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Ernährung

Ernährung ist ein soziales Phänomen; sie gibt Einblick in die Sozialordnung und kann als Faktor wie Indikator soziokulturellen Wandels interpretiert werden. Die sozial- und kulturhistorische Untersuchung der Ernährung gibt damit über das Physiologische hinaus wichtige Hinweise zum Beispiel zur materiellen Kultur (Ess- und Trinksitten), zu sozialen Unterschieden, geschlechtsspezifischen Rollennormen, Bevölkerungsentwicklung, Wanderungsmustern, Herrschaftsverhältnissen oder Weltbildern.

Die Geschichte der Ernährung beschränkt sich keineswegs auf die Zubereitung und den Verzehr von Nahrungsmitteln, sondern befasst sich mit der ganzen ökonomischen Kette, die von der Agrarverfassung und Agrartechnik über die Distributionsstrukturen, Absatzstrukturen und Vorratshaltung bis hin zur gastronomischen Haus- und Familienarbeit und zu den Problemen der Konservierung und Entsorgung reicht. Es ist deshalb wichtig, der historischen Interpretation ein vertikales Erklärungsmodell zugrunde zu legen, das Produktion, Verteilung und Konsum von Nahrung aufeinander bezieht. Weil mit der Frage der Verfügbarkeit, Verteilung und Qualität von Nahrungsmitteln die Problematik der Gerechtigkeit und das Postulat der Gesundheit ins Spiel kommen, sind auch gesellschaftliche Konfliktkonstellationen involviert. Sowohl Alltags- wie Festtagsspeisen vermochten Gemeinsinn zu generieren bzw. sozialen Abstand und feine Unterschiede zu inszenieren. Die sowohl gemeinschaftsstiftende wie auch sozial polarisierende Rolle des Essens verweist auf die politische Dimension der Ernährung. So ist für das schweizerische "Wir-Bewusstsein" das Spannungsfeld von kultureller Vielfalt (Ernährungsregionalismus) und nationaler Identität (sogenannte Nationalspeisen) wichtig. Diesen Facettenreichtum der Ernährung gilt es im Folgenden im Auge zu behalten.

Urgeschichte bis Frühmittelalter

Menschen sind nach ihrer biologischen Anlage Allesesser. Bis vor wenigen Jahrtausenden richteten sie ihre Ernährung weitgehend nach dem Angebot der Umwelt aus. Im Steppenklima des Eiszeitalters dominierte der Fleischkonsum, ergänzt zum Beispiel durch Vogeleier, wie in Hauterive-Champréveyres (NE) nachgewiesen. Der Verzehr pflanzlicher Nahrung konnte fallweise aus dem Zustand der Zähne erschlossen werden.

Mit dem Getreidebau im Neolithikum nahm der Kohlenhydrat-Anteil an der Ernährung erheblich zu, was bei unausgewogener Kost zu Mangelerscheinungen führen konnte. In den Ufersiedlungen der Schweiz ist jedoch eine abwechslungsreiche, saisonal wechselnde Ernährung durch Reste von Haselnüssen, Beeren, Schlehen und anderen Früchten ausgewiesen. Die Sammelwirtschaft hatte, ebenso wie Jagd und Fischerei, immer noch einen hohen Stellenwert. Vollkornbrötchen aus Sauerteig sind seit ca. 3600 v.Chr. nachgewiesen. Der Wintervorrat bestand aus Getreide, Dörrfrüchten (v.a. Äpfeln) und dem Fleisch von im Herbst geschlachteten Haustieren, das möglicherweise geräuchert wurde.

