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Herrschaft

Der vieldeutige Begriff Herrschaft bezeichnet im Deutschen erstens abstrakt-allgemein ein sozial akzeptiertes Verhältnis der legitimen Machtausübung, zweitens personal-konkret diejenigen Personen (oder Institutionen), welche Herrschaft ausüben, und drittens räumlich-sachlich das Gebiet, auf das sich deren Herrschaft bezieht. Wird die erste Bedeutung oft unpräzis im Sinne von Macht mit französisch pouvoir oder autorité bzw. italienisch potere oder autorità übersetzt, so entsprechen die zweite und dritte Bedeutung französisch seigneur/seigneurie und italienisch signore/signoria. Das Wortfeld Herrschaft umfasst Bereiche, die französisch mit autorité, domination, pouvoir, puissance, seigneurie wiedergegeben werden, während französisch pouvoir und italienisch potere etwa bei Michel Foucault meist mit «Macht» übersetzt werden.

Herrschaft ist wie seigneurie/signoria seit dem Mittelalter ein Quellenbegriff. Herrschaft ist darüber hinaus und im Gegensatz zu seigneurie/signoria auch eine zentrale Kategorie in den aktuellen historischen, theologischen, soziologischen, philosophischen und juristischen Diskussionen.

Seit dem 13. Jahrhundert als personal oder räumlich konkreter Quellenbegriff in Entsprechung zum lateinisch dominium belegt, bezeichnet Herrschaft im Mittelalter die personengebundene Herrenstellung über Sachen (Eigentum) oder Personen (Gewalt), die ihre Legitimität aus der Rechtsgebundenheit bezieht. Meist ist in den Quellen von einzelnen Herrschaftsrechten, deren konkreten Komponenten und Ausgestaltungen als «Twing und Bann», «Munt und Gewere» oder «Schutz und Schirm» die Rede. Im Einzelnen wird die Herrschaft über Grund und Boden (Grundherrschaft) unterschieden von der Herrschaft über Personen (Leibeigenschaft), der Gerichtsbarkeit des Herrn über Untertanen (Gerichtsherrschaft, vgl. Gerichtswesen), der Vogtei als Schutzherrschaft, der Herrschaft des Hausvaters über Frau, Kinder und Gesinde im Haus (Hausherrschaft, vgl. Hausrecht), der Herrschaft des Lehnsherrn über den Vasallen (Lehnswesen), der weltlichen Herrschaft der Kirche (Kirchenherrschaft, vgl. auch Zehnt) und der Herrschaft des adligen oder geistlichen Stadtherrn (Stadtherrschaft) oder des städtischen Rates (Ratsherrschaft) über die Gemeinde. Quellenbegriffe wie gemeine Herrschaften oder Bündner Herrschaft (für die Herrschaft Maienfeld) erinnern an die gemeinsame Verwaltung bestimmter Gebiete durch die eidgenössischen Orte bzw. die Bündner. Die Zusammenführung verschiedener im Boden oder in der Person verankerter und segmentierter Herrschaftstitel in der Territorialherrschaft bewirkte vom Spätmittelalter an die Entpersonalisierung und Versachlichung von Herrschaft, die nun einerseits unterschiedliche Formen der Teilhabe von Landständen an der Herrschaft integrieren konnte (Ständeversammlung), andererseits in der Form der «Policey» neue herrschaftliche Aktivitäten entfaltete und sich zur Obrigkeit im Absolutismus entwickelte. Seit dem 19. Jahrhundert ersetzen Staatsmonopole die verschiedenen Herrschaftsformen, und Herrschaft wird im Alltag bürokratische Verwaltung (Max Weber). Die aktuelle Geschichtswissenschaft interessiert sich zudem vor allem für den konkreten Alltag der «Herrschaft als soziale Praxis» (Alf Lüdtke), wobei Herrschaft nicht als Machtinstrument zum Beispiel des Herrn gegen den Knecht verstanden wird, sondern als soziale Beziehung zwischen Herr und Knecht, die durch alltägliche Interaktionen Herrschaft konstituieren und reproduzieren.

Den Ursprung von Herrschaft erklären Theologen kontrovers: Von Augustin bis Luther galt Herrschaft als eine Folge des Sündenfalls und zugleich als Mittel gegen die Folgen der menschlichen Sündhaftigkeit. Dagegen verlegte Thomas von Aquin im Sinne von Aristoteles den Ursprung von Herrschaft ins Paradies vor dem Sündenfall und ermöglichte so die theoretische Legitimierung von Herrschaft ohne Unterwerfung, worauf sich die naturrechtlich fundierten Verfassungstheorien der Neuzeit beziehen, die aus dem Herrschaftsvertrag den Gesellschaftsvertrag entwickeln (Jean-Jacques Rousseau).

In der Soziologie bezeichnet Herrschaft als Allgemeinbegriff einen Unterfall der Macht, nämlich die dauerhaft institutionalisierte Macht, bei welcher die Herrschenden einen rechtlich begründeten Anspruch darauf haben und die Beherrschten diesen akzeptieren. Max Weber liefert die klassische Definition von Herrschaft (französisch übersetzt mit domination), verstanden als «Chance für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden», wogegen Macht (französisch puissance) verstanden wird als «jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht».

