux d'affaires internationaux, émigrations et exportations en Amérique latine au XIXe siècle. Le commerce suisse aux Amériques, 1993.
  • Fässler, Hans: Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei, 2005.
  • Dewulf, Jeroen: Brasilien mit Brüchen. Schweizer unter dem Kreuz des Südens, 2007, S. 34-39.
  • Serrano-Villavicencio, José Eduardo; Bartoletti, Tomás; Bueno, Celia: «Mammals collected by Johann Jakob von Tschudi in Peru during 1838-1842 for the Muséum d’Histoire Naturelle de Neuchâtel, Switzerland» in: Boletim do Museu Paraense Emílio Goeldi, 15/3, 2020, S. 905-931.
  • Bartoletti, Tomás: «Cartography in translation between Ouro Preto and Gotha, c. 1850-1860», in: Imago Mundi, 74/1, 2022, S. 63-81.
  • Bartoletti, Tomás: «Hunting and masculine knowledge: A Swiss naturalist in South America and the coloniality of nineteenth-century science», in: Isis, 115/4, 2024, S. 776-798.
Weblinks
Normdateien
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VIAF

Zitiervorschlag

Tomás Bartoletti: "Tschudi, Johann Jakob von", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 13.11.2024. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/014903/2024-11-13/, konsultiert am 24.01.2025.