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Heimarbeit

Strohflechterfamilie im Freiamt. Öl auf Leinwand eines unbekannten Künstlers, um 1840 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, LM-16873).
Strohflechterfamilie im Freiamt. Öl auf Leinwand eines unbekannten Künstlers, um 1840 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, LM-16873). […]

Heimarbeit ist eine Betriebs- oder Produktionsform, bei der die Arbeitskräfte ihre Tätigkeit zu Hause, in der eigenen Wohnung oder in einem speziellen Arbeitsraum, verrichten. Für die Kosten des Arbeitsraums kommen sie selbst auf. Teils gehören ihnen auch die Produktionsmittel (Werkzeuge, Maschinen), teils werden diese von den Arbeitgebern, die den Rohstoff oder die weiter zu bearbeitenden Stücke liefern und die Produkte verkaufen, zur Verfügung gestellt. Eng mit der Protoindustrialisierung verbunden, war Heimarbeit in den beiden wichtigsten schweizerischen Exportzweigen, der Textil- und Uhrenindustrie, bis nach 1880 die dominante Produktionsform. Mit fortschreitender Mechanisierung und Konzentration der Produktion in Fabriken (Industrielle Revolution) verlor sie jedoch zunehmend an Bedeutung. 1850 waren noch 75% der rund 200'000 industriellen Erwerbstätigen der Schweiz in der Heimindustrie beschäftigt, 1880 noch gut die Hälfte. Um 1900 war es lediglich noch etwas mehr als ein Drittel. Mitte des 20. Jahrhunderts spielte die Heimarbeit ausser in der Kleider- und Wäschekonfektion kaum noch eine Rolle. Mit dieser Marginalisierung ging eine starke Entprofessionalisierung und Feminisierung der Heimarbeit einher; diese umfasste zunehmend unqualifizierte Fertigungs- oder Montagearbeiten und fand als schlecht bezahlte Nebenbeschäftigung für verheiratete Frauen in entlegenen Regionen völlig im Versteckten statt. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts machten es die neuen Kommunikationstechnologien für einige Unternehmen interessant, einzelne Arbeitsgänge in Privatwohnungen auszulagern, um so nicht nur die Kosten für die Ausstattung von Arbeitsplätzen zu sparen, sondern auch Auftragsschwankungen ohne grössere Aufwandskosten zu bewältigen. Dies betraf neben Tätigkeiten wie der Montage von Einzelteilen, dem Nähen oder Kartonagearbeiten vor allem die sogenannte Teleheimarbeit, zu der verschiedene Aufgaben am Telefon oder Computer wie Telefonverkauf, Umfragen, Sekretariatsarbeiten, Datenerfassung oder Programmierung zählen.

