de fr it

Vermögen

Das mittelhochdeutsche Wort vermüge bezeichnete die Kraft, Fähigkeit oder Machtvollkommenheit einer Person; diese Bedeutungen hat das Wort zum Teil noch heute. Die folgenden Ausführungen beschränken sich aber auf ein ökonomisches Verständnis des Begriffs. Ein allgemein anerkannter Begriff des Vermögens im wirtschaftlichen Sinn fehlt. Zur Definition gehören in der Regel die folgenden Elemente: Das Vermögen ist eine Bestandsgrösse. Sie umfasst die Güter und Rechte, über welche die Wirtschaftssubjekte verfügen. Diese Güter und Rechte sind ökonomisch bewertbar.

Vier Funktionen des Vermögens lassen sich unterscheiden: Nutzung (Ertrag), Verwertung (Umwandlung zum Beispiel von Immobilien in Effekten), Macht und Übertragung (Vererbung, Schenkung). Es gibt Sach-, Geld- und immaterielle Vermögen (sowohl menschliche Fähigkeiten als auch Verfügungsrechte). Letztere sind allerdings schwer zu erfassen und fliessen kaum in empirische Analysen ein.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Im Mittelalter wurde der Güterbesitz von Personen und Körperschaften lange Zeit weder in Geld geschätzt, noch hatte er überhaupt Geldform. Erst mit der Intensivierung und der allmählichen Durchsetzung der Geldwirtschaft im Laufe des Hochmittelalters wurden Vermögenswerte einer Person in zunehmendem Masse in Geld berechnet. Der Aufstieg des Städtewesens im Gebiet der heutigen Schweiz während des 12. und 13. Jahrhunderts wie auch der damit verbundene Aufschwung führten zur Bildung grösserer Vermögen einzelner Wirtschaftssubjekte. Zu bedeutenderen Umverteilungen solcher Vermögen kam es infolge der ab der Mitte des 14. Jahrhunderts wiederholt auftretenden Pest: Durch den massiven Bevölkerungseinbruch verteilten sich die von den Verstorbenen hinterlassenen Vermögen auf deutlich weniger Köpfe, was sich in den Städten in gesteigertem Aufwand für Luxus (Feste, Kleider etc.) bemerkbar machte, dem die Magistrate mittels einer Luxusgesetzgebung Einhalt zu gebieten suchten. Gleichzeitig verschärfte sich die Situation in den Städten durch den Zustrom sozial entwurzelter, weitgehend vermögensloser Personen, die hier eine verbesserte Lebenssituation vorzufinden hofften. Diese Zuwanderer, die meist vom Lande stammten, wurden zu einem eigentlichen Pauperismusproblem (Armut, Bettelwesen).

Verteilung der Pensionen für fremde Dienste. Illustration aus der Luzerner Chronik von Diebold Schilling, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).
Verteilung der Pensionen für fremde Dienste. Illustration aus der Luzerner Chronik von Diebold Schilling, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern). […]

In der erwerbs- und geldwirtschaftlich orientierten städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit bildete das Vermögen eines der wichtigsten sozialen Lagemerkmale: Nur wer über genügend Vermögen verfügte, hatte Zugang zu materiellen und ideellen Ressourcen, zu Wohlstand, politischen Ämtern und anderen Würden, vor allem aber auch zu Ehre und sozialem Ansehen. Möglichkeiten der Kapital- und Vermögensakkumulation boten sich speziell in kaufmännischen Berufen bzw. im Fern- und Grosshandel, während die Gewinnspanne in den rein handwerklich ausgerichteten Berufen kaum zur Bildung grösserer Reichtümer verhalf. Unternehmungen im Verlagssystem und Beteiligungen an den im Spätmittelalter aufkommenden Handelsgesellschaften waren besonders profitabel (Handel). Auch die Kreditgeschäfte gewannen für die Vermögensbildung im Spätmittelalter und noch in der frühen Neuzeit trotz kirchlich-theologischer Widerstände stetig an Bedeutung (Kredit). Die Ende des 15. Jahrhunderts einsetzenden Einkünfte aus dem Solddienst und den Pensionen ermöglichten im 16. und 17. Jahrhundert die Bildung einzelner grosser Privatvermögen wie auch die Anhäufung von Staatsschätzen (Öffentlicher Haushalt) in der Eidgenossenschaft. Die Solddienste linderten zudem die Arbeitslosigkeit in den durch Überbevölkerung geprägten voralpinen und alpinen Gebieten; sie trugen damit zum Einkommen der unteren Vermögensschichten bei, auch wenn die wenigsten gewöhnlichen Soldaten reich aus der Fremde zurückkehrten.