Die politische Philosophie beschäftigt sich seit der Antike mit der Begründung und Begrenzung von Herrschaft sowie vor allem mit den Herrschaftsformen, wobei wechselnde Kriterien für deren Unterscheidung galten: seit Aristoteles die Zahl der Herrschenden (Monarchie oder Einherrschaft, Aristokratie oder Herrschaft der Wenigen, Demokratie oder Herrschaft des Volkes) und die gute bzw. schlechte Qualität der Herrschaft (Monarchie bzw. Tyrannis, Aristokratie bzw. Oligarchie, Demokratie bzw. Ochlokratie); bei Montesquieu das treibende Prinzip von Herrschaft (Tugend in der Demokratie, Mässigung in der Aristokratie, Ehre in der Monarchie, Furcht im Despotismus); bei Max Weber der Legitimitätsanspruch von Herrschaft (1. rationale oder legale Herrschaft, d.h. gesetzliche Herrschaft; 2. traditionale Herrschaft, d.h. herkömmlich-heilige Herrschaft; 3. charismatische Herrschaft, d.h. auf affektiver Hingabe an die Heiligkeit oder Heldenhaftigkeit einer Person basierende Herrschaft).

Mit der Aufklärung wurde Herrschaft zu einem abstrakten Begriff für die institutionalisierte Macht der Staatsgewalt. Sie wird seitdem entpersonalisiert gedacht als «Herrschaft der Gesetze». Erst mit Rousseau kommt das Ideal der Vereinbarkeit von Herrschaft und Freiheit jenseits der Anarchie zum Tragen, das im 19. Jahrhundert mit der Prognose von Karl Marx und Friedrich Engels vom «Ende der Herrschaft von Menschen über Menschen» und im 20. Jahrhundert mit dem diskursethischen Ideal der «herrschaftsfreien Kommunikation» (Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel) die Diskussion prägte, während die Welt mit der «Schreckensherrschaft» totalitärer Führer und Systeme konfrontiert war.

Von Formen unrechtmässiger Machtausübung (Tyrannis, Despotie, Usurpation usw.) und der Herrschaft- und Gesetzlosigkeit (Anarchie) unterscheidet sich Herrschaft durch die rechtliche Bindung an Privilegien, Herrschaftsverträge und Rechtstitel, aus denen sie ihre Legitimität bezieht. Herrschaft konstituierte sich lange durch metaphysisch verankerte, reziproke Eide, seien es asymmetrische zwischen Herren und Untertanen (Huldigung), seien es symmetrische in der Assoziation (Einung, Eidgenossenschaft, Verschwörung), was der deutsche Rechtshistoriker Otto von Gierke zum universalhistorischen Gegensatz von Herrschaft und Genossenschaft stilisierte.

Heraldische Symbolisierung der geistlichen Privilegien und weltlichen Herrschaftsrechte der Reichsabtei Reichenau. Kolorierte Federzeichnungen im Wappenbuch des Gallus Öhem, um 1508 (Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau, Hs. 15, Fol. 2v und 3r).
Heraldische Symbolisierung der geistlichen Privilegien und weltlichen Herrschaftsrechte der Reichsabtei Reichenau. Kolorierte Federzeichnungen im Wappenbuch des Gallus Öhem, um 1508 (Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau, Hs. 15, Fol. 2v und 3r). […]

Der Darstellung von Herrschaft dienten die symbolischen Rituale der Herrschaftseinsetzung wie etwa Krönung, Salbung und Thronbesteigung von Kaisern und Königen, Investitur, Aufritt und Huldigung von Fürsten und Herren oder deren Stellvertretern (Vögte). Dabei dokumentierte die Übergabe von Herrschaftszeichen die Übertragung der Herrschaftsgewalt sinnfällig: Krone, Zepter, Schwert in Monarchien; Stab, Siegel, Schlüssel in Republiken und Gemeinden; Tiara (von Papst Paul VI. 1964 symbolisch niedergelegt), Mitra, Krummstab in geistlichen Staaten. Zur Markierung von Herrschaft im Raum dienten heraldische Zeichen, Rechtsaltertümer, repräsentative Bauten, Kleidung und rituelle Handlungen.

Quellen und Literatur

  • O. von Gierke, Das dt. Genossenschaftsrecht 1-4, 1868-1913
  • Idiotikon 2, 1553 f.
  • O. Brunner, Land und Herrschaft, 1939
  • HRG 1, 1823-1842, 2030-2033; 2, 104-113, 1383-1388
  • Hist. Wb. der Philosophie 3, 1974, 1083-1100
  • Wb. der Soziologie, hg. von G. Hartfiel, 1976, 268-270
  • D. Hilger, «Herrschaft», in Geschichtl. Grundbegriffe 3, hg. von O. Brunner et al., 1982, 1-102
  • M. Weber, Wirtschaft und Ges., 1985, 28, 122-148, 541-868 (11922)
  • L. Carlen, Rechtsgesch. der Schweiz, 31988
  • LexMA 4, 2176-2179
  • Herrschaft als soziale Praxis, hg. von A. Lüdtke, 1991
  • A. Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, 1991
  • Wb. zur Gesch., hg. von E. Bayer, F. Wende, 51995, 230 f.
  • M.G. Schmidt, Wb. zur Politik, 1995, 399-401
  • P. Prodi, Das Sakrament der Herrschaft, 1997 (ital. 1992)
  • Religion in Gesch. und Gegenwart 3, hg. von H.D. Betz et al., 42000, 1688-1691
  • M. Foucault, Schr. in vier Bänden, hg. von D. Defert et al., 4 Bde., 2001-07
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Würgler: "Herrschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.06.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016080/2015-06-19/, konsultiert am 19.03.2024.