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Pauperismus

Der Begriff Pauperismus wurde um 1800 in England für die Armut als Massenerscheinung bzw. für die Armen als gesellschaftliches Kollektiv geprägt. Ausschlaggebend für die Begriffsbildung war eine neue Form der Armut, indem nun als pauper galt, wer sich auch durch seine Arbeit kein ausreichendes Einkommen verschaffen konnte. Aus dem Englischen wurde der Begriff ins Französische und Deutsche übernommen, wo er allmählich den Ausdruck Massenarmut ablöste und teilweise synonym mit Proletariat verwendet wurde. Erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wendete man im deutschsprachigen Raum Proletariat ausschliesslich auf die Arbeiter in Industrie und Gewerbe an. In einem grösseren Rahmen sind der Pauperismus und der dazugehörige Diskurs im Zusammenhang mit der sozialen Frage zu sehen.

Erstausgabe der Schrift Die Armennoth von Jeremias Gotthelf (Zentralbibliothek Zürich).
Erstausgabe der Schrift Die Armennoth von Jeremias Gotthelf (Zentralbibliothek Zürich). […]

Ausschlaggebend für eine breitere öffentliche Diskussion des Phänomens Pauperismus in der Schweiz – die Massenarmut gab es indes schon seit Langem – waren ausgeprägte Notzeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so während der Koalitionskriege in der Napoleonischen Zeit oder während der Hungersnot von 1816-1817, die Folgen eines seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts intensiven Bevölkerungswachstums und die Auswirkungen der zunehmenden Industrialisierung. Als Forum einer landesweiten Debatte boten sich die Jahresversammlungen der 1810 gegründeten Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft an, an denen sich viele der an der Lösung der Armenfrage interessierten Politiker und Gelehrten trafen. Bis 1860 war der Pauperismus ein Dauerthema der Diskussionen, mit einem Höhepunkt zwischen 1835 und 1860. Auf politischer Ebene belegen die zahlreichen neu erlassenen Armengesetze den Willen der kantonalen Behörden, mit dem Problem fertig zu werden. In literarischer Hinsicht wurde Jeremias Gotthelfs «Armennoth» (1840) zu einem eindrücklichen Zeugnis. Mehrere wissenschaftliche Beiträge zur Debatte wurden vorgelegt, die sich zwei hauptsächlichen Blickpunkten zuordnen lassen: Eine sozioökonomische Sichtweise wurde teilweise von der Bevölkerungstheorie von Thomas Robert Malthus (Malthusianismus) beeinflusst und ging von einer erblichen und sich damit perpetuierenden Armut aus. Zu ihren Verfechtern gehörten Johann Caspar Zellweger und Johann Konrad Zellweger sowie Heinrich Grunholzer. Allerdings wurde von anderen Vertretern dieser Richtung der demografische Aspekt der Massenarmut auch relativiert, so von Paul Usteri, Jakob Christoph Bernoulli und Johann Rudolf Schneider. Eine religiös-sittliche und in erster Linie konservative Betrachtungsweise sah den Pauperismus hingegen als Zerfallserscheinung infolge einer Veränderung des gottgewollten Ordnungssystems durch die Französische Revolution und somit als Strafe für die Zerstörung der traditionellen Ständeordnung sowie als Folge individuellen Versagens (z.B. Alkoholismus). Diese Meinung vertraten Johann Ludwig Spyri, Jeremias Gotthelf, Karl Ludwig von Haller, Johann Rudolf Waser und Johann Peter Lange. Sehr unterschiedlich waren deshalb auch die vorgeschlagenen Massnahmen zur Bekämpfung des Pauperismus, wie die Begrenzung des demografischen Wachstums, Innovationen in der Landwirtschaft zur Ertragssteigerung und damit zur Verbesserung der Ernährungslage, gleichmässigere Verteilung des Landwirtschaftslands, Industrialisierung zur Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten, Auswanderung sowie Bekämpfung von Alkoholismus und Bettelei.

Quellen und Literatur

  • E. Gruner, Arbeiter
  • Gesch. der Schweiz und der Schweizer 2, 1983, 220
  • M. Körner, «Die Schweiz 1650-1850», in Hb. der europ. Wirtschafts- und Sozialgesch. 4, 1993, 589-618
  • Pfister, Bern, 341
Weblinks

Zitiervorschlag

Stefan Jäggi: "Pauperismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.11.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016091/2009-11-24/, konsultiert am 09.12.2024.