Vor allem reich gewordene Stadtbürger legten ihr häufig risikoreich erworbenes Vermögen in finanziell weniger profitablem, dafür aber risikoärmerem ländlichen Grundbesitz wie auch in Herrschaftsrechten an. Beliebt war auch die Anlage von Vermögen in zinstragenden Kapitalrenten, die den Inhabern solcher Vermögenswerte ein regelmässiges arbeitsfreies Einkommen sicherte (Renten). Da im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in erster Linie das Vermögen – und nicht wie in der heutigen Zeit das Einkommen – als Grundlage für die Steuerbemessung diente, geben die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Steuerbücher und -listen im Allgemeinen einen verlässlichen Einblick in die Vermögensschichtung und die Sozialstruktur der Städte. Ein Grundzug der Städte war die ungleiche interne Vermögensverteilung: Rund 50-60% der Steuerzahler waren in der Regel besitzlos oder hatten nur minimale Vermögen, während eine sehr kleine Spitzengruppe über den grössten Anteil am städtischen Gesamtvermögen verfügte. Laut dem Tellbuch von 1448 besassen in Bern die reichsten Stadtbewohner (6,2% aller Steuerzahler) rund 75% der in der Stadt versteuerten Vermögen. In St. Gallen verfügte 1411 beinahe die Hälfte der Steuersubjekte, die nur den Mindestansatz versteuerten, über gerade einmal 5% des städtischen Gesamtvermögens. In der frühen Neuzeit änderten sich diese Verhältnisse nur in geringem Ausmass: In Schaffhausen hielt 1677 rund ein Fünftel aller Steuerzahler fast 85% des städtischen Gesamtvermögens. In den kleineren Städten waren die sozialen Gegensätze in Bezug auf die Grösse der Vermögen weniger scharf ausgeprägt, obwohl auch hier eine grosse besitzlose oder nur über geringste Vermögenswerte verfügende Bevölkerungsschicht einer kleinen Gruppe reicher Stadtbewohner gegenüberstand.

Noch wenig erforscht sind die Vermögensverhältnisse auf dem Land. Vereinzelte Untersuchungen ergaben, dass die Durchschnittsvermögen der Landbevölkerung deutlich unter denjenigen der Stadteinwohner lagen. Gemäss dem Zahlenmaterial aus Zürich, das in Zusammenhang mit der 1467 und 1471 in Stadt und Land erhobenen Vermögenssteuer überliefert ist, besass ein Landbewohner damals durchschnittlich nur einen Viertel des Vermögens eines Stadtbewohners. In Freiburg war das durchschnittliche Vermögen eines Steuerpflichtigen aus der Stadt 1445 rund dreimal höher als dasjenige eines solchen auf dem Land. Auch innerhalb der einzelnen Dörfer waren die Vermögensunterschiede zwischen reichen und armen Einwohnern erheblich. Allerdings waren die Gegensätze hier weitaus weniger ausgeprägt als in den Städten.

19. und 20. Jahrhundert

"Im Genfer Paradies". Holzschnitt von Alexandre Mairet für die Zeitschrift L'Avant-Garde vom 1. April 1922 (Privatsammlung).
"Im Genfer Paradies". Holzschnitt von Alexandre Mairet für die Zeitschrift L'Avant-Garde vom 1. April 1922 (Privatsammlung). […]

Den Stand und die Entwicklung des gesamten Vermögens erfasst keine amtliche Statistik, und private Erhebungen sind mit beträchtlichen Unsicherheiten behaftet. In den 1910er Jahren wurden im Rahmen einer Debatte über den Reichtum der Schweiz mehrere Schätzungen des Volksvermögens vorgenommen, die zwischen 30 und 40 Mrd. Franken schwankten. Seit den 1930er Jahren diente allerdings zunehmend das Volkseinkommen als Wohlstandsindikator. Eine grobe private Schätzung unter Ausklammerung immaterieller Güter ergab 1880-1978 ein Wachstum des Volksvermögens von 22 Mrd. auf 2312 Mrd. Franken. Der Anteil des Bodens sank vor allem wegen des Wertverlustes der land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen von 17% auf 6%, der von Immobilien und Ausrüstung, die sich leider erst ab 1938 trennen lassen, erhöhte sich von 23% auf 26% (Immobilien alleine 1938-1978 konstant 17%). Das Finanzvermögen stieg anteilmässig von 42% auf 48%, vor allem wegen stark gestiegener Forderungen gegenüber Banken und Versicherungen (von 9% auf 23%), während sich umgekehrt der Anteil der Hypotheken mehr als halbierte (von 18% auf 7%). Schliesslich wuchs der Anteil der Auslandguthaben von 9% auf 15%. Nach einer Schätzung für die 1980er Jahre besassen die Unternehmungen vom Reinvermögen 32%, die Haushalte 24%, die Sozialversicherungen 31% und der Staat 13%.

