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Ess- und Trinksitten

Ess- und Trinksitten sind mit Essen und Trinken verbundene Bräuche und Verhaltensnormen, die insbesondere das Benehmen bei Tisch (Tischsitten) regeln. Nebst der Ausstattung von Küche und Tisch gehören zu ihnen auch die Reihenfolge, die Menge oder die Auswahl der Speisen (Ernährung). Die Ess- und Trinksitten sind als Merkmale jeder Kulturgesellschaft stetem Wandel unterworfen.

Die Familie des Basler Zunftmeisters Hans Rudolf Faesch, 1559. Tempera (lackiert) auf Leinwand von Hans Hug Kluber (Kunstmuseum Basel; Fotografie Martin Bühler).
Die Familie des Basler Zunftmeisters Hans Rudolf Faesch, 1559. Tempera (lackiert) auf Leinwand von Hans Hug Kluber (Kunstmuseum Basel; Fotografie Martin Bühler). […]

Tischzucht: Entstehung und Entwicklung von Ess- und Trinksitten

Im Mittelalter förderten die sogenannten Tischzuchten – lehrhafte, meist gereimte Dichtungen mit Anleitung zum Benehmen bei Tisch – die Entstehung einer verfeinerten Esskultur. Diese religiös fundierten Verhaltensregeln zur Beherrschung der Triebhaftigkeit entstammten der klösterlichen Kultur des 12. Jahrhunderts. Der Adel verfeinerte diese Regeln zum Tischzeremoniell, das der ständischen Distinktion diente. Die Ess- und Trinksitten der Adligen wurden zuerst von der städtischen Oberschicht, ab Ende des 15. Jahrhunderts über die Zünfte auch im Handwerkerstand nachgeahmt. Tischzuchten stellten vorbildliches Benehmen dar oder geisselten auf satirische Weise Missstände. So karikierte um 1400 der Konstanzer Heinrich Wittenwiler im Versepos «Der Ring» schlechte Ess- und Trinksitten der Adligen und Bauern im Toggenburg. Bürgerliche Tischzuchten wie 1645 jene von Conrad Meyer in Zürich gaben Anleitung zum Umgang mit Gästen, zum Decken und Schmücken der Tafel sowie zur Zubereitung