Salz dürfte allerdings erst im 2. Jahrtausend v.Chr. in grösserem Ausmass als Konservierungsmittel verwendet worden sein; das Spurenbild an den Solequellen und die Bergsalz-Lagerstätten legen diesen Schluss nahe. Im Unterengadin nutzte die Bevölkerung die klimatischen Gegebenheiten vermutlich bereits im 1. Jahrtausend v.Chr. zur Herstellung von Trockenfleisch; gelochte Schulterblätter von Rind und Schwein deuten darauf hin. Honig wurde wohl schon längst als Süssstoff gesammelt, wie dies Felsbilder aus Spanien nahelegen. In der Schweiz ist die Verwendung von Bienenwachs und damit indirekt auch die Gewinnung von Honig (Bienenhaltung) im 2. Jahrtausend v.Chr. gut belegt.

In der Bronzezeit wurden neue Kulturpflanzen eingeführt, die Kolben- und Rispenhirse sowie die Ackerbohne (Ackerbau). Diese wenig anspruchsvolle Hülsenfrucht ist besonders in alpinen Siedlungen sehr gut vertreten. Hirse diente möglicherweise nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als Ausgangsstoff zum Brauen von Bier. Mit Sicherheit kam den Trinksitten im 2. und vor allem im 1. Jahrtausend v.Chr. im gesellschaftlichen Leben einige Bedeutung zu, was unter anderem an Geschirrsätzen unter den Grabbeigaben erkennbar wird. Die sozialen Aspekte der Ernährung und ihre Einbettung in den allgemeinen Trend einer verstärkten Funktions- und Arbeitsteilung lassen sich im Lauf des 1. Jahrtausends v.Chr. konkreter fassen. Durch Amphoren sind Wein und Olivenöl aus dem westlichen Mittelmeerraum in einzelnen Siedlungen der Schweiz ausgewiesen.

Im Römischen Reich nahmen vor allem die sozial besser gestellten Bevölkerungskreise neue Ernährungsgewohnheiten an. Mediterrane Spezialitäten wie Fischsaucen wurden importiert, Weinbau und Obstbau breiteten sich aus. In den grossen römischen Gutshöfen lassen sich Unterschiede zwischen dem Speisezettel des Herrenhauses und des Gesindetraktes fassen, so etwa im Fleischkonsum. Ausserdem bereicherten Austern, Spargeln, Feigen, Datteln und exotische Gewürze die Tafel in den Villen. Zu den bleibenden Errungenschaften, welche die politischen Veränderungen der Spätantike überdauerten, scheint die Gartenkultur (Gartenbau) zu gehören. Wurde früher eher angenommen, im 5. Jahrhundert sei dieses Kulturelement nördlich der Alpen vorübergehend verschwunden und später von den Klöstern (Gärten) wieder eingeführt worden, so vermittelt nun die Siedlungsforschung ein differenzierteres Bild. Es scheint, dass zumindest punktuell die Pflege der Gärten und Obstbäume und der Anbau von Gemüse- und Gewürzpflanzen (Gewürze, Heilkräuter) den Wandel der Machtstrukturen überdauerte.

Hoch- und Spätmittelalter

Die wachsende Bevölkerung verlangte im Hochmittelalter eine Intensivierung des Ackerbaus; zugleich verloren Wald (Sammelwirtschaft) und Weide als Nahrungslieferanten an Bedeutung. Schriftliche Quellen geben Einblick in die Ernährung im klösterlichen Umfeld. Die Tischsegnungen des St. Galler Mönchs Ekkehard IV. zählen die Speisen und Getränke auf, welche der Autor (vor 1025) aus Alltag und Literatur kannte: verschiedene Brotsorten (Bäckerei), Salz, Fische, Geflügel, Schlachtvieh, Wildbret, Milchprodukte (Milchwirtschaft), Obst, Gewürze und Heilkräuter, Gemüse, Pilze, Wein, Most, gewürzten Wein, Honigwein (Met) und Bier.

