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Soziale Frage

Mit dem Begriff der sozialen Frage thematisierte ein Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit – selten die Betroffenen selbst – vor allem ab den 1840er Jahren die infolge der Industrialisierung entstandenen sozialen Probleme. Nachdem die Armutsproblematik in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vorwiegend unter dem Gesichtspunkt des Pauperismus diskutiert worden war, setzte sich gegen die Jahrhundertmitte eine neue Betrachtungsweise durch. Zentrale Bedeutung erlangte dabei der Begriff der sozialen Frage, der in Frankreich als «question sociale» bereits vom frühen 19. Jahrhundert an gebräuchlich war. Mit dem Perspektivenwechsel stand nicht mehr die vorindustrielle Armut im Vordergrund, wie sie in ländlichen Gebieten bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet war, sondern die Not der rasch wachsenden Schicht der Arbeiter. Deshalb sprach man gelegentlich auch von der Arbeiterfrage. Ausgangspunkt der Debatte bildete bei Politikern und Publizisten die Erkenntnis, dass die Arbeiterschaft unter menschenunwürdigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen am Rande des Existenzminimums lebte, dass sie gesellschaftlich diskriminiert wurde und politisch ohnmächtig war, dass die Bedingungen am Arbeitsplatz die Gesundheit und die Familienverhältnisse gefährdeten und dass jeglicher Schutz gegen Risiken wie Krankheit, Unfall, Tod und Arbeitslosigkeit fehlte.

Plakat zur Abstimmung über das Arbeitszeitgesetz im Kanton Basel-Stadt vom 4. Juli 1920, gestaltet von Paul Wyss (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat zur Abstimmung über das Arbeitszeitgesetz im Kanton Basel-Stadt vom 4. Juli 1920, gestaltet von Paul Wyss (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Die Kluft zwischen dem politischen Ideal der bürgerlichen Gleichheit und der sozialen Wirklichkeit setzte die Debatte in Gang. Soziale Not erschien nicht mehr als göttliches Geschick oder individuelles Schicksal, das es hinzunehmen galt. Vielmehr wurde sie als eine Folge der wirtschaftlichen und politischen Ordnung betrachtet, was eine gesellschaftliche Verantwortung für die Bewältigung oder zumindest die Linderung der Not nahelegte. Die revolutionäre Systemkritik (Sozialismus) gewann ihre Überzeugungskraft aus der dauernden Präsenz der sozialen Frage. Deren Exponenten propagierten als vorläufiges Mittel zur Verbesserung der Lage die Organisation der Arbeiter (Gewerkschaften). Sozialreformer setzten zum Teil auf private Wohltätigkeit, vor allem aber wiesen sie mit der Konsolidierung der industriellen Gesellschaft auf die Möglichkeiten der Sozialpolitik hin. Eine solche Sichtweise setzte die Aufsplitterung der sozialen Frage in Teilfragen voraus, von denen zwei im Vordergrund standen: die Fabrikarbeit (Fabrikgesetze) und die Wohnungsnot (Wohnungsbau). Dazu kamen weitere Bereiche wie die Gesundheit (Gesundheitswesen) und Bildung (Schulwesen). Das Hintergrundwissen lieferten auf kantonaler und nationaler Ebene zahlreiche Sozialenqueten. Die frühesten sozialreformerischen Vorstösse betrafen die verbreitete Kinderarbeit. Es folgten Massnahmen gegen die überlange Arbeitszeit, zum Schutz der Mutterschaft bei Arbeiterinnen und gegen die Gefährdung der Gesundheit (Arbeiterschutz). Im letzteren Bereich kamen zu den traditionellen Gefahrenquellen neue wie explodierende Kessel, schlecht geschützte Getriebe und die immer wichtigeren Chemikalien hinzu. Eine Synthese der Probleme legte 1873 Victor Böhmert vor, der im Auftrag des Bundesrats den Bericht «Arbeiterverhältnisse und Fabrikeinrichtungen in der Schweiz» verfasste. Aufgrund des Fabrikgesetzes von 1877 wurden Fabrikinspektoren ernannt, die regelmässig über die Lage der Arbeiter Auskunft gaben. Weit weniger Beachtung fand hingegen die Entwicklung in kleingewerblichen Betrieben und der Heimarbeit, obwohl diese noch lange wichtig waren.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg das Interesse an der sozialen Frage in den rasch wachsenden Städten mit ihren zum Teil katastrophalen Wohnverhältnissen. Nicht zuletzt Epidemien verlangten nach einer Ursachenforschung, die sich ab den späten 1880er Jahren in mehreren Wohnungsenqueten niederschlug. Schliesslich trat die Frage des Lohnausfalls infolge von Unfall, Krankheit, Alter, Tod des Ernährers oder Arbeitslosigkeit in den Vordergrund (Sozialversicherungen). Nachdem die Sozialpolitik für verschiedene Notlagen Auswege gefunden hatte, löste sich die Debatte über die soziale Frage bis zum Ersten Weltkrieg auf. Zur Diskussion standen nicht mehr pauschal die soziale Frage, sondern die einzelnen Aspekte der Sozialpolitik, so die Altersvorsorge nach der Annahme des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes 1911 (Soziale Sicherheit).

Quellen und Literatur

  • Gruner, Arbeiter, 15-49
  • F.-X. Kaufmann, Sozialpolit. Denken, 2003
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Soziale Frage", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.01.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016092/2012-01-04/, konsultiert am 21.11.2024.