Schlecht erschlossen ist die personelle Vermögensverteilung, für die einzig die Eidgenössische Steuerverwaltung Zahlen liefert, erstmals aufgrund der ausserordentlichen Kriegssteuer für 1921. Damals deklarierten die reichsten 3% der Steuerpflichtigen über die Hälfte des Vermögens, die untersten zwei Drittel nur ein Vierzigstel. Nach der Erhebung für 1997 versteuerten die reichsten 3% noch immer rund die Hälfte, die untersten zwei Drittel weniger als ein Zwanzigstel. Die Aussagekraft der Steuerstatistik ist allerdings insofern zu relativieren, als sie gewisse Aktiven nicht oder nur teilweise erfasst (z.B. Ansprüche an Sozialversicherungen, Hausrat, Anteil am öffentlichen Vermögen, Lebensversicherungen) und andere stark unterschätzt (der Steuerwert der Immobilien liegt unter deren Verkehrswert). Eine Untersuchung für 1981 ergab, dass 70% der Haushalte keine Immobilien, 20% kein liquides Vermögen besassen. Die mit Abstand höchsten Reinvermögen versteuerten Unternehmer, gefolgt von Freiberuflern, Gewerbetreibenden sowie höheren Angestellten und Beamten. Ebenfalls recht hohe Beträge deklarierten trotz niedrigem Einkommen Landwirte, während die Masse der Arbeitnehmer deutlich zurücklag. Der Kanton Zürich verfügt seit 1991 über eine regelmässige Erhebung der Vermögensverhältnisse. Gemäss dieser stieg bis 2003 die Vermögenskonzentration vor allem in den Händen der Reichsten: 1/10 Promille besass 2003 gleich viel wie 74 Prozent der Steuerpflichtigen (1991 66 Prozent), ein Promille gleich viel wie 86 Prozent (1991 82 Prozent) und ein Prozent gleichviel wie 95% (1991 94%). Im internationalen Vergleich zeigen andere wirtschaftlich fortgeschrittene Staaten eine ausgeglichenere Vermögensverteilung, was auf den verbreiteteren Immobilienbesitz zurückgeführt wird.

"Keine Neuanstellungen mehr. Geschlossen wegen Betriebsaufgabe. Das ist das wahre Resultat der Vermögenssteuer. Stimmen Sie NEIN." In Genf gedrucktes Plakat von Jules-Ami Courvoisier für die Volksabstimmung vom 3. Dezember 1922 (Bibliothèque de la Ville de La Chaux-de-Fonds, CFV ICO Af-D-72).
"Keine Neuanstellungen mehr. Geschlossen wegen Betriebsaufgabe. Das ist das wahre Resultat der Vermögenssteuer. Stimmen Sie NEIN." In Genf gedrucktes Plakat von Jules-Ami Courvoisier für die Volksabstimmung vom 3. Dezember 1922 (Bibliothèque de la Ville de La Chaux-de-Fonds, CFV ICO Af-D-72). […]

Die Vermögenspolitik kennt die unterschiedlichsten Mittel, zum Beispiel Erbschaftssteuern, Privatisierung von Staatsbesitz, Sparförderung, Staatsschuld, Gewinnbeteiligung, Vermögenssteuern oder Vermögensabgabe. Eine solche wurde in mehreren Ländern nach dem Ersten Weltkrieg zum Abbau der Kriegsschuld propagiert. In der Schweiz wurde eine entsprechende sozialdemokratische Initiative, die de facto eine einmalige hohe Steuer auf sehr grosse Vermögen verlangte, 1922 nach einem äusserst aggressiven Abstimmungskampf abgelehnt. Schliesslich beansprucht der Finanzplatz Schweiz eine führende Rolle in der Vermögensverwaltung. Eine Schätzung für 1996 kam allein für die Banken auf Vermögen von 2330 Mrd. Franken, die zu rund 40% aus dem Ausland kamen.

Quellen und Literatur

  • Gesamtschweiz. Vermögensstatistik der natürl. Personen (erhoben in unregelmässigen Abständen seit 1969)
  • Eidg. Wehrsteuer, Statistik [...], 1945-1981/82
Mittelalter und frühe Neuzeit
  • H. Ammann, Schaffhauser Wirtschaft im MA, 1949
  • U. Schlüer, Untersuchungen über die soziale Struktur von Stadt und Landschaft Zürich im fünfzehnten Jh., 1978
  • W. Schnyder, «Soziale Schichtung und Grundlagen der Vermögensbildung in den spätma. Städten der Eidgenossenschaft», in Altständ. Bürgertum 2, hg. von H. Stoob, 1978, 425-444
  • K. Schmuki, Steuern und Staatsfinanzen, 1988
  • LexMA 8, 1557-1559
  • W. Schoch, Die Bevölkerung der Stadt St. Gallen im Jahre 1411, 1997
19. und 20. Jahrhundert
  • R.W. Goldsmith, «A tentative secular national balance sheet for Switzerland», in SZVwS 117, 1981, 175-187
  • B.I. Buhmann, Wohlstand und Armut in der Schweiz, 1988
  • H. Kissling, Reichtum ohne Leistung, 2008
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen; Oliver Landolt: "Vermögen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.01.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016215/2014-01-15/, konsultiert am 11.11.2024.