Die Informationen über die Ernährung verdichten sich im Spätmittelalter. Für breite Bevölkerungsschichten waren Getreide, in der Südschweiz auch Kastanien, wichtigste Kalorienlieferanten, gefolgt von Hülsenfrüchten, Gemüse, getrocknetem oder gekochtem Obst und bestenfalls Fleisch als Zukost. "Mus und Brot" waren synonym für Alltagsspeise, Naturallöhne in Form von Broten verbreitet. Milchprodukte dominierten auch in Gebieten mit marktorientierter Viehwirtschaft keineswegs. Einzig Restprodukte der Milchverarbeitung wurden an Ort und Stelle in Ergänzung zur Getreidenahrung konsumiert. Als Kochfett erlangte jedoch die Butter grosse Bedeutung, wie zahlreiche Fastendispensen (sogenannte Butterbriefe) zeigen. Käse, ein wichtiger Energiespender, war bevorzugte Nahrung während der Erntezeit.

Im Vergleich mit der frühen Neuzeit, als sich das Verhältnis zwischen Nahrungsproduktion und Bevölkerungszahl wieder verschlechterte, war der Fleischkonsum im Spätmittelalter hoch. Deutlich wird dies zum Beispiel in Verpfründungsverträgen des St. Galler Heiliggeistspitals, das im Spätmittelalter selbst den tiefstklassierten Pfründnern eine abwechslungsreiche Kost bot. Über die Ernährung von Oberschichten informieren Rezeptsammlungen und Speiseordnungen: Die auch in der Schweiz bekannte, dem Küchenmeister König Karls V. von Frankreich Taillevent zugeschriebene Rezeptsammlung "Viandier" (Mitte 14. Jh.), das Kochbuch von Maître Chiquart (um 1420) für den savoyischen Hof und die Speiseordnung des St. Galler Abts Ulrich Rösch (um 1480) für den Hof Wil zeugen von einem hohen Fleischverzehr, der Innereien mit einschloss. An den über das ganze Kirchenjahr verteilten Abstinenztagen wurde das Fleisch durch Fisch ersetzt (sogenannte magere Kost), der jedoch nicht nur Fastenspeise, sondern allgemein verbreitetes Nahrungsmittel war. Städtische Oberschichten deckten ihren Nahrungsmittelbedarf durch eigene Landgüter oder über die städtischen Märkte, die unter lebensmittelpolizeilicher Aufsicht der Obrigkeit standen. Ausgeschiedene Lebensmittel, die nicht zwingend verdorben sein mussten, wurden an Arme verkauft oder abgegeben. Mittel- und Unterschichten konnten nur an Feier- und Schlachttagen mit dem Fleischkonsum der Oberschicht Schritt halten, zum Beispiel an den Zehntmählern: So wollten die Kleinhüninger Dinghofbauern am Tag der Zehntabgabe unter anderem mit gepfeffertem Ochsenfleisch, Kalbfleisch, Huhn, Weissbrot, Rot- und Weisswein verköstigt werden. Aufschlussreich sind auch die Rechnungen der Basler Domhütte für die Verpflegung ihrer Facharbeiter im Krisenjahr 1438 (Getreidenahrung nicht berücksichtigt): Fleischkäufe belasteten das Budget zu 54%, Fisch zu 27% (inklusive gesalzener und getrockneter Meerfisch).

Karl der Kühne und Kaiser Friedrich III. in Trier 1473. Illustration aus der Eidgenössischen Chronik von Werner Schodeler, wiedergegeben 1572 von Christoph Silberysen (Aargauer Kantonsbibliothek, Aarau, MsWettF 16: 2, Fol. 36v; e-codices).
Karl der Kühne und Kaiser Friedrich III. in Trier 1473. Illustration aus der Eidgenössischen Chronik von Werner Schodeler, wiedergegeben 1572 von Christoph Silberysen (Aargauer Kantonsbibliothek, Aarau, MsWettF 16: 2, Fol. 36v; e-codices). […]