Plakat für die erste Schweizerische Heimarbeitausstellung im Sommer 1909 von Burkhard Mangold (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat für die erste Schweizerische Heimarbeitausstellung im Sommer 1909 von Burkhard Mangold (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Die Anfänge der Heimarbeit reichen bis ins ausgehende Spätmittelalter zurück. Sie entwickelte sich teils aus der bäuerlichen Eigenfabrikation, teils aus dem städtisch-zünftischen Handwerk. So produzierten im St. Galler Leinwandgewerbe bereits im 15. Jahrhundert viele Appenzeller Familien für die städtischen Webermeister Flachsgarn und Leinwand. Um ihren Handel auszuweiten, griffen die städtischen Kaufleute im 16. Jahrhundert immer mehr auf ländliche Arbeitskräfte zurück, die wegen ihrer bäuerlichen Einkünfte nicht nur billigere Arbeitskräfte als die zünftischen Weber waren, sondern auch elementare technische Fertigkeiten beherrschten. In Zürich erfolgte ab dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts ein Grossteil der aufkommenden Verarbeitung von Baumwolle, Seide und Wolle in Heimarbeit auf dem Lande. Trotz des Widerstands des städtischen Posamenterhandwerks vermochte sich auch in der Basler Seidenbandweberei die Heimarbeit ab 1612 immer mehr auszubreiten. Ebenso wurden Strohhüte seit dem 17. Jahrhundert in Wohlen (AG) und Umgebung, später im Luzernischen und Zürcher Unterland sowie im Tessin in Heimarbeit angefertigt (Strohflechterei). Ihre grosse Verbreitung erlebte die Heimarbeit in der Baumwoll- und Seidenindustrie aber erst mit der Einführung des Verlagssystems, über das die Kaufleute oder Fabrikanten den Produktionsablauf von Anfang bis Ende kontrollierten: Sie lieferten die Rohstoffe (Baumwolle, Seide) oder die Zwischenprodukte (Garn, Tuche) an die Arbeitskräfte, liessen diese gegen Stücklohn veredeln und exportierten die fertigen Produkte. Zehntausende Spulräder und Webstühle in Stuben und Kellern machten die Ostschweiz, Glarus, die Zürcher Seegemeinden und das Oberland, Gebiete des Aargaus sowie Baselland zum Teil bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus zu einer einzigen grossen «Fabrik», von der ein Grossteil der ländlichen Familien in diesen Regionen lebte. Um 1866/1867 – damals war das Spinnen in Heimarbeit schon seit 50 Jahren verschwunden – zählte die Baumwollweberei neben 12'000 Fabrikwebern noch immer 45'000 Hand- oder Heimweber. Noch länger hielt sich die Heimarbeit in der Seidenindustrie, die um 1900 über 30'000 Heimarbeiter beschäftigte. In der Stickerei vermochte die weit verbreitete Heimarbeit die fabrikmässige Produktion ab den 1880er Jahren sogar wieder zurückzudrängen. In der sich seit dem 17. Jahrhundert in Genf entwickelnden Uhrenindustrie war das Aufkommen der Heimarbeit ebenfalls eng mit dem Verlagssystem verbunden. Zunächst erfolgte die Fabrikation arbeitsteilig in kleinen Werkstätten selbstständiger Kleinproduzenten. In den Juratälern fand sie erst grössere Verbreitung, als mit der Einführung der sogenannten Etablissage auch die Uhrenindustrie verlagsmässig organisiert wurde. Gleichzeitig nahm die Spezialisierung weiter zu, sodass sich die Herstellung einer Uhr um 1830 auf über 50 verschiedene Arbeitskräfte verteilte, die teils zu Hause und teils in Ateliers die einzelnen Bestandteile in Serie fertigten. Um 1870, kurz bevor sich die Fabrikproduktion in der Branche durchzusetzen begann, waren rund 60'000 Männer, Frauen und Kinder meist in Heimarbeit mit der Herstellung von Uhren beschäftigt.