Ergebnisse zur spätmittelalterlichen Ernährung liegen unter anderem von Latrinen-Untersuchungen in Basel, Zürich, Konstanz, Schaffhausen und Biel vor: Nachgewiesen sind unter anderem Obst, Nüsse, Beeren, Gartengemüse und Südfrüchte wie Granatäpfel und Feigen. Knochenreste führen die Latrinensedimente hauptsächlich von Rindern, Schafen, Schweinen, Ziegen und Wildtieren. Weil sich die meisten untersuchten Latrinen in gehobenen Wohnquartieren befanden, spiegeln die Ergebnisse eher die Ernährung der Oberschicht. Zur Getreidenahrung geben die Latrinen selten Aufschlüsse. Hingegen sind verkohlte Getreidekörner im Boden gut erhalten: In Brandschichten von sechs Holzhäusern aus dem 13.-15. Jahrhundert in Laufen sind Hafer und Dinkel als Hauptgetreide nachgewiesen, daneben Einkorn, Emmer, Saatweizen, Gerste, Hirse und Roggen (mit dem toxischen Mutterkornpilz) sowie die Hülsenfrüchte Ackerbohne, Erbse, Linse und Saatwicke. Eine zweite Pflanzengruppe umfasste 25 Sonderkulturen, darunter Knoblauch, Rüben, Kohl, Nüsse und Obst sowie Gewürz- und Heilpflanzen.

Zeichen von Mangel- und Fehlernährung (z.B. Eisenmangel) – wie schwammige Auflagerungen am Dach der Augenhöhle (Cribra orbitalia), sogenannte Harrislinien (Wachstumshemmung an Langknochen von Kleinkindern) und rachitische Knochendeformationen – wurden bei der Untersuchung der Kirchenwüstung Bühl bei Nänikon diagnostiziert (u.a. 73 Kinderbestattungen aus dem späten 15. und frühen 16. Jh.), Cribra orbitalia gar bei einem Sechstel aller Nichterwachsenen. Solche Ergebnisse werfen ein Schlaglicht auf wiederholte Mangellagen (Hungersnöte) in einer spätmittelalterlichen ländlichen Gesellschaft.

Neuzeit

Neue Speisen und Protoindustrialisierung (16.-18. Jahrhundert)

Während Jahrhunderten beherrschten zwei gegensätzliche Stereotypen das Bild der Ernährung in der Schweiz: Einerseits galt sie als "Armenhaus", das seine Bevölkerung nicht zu ernähren imstande war, weshalb junge Männer sich in Fremde Dienste stellten. Andererseits galten die helvetischen Hirten als dank ihrer frugalen Ernährungsweise kerngesunde Kraftpakete.

Sozialhistorische Untersuchungen zeigen differenzierte Ernährungsmuster, die im Zusammenhang mit der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Entfaltung der Agrarzonen stehen. Dem nordalpinen "Hirtenland" und dem mittelländischen "Kornland" können die beiden vorherrschenden Muster zugeordnet werden: Ersterem eine Kombination von Milchspeisen, Käse, Nüssen, Beeren, Pilzen, Gemüse und Obst, Letzterem ein Zusammenspiel von Mus, Suppen, Brot, Hülsenfrüchten, Gemüse und eventuell Wein. In beiden Räumen spielte Brot eine wichtige Rolle. Insgesamt war Essen und Trinken saisonalen Schwankungen stark unterworfen. Im Winter kamen statt der Frischgemüse aus dem Gartenbau Dörrfrüchte und Sauerkraut auf den Tisch. In Mangelzeiten mussten verstärkt Eicheln, Rüben, Wurzeln und mit Ersatzstoffen gestreckte Brotsorten verzehrt werden.

Der Auffassung, dass die Ernährung vom 16. bis ins 19. Jahrhundert auf Selbstversorgung beruht habe und ein Spiegelbild der lokalen Agrarproduktion gewesen sei, ist entgegenzuhalten, dass die meisten Regionen der Schweiz bereits früh in grössere Wirtschaftsräume eingebunden wurden, was sich auch auf die Ernährung auswirkte. Dabei gilt es vor allem zwei Aspekte zu berücksichtigen:

Vom Beginn der Neuzeit an verengten sich erstens mit dem Bevölkerungswachstum bei stagnierender agrarischer Produktivität die Nahrungsspielräume, was eine Vegetabilisierung und eine Verarmung der Kost mit sich brachte. Die Versorgung war unregelmässig und unsicher, Hungersnöte und Teuerungen die Folge. Die Durchsetzung eines "Brei-Mus-Standards" fand allerdings in einem Konjunkturszenario statt, das auch lange Prosperitätsphasen aufweist, die zum Beispiel eine reichhaltigere Ernährung (inklusive Milchprodukte, Fleisch) ermöglichten.

Zweitens begannen europäischer Kolonialismus und kulinarische Innovation zusammenzuwirken. Die Eroberung Amerikas veränderte die Nahrungsgeografie und löste, zunächst bei Festessen (Zucker, Gebäcke, Früchte usw.), kulturelle Aneignungs- und Veränderungsprozesse aus. Die Akkulturation von Nahrungsmitteln blieb lange auf vor allem städtische Oberschichten beschränkt. Im 18. Jahrhundert kam es mit dem Durchbruch der Kartoffel auch zu einer exemplarischen Notinnovation von unten.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert fand eine von der Protoindustrialisierung ausgehende "Nahrungsrevolution" statt. Neben der Kartoffel setzten sich der Kaffee und – etwas später – der Branntwein durch, wobei oft schlechte Surrogate vorherrschten (Kaffeeersatz, zuckerhaltige Getränke, sogenannter Fusel). Im Tessin, im St. Galler Rheintal und in Teilen Graubündens verbreitete sich der Mais und damit auch das Polenta-Frühstück, das einen Kontrast zum in Mittelland, Jura und Voralpen beliebten Kartoffel-Milchkaffee-Frühstück darstellte. Insgesamt wirkte dieses Innovationsbündel nachhaltiger auf den soziokulturellen Wandel der Ernährung ein als die nachfolgende Industrialisierung.

Wirtschaftswachstum, Fabrikindustrialisierung und Urbanisierung (19. Jahrhundert)

Beschreibung der Teuerung von 1817. Anonyme Zeichnung (Toggenburger Museum, Lichtensteig; Fotografie Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann).
Beschreibung der Teuerung von 1817. Anonyme Zeichnung (Toggenburger Museum, Lichtensteig; Fotografie Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann). […]

Mit der Fabrikindustrialisierung verallgemeinerten sich die im 18. Jahrhundert ausgeformten Ernährungsmuster. Die Hungersnöte von 1816-1817 und 1845-1847 waren die letzten Subsistenzkrisen. In der Folge koppelte sich der Konjunkturzyklus von den landwirtschaftlichen Ernteschwankungen ab. Zwar war das Mangelsyndrom noch bis ins ausgehende 19. Jahrhundert nicht überwunden, doch hatten verschiedene zusammenhängende Entwicklungen eine Ausweitung und Stabilisierung des Nahrungsmittelangebots zur Folge.

Vier Prozesse verbesserten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Nahrungsversorgung:

1) Die zweite Agrarrevolution bewirkte im 19. Jahrhundert eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität. Durch Kommerzialisierung und Spezialisierung entstand eine leistungsfähige Vieh- und Milchwirtschaft, die sowohl exportierte als auch die einheimischen Absatzmärkte und industriellen Abnehmer versorgte.

2) Der Auf- und Ausbau der Verkehrswege und Transportkapazitäten ermöglichte eine Verschränkung regionaler Märkte und den Aufbau eines Weltmarkts. Getreide wurde zum wichtigsten internationalen Handelsgut, und die Möglichkeit, auf billige überseeische "Brotressourcen" zurückzugreifen, erleichterte die Ausbildung moderner industriegesellschaftlicher Beschäftigungs- und Siedlungsstrukturen.