In der Heimarbeit bildete das Haus bzw. der Haushalt das eigentliche Zentrum der Güterproduktion, wobei die familiäre Arbeitsgemeinschaft neben den Mitgliedern der Kernfamilie noch weitere Kostgänger, Ledige und Witwen umfassen konnte. Im Unterschied zur Fabrikindustrie unterstanden die Arbeitskräfte in der Heimarbeit keiner direkten Kontrolle durch die Arbeitgeber. Die Arbeitsintensität und den Arbeitsrhythmus bestimmten sie selbst; ihr Entscheidungsspielraum war allerdings klein, da die Auftragslage und damit ihr Einkommen unmittelbar von der Konjunktur abhingen. Schon kleinere Stockungen des Handels führten zu Lohnrückgängen, bei grösseren Absatzkrisen drohte Arbeitslosigkeit. Doppelt getroffen waren die Heimarbeiter, wenn – dies war bis ins 19. Jahrhundert oft der Fall – Lebensmittelteuerungen und Handelskrisen gleichzeitig auftraten. Dann nahm ihnen die Teuerung das Brot und die Absatzkrise den Lohn. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts arbeiteten viele Heimarbeiter, auch in Zeiten guter Konjunktur, zu Löhnen, die «weder zum Leben noch zum Sterben ausreichten». Besonders schlecht waren um 1900 die Verhältnisse in jenen Zweigen, in denen die Heimarbeit nur noch dank tiefer Löhne konkurrenzfähig war, wie zum Beispiel in der Seidenstoffweberei. Auch für unqualifizierte Tätigkeiten, für die ein Überangebot an Arbeitskräften bestand, waren die Löhne sehr tief, wie etwa in der Tessiner Strohindustrie. Vielfach mochte sich die Heimarbeit nur wegen der extremen Fremd- und Selbstausbeutung behaupten. Lange Arbeitszeiten, Kinderarbeit sowie schlechte Ernährungs- und Wohnverhältnisse gehörten Anfang des 20. Jahrhunderts zum typischen Erscheinungsbild der Heimindustrie. Im Unterschied zur Fabrikindustrie, in der mit dem eidgenössischen Fabrikgesetz 1877 erste sozialstaatliche Massnahmen zugunsten der Arbeiterschaft durchgesetzt worden waren, unternahm der Bund bezüglich der Heimarbeit lange nichts. Das Bundesgesetz über die Ordnung des Arbeitsverhältnisses von 1919 enthielt Regelungen zum Schutz der Heimarbeiter; es wurde aber in der Referendumsabstimmung 1920 abgelehnt. Erst um 1940 erliess der Bund wegen der Verhältnisse in der Konfektionsindustrie und der hohen Arbeitslosigkeit ein Heimarbeitsgesetz, das neben verschiedenen Schutzmassnahmen dem Bundesrat auch die Kompetenz übertrug, Mindestlöhne festzusetzen. Bereits ab Mitte der 1930er Jahre versuchte der 1931 gegründete Schweizerische Verband für Heimarbeit mit seiner vom Bund unterstützten Zentralstelle, die Heimarbeit besonders in den Berg- und Randregionen zu fördern. 1949 verabschiedeten die eidgenössischen Räte einen Bundesbeschluss zur Förderung der Heimarbeit. 1981 trat ein neues Heimarbeitsgesetz in Kraft, das eine weitere Verbesserung der Stellung der Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen brachte.

Anfang des 21. Jahrhunderts hat sich mit der allgemeinen Computerisierung der Arbeits- und Lebenswelt diese «neue» Heimarbeit zum Beispiel über virtuelle Callcenters intensiviert und vor allem digitalisiert. Kennzeichnend für die neuen digital gestützten Formen der Heimarbeit sind die noch stärkere Externalisierung der Aufgaben aus den Unternehmen, die Flexibilisierung von Arbeitsprozessen und eine damit einhergehende stärkere Selbststrukturierung, Steuerung und Überwachung des Arbeitsprozesses durch die Arbeitnehmenden selbst.

Quellen und Literatur

  • J. Lorenz, Die Heimarbeit in der Textilindustrie, 1911
  • M. Fallet-Scheurer, Le travail à domicile dans l'horlogerie suisse et ses industries annexes, 1912
  • W. Bodmer, Die Entwicklung der schweiz. Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige, 1960
  • R. Braun, Industrialisierung und Volksleben, 1960 (21979)
  • Gruner, Arbeiter
  • P. Fink, Gesch. der Basler Bandindustrie 1550-1800, 1983
  • C. Iseli, Die Ge-Heimarbeiterschaft, 1984
  • F. Grieder, Glanz und Niedergang der Baselbieter Heimposamenterei im 19. und 20. Jh., 1985
  • A. Tanner, Das Schiffchen fliegt, die Maschine rauscht, 1985
  • R. Jäger et al., Baumwollgarn als Schicksalsfaden, 1986 (21999)
  • Gruner, Arbeiterschaft 1, 179-203
  • D. Kuhn et al., Strohzeiten, 1991
  • U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, 1992
  • Gesch. und Zukunft der Arbeit, hg. von J. Kocka, C. Offe, 2000
  • G.G. Voss, J. Egbringhoff, «Die Arbeitskraftunternehmer», in Supervision 3, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Albert Tanner: "Heimarbeit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.03.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016213/2015-03-09/, konsultiert am 19.03.2024.