3) Auch wenn die Metzgerei in der Schweiz nie einen Konzentrationsgrad wie in den Industrieregionen im Nordosten der USA erreichte, kam die Fleischwirtschaft durch die Zentralisierung in Schlachthöfen doch in den Sog der industriewirtschaftlichen Effizienzsteigerung.

Fliessbandarbeiterinnen in der Konservenfabrik Hero in Frauenfeld. Fotografie von Hans Baumgartner, 1962 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz.
Fliessbandarbeiterinnen in der Konservenfabrik Hero in Frauenfeld. Fotografie von Hans Baumgartner, 1962 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz.

4) Der Aufstieg der Nahrungs- und Genussmittelindustrie und namentlich der Konservenindustrie schuf ein neues Feld für unternehmerische Investition. Schweizer Firmen traten vor allem in den Bereichen Milchverarbeitung (Kondensmilch, Milchpulver), Schokolade-Herstellung, Teigwarenfabrikation und Suppennahrung hervor. Resultat war ein steigendes und verstetigtes Angebot an Nahrungsmitteln, die aufgrund des mit dem Wirtschaftswachstum verbundenen Einkommenseffekts von immer breiteren Bevölkerungsschichten erstanden werden konnten.

Marktplatz mit Ständen der staatlichen Lebensmittelfürsorge in Basel, um 1918 (Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD 13, 785b).
Marktplatz mit Ständen der staatlichen Lebensmittelfürsorge in Basel, um 1918 (Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD 13, 785b). […]

Der Industrialisierungsprozess provozierte indes auch Ernährungsprobleme, wobei ebenfalls vier Aspekte auseinandergehalten werden können: Mit dem Rückgang der Selbstversorgung stieg erstens die Abhängigkeit von Einkommen. Auch wenn die Kaufkraft auf lange Sicht beträchtlich stieg, machte die Monetarisierung der Ernährung doch breite Bevölkerungsschichten abhängig von einer anonymen Marktkonjunktur. Zudem verschwand, wie etwa in Jeremias Gotthelfs "Die Käserei in der Vehfreude" (1835) nachzulesen, die Milch von den Tischen in die Exportwirtschaft. Hinzu kam das Problem der Verschlechterung und Fälschung von Nahrungsmitteln: Vor allem in städtischen Zentren nahm deren Qualität mit der Verlängerung der Interdependenzketten zwischen Produzenten und Konsumenten ab. Ein eidgenössisches Lebensmittelgesetz wurde erst 1905 eingeführt. Drittens erzwang die Fabrikarbeit eine Trennung von Arbeit und Wohnen, von Erwerbs- und Hausarbeit und stellte damit eingespielte Formen der Arbeitsteilung und Alltagsorganisation in Frage. Gerade die Ernährung war ein sensitiver Bereich, in dem sich Traditionsbrüche und Fremdbestimmung bemerkbar machten. Weil Fabrikarbeit in einer ersten Industrialisierungsphase grossteils von Frauen geleistet wurde, kam es zu Rollenkonflikten, die sich meist negativ auf die Ernährung auswirkten. Eng damit zusammen hängt viertens der Aufstieg neuer "Nahrungs-Surrogate": Insbesondere Schnaps und Zucker erfreuten sich grosser Popularität, was auch bei steigenden Einkommen eine physiologische Verschlechterung der Ernährung zur Folge haben konnte.

Verwissenschaftlichung und Ideologisierung, Postulate und Statistik (erste Hälfte 20. Jahrhundert)

Die öffentliche Diskussion um die Auswirkungen der Industrialisierung auf das Essen und Trinken geriet vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an zunehmend in das Gravitationsfeld der Ernährungswissenschaft. Diese war zunächst einem arbeitszentrierten, thermodynamischen Körperverständnis verpflichtet. Im Lauf des 20. Jahrhunderts propagierte sie eine Reihe von Gesundheitsideologien in Form von Geboten (z.B. mehr Vitamine, Ballaststoffe) und Verboten (z.B. weniger Alkohol, Fett) und übernahm damit Postulate ernährungsreformerischer Konzepte (Lebensreformbewegung). Die Ernährung war bevorzugtes Thema einer von bildungsbürgerlichen Kreisen beherrschten Volksaufklärung, die oft einen missionarischen Einschlag hatte und sozialdisziplinierende Absichten verfolgte. Zugleich öffneten sich neue Betätigungsfelder für die Ausbildung von Frauen im Kochen und Haushalten sowie für die Formalisierung des kulinarischen Wissens, vor allem durch Kochbuch- und Ratgeberliteratur. Aus der stärkeren Aufladung von Mahlzeiten mit nationalen Stereotypen ging in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre das Harmonie stiftende Fondue hervor, das als Gegenstück zum konflikthaften Röstigraben verstanden werden kann, obwohl auch dieser ein ernährungsgeschichtlich nicht haltbares Cliché verkörpert. Die in der Zwischenkriegszeit verstärkt propagierte Ernährungsreform blieb in ihren Auswirkungen demgegenüber marginal, auch wenn das Birchermüesli Maximilian Oskar Bircher-Benners später zu internationaler Berühmtheit aufsteigen sollte.

Plakat, 1942 gestaltet von Herbert Leupin und herausgegeben von Coop (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat, 1942 gestaltet von Herbert Leupin und herausgegeben von Coop (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Soziale, technische und ideelle Faktoren hatten im 19. und 20. Jahrhundert eine nachhaltige Veränderung der Ernährungsgewohnheiten und Geschmackspräferenzen zur Folge, begleitet von einem Bedeutungsverlust der Nahrungsausgaben im Haushaltsbudget. 1830-1875 setzten Arbeiterfamilien für die Ernährung durchschnittlich 62% aller Ausgaben ein. Die wichtigste Rolle spielten Brot und Kaffee (meist ein Surrogat, v.a. Zichorienkaffee), gefolgt von Fleisch, Milch und Kartoffeln. Es gab allerdings ausgeprägte, namentlich geschlechts- und generationenspezifische Abstufungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die "Nahrungsquote" an den Gesamtausgaben der Arbeiter- bzw. Angestelltenhaushalte unter 50% bzw. 40%. 1950 gaben Schweizer Haushalte durchschnittlich weniger als ein Drittel für Nahrung aus, 1995 noch knapp über 10%. Was die Konsumpräferenzen betrifft, so sind Brot und Kartoffeln im langfristigen Trend die grossen Verlierer, während Fleisch, Eier und Gemüse beliebter wurden. Insgesamt schlug der Aufbau einer tierischen "Veredelungswirtschaft" (Tierzucht) mit einer Zunahme des Sortiments tierischer Kalorien durch. Parallel dazu schwächte sich die traditionelle Zentrierung auf Kohlehydrate ab; bei Letzteren wurden stärke- durch zuckerhaltige Lebensmittel substituiert. Insgesamt wurden die Mahlzeiten abwechslungsreicher, aber auch beliebiger.

Entfaltung der Konsumgesellschaft – Überfluss als Problem (zweite Hälfte 20. Jahrhundert)

Nach 1950 brachte ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum präzedenzlose Einkommens- und Kaufkraftsteigerungen in allen Bevölkerungsschichten. Die Umlagerung von Kartoffeln und Getreide auf tierische und fetthaltigere Nahrungsmittel setzte sich fort. Der Anteil gewerblich-industriell hergestellter Produkte stieg; insbesondere die Frischmilch wurde durch eine breite Palette von Milchprodukten verdrängt.

Im Zug dieser Entwicklung kam es noch stärker zu einer Entgrenzung von Ernährungsstilen und Veränderung der Essgewohnheiten. Fünf Aspekte können auseinandergehalten werden: Die Technisierung der Küche und die Rationalisierung des Haushalts, die seit den 1920er Jahren als Leitbild wirkten, erfuhren von den 1950er Jahren an flächendeckende Verbreitung. Sie waren begleitet von neuen Produkten und Zubereitungsarten im Zeichen des Convenience food. Dieser war wiederum eine Facette jener "rasanten Zeiten", die fälschlich auf amerikanisierte Varianten des Fast food reduziert wird. Trotz Konserven und anderen zeitsparenden Produkten ist das Ernährungsmanagement einer Familie anspruchsvoll und zeitintensiv geblieben, und die Erwartung, der Boom der Fertignahrung würde das Ende der Küche einläuten, ist schlecht begründet. Nach den restaurativen 1950er Jahren lassen sich Informalisierungs- und Individualisierungsprozesse feststellen. Sie akzentuierten sich mit dem subkulturellen Schub, der in der 1968er Bewegung kulminierte. Der Abschied von den rigorosen bürgerlichen Tischsitten und die Hinwendung zum sozial deregulierten "unkomplizierten Essen" war begleitet von der Herausbildung von Lebensstilgruppen und – in neuester Zeit – vom Aufstieg einer Erlebnisgastronomie, die Mahlzeiten und Umgebung ästhetisiert und stilisiert (Gasthäuser). Zwischen Nivellierungstendenzen und Diversitätssteigerung kam es zu neuen Verbindungen. Im Zuge der Internationalisierung der Nahrungsmittelmärkte wurde nicht nur die Saisonalität unterlaufen; eine bunte Spezialitäten-Küche konfrontiert auch in neuer Weise mit der Qual der Wahl. Gegenläufig zum Konturverlust kantonaler Küchen und schichtspezifischer Ernährungsstile werden sogenannte nationale und regionale Gerichte folkloristisch aufgewertet und für touristische Zwecke eingesetzt. So ist die typische Schweizer Küche in ihrer föderalistischen Fragmentierung auch im Zeitalter forcierter Globalisierung keineswegs einem Niedergang ausgesetzt. Es lässt sich gerade umgekehrt ein werbeintensiver Trend zur Erfindung kulinarischer Traditionen konstatieren.

In Bezug auf mit der Ernährung verbundene Probleme ist dagegen eine transnationale Konvergenz zu beobachten, wobei zwei Aspekte hervorzuheben sind: Zum einen lässt sich die ökologische Dimension nicht mehr ausblenden. Die importabhängige Schweiz lebt gerade unter dem Ernährungsaspekt auf "grossem Fuss". Gemessen an ihrem sogenannten ökologischen Fussabdruck (Gesamtbeanspruchung von Ressourcen pro Flächeneinheit) benötigt sie fünfmal mehr Raum, als innerhalb der Landesgrenzen zur Verfügung steht. Auch in qualitativer Hinsicht mehrt sich das Unbehagen, das Konsumentinnen und Konsumenten gegenüber verschiedenen industriell, insbesondere gentechnisch erzeugten Nahrungsmitteln empfinden. Als Reaktion zeichnet sich ein Trend zu reduziertem Fleischkonsum (Vegetarismus) ab, und Bio-Angebote haben auch Eingang bei Grossverteilern (z.B. Coop, Migros) gefunden. Zum anderen bereitet der Überfluss Schwierigkeiten. Fitnessideologie, Gesundheitsbewusstsein und Schlankheitskult haben die Ernährung symbolisch umgepolt. Die Angst vor dem Hunger ist der Bedrohung durch übermässige und unausgewogene Ernährung gewichen, welche das Streben nach körperlichen Schönheitsidealen und die physisch-psychische Leistungsfähigkeit bedrohen. Auch dieses Problem teilt die Schweiz mit anderen Konsumgesellschaften (Konsumverhalten).

Quellen und Literatur

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Weblinks

Zitiervorschlag

Jakob Tanner; Margarita Primas; Martin Illi: "Ernährung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 01.03.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016224/2017-03-01/, konsultiert am 17.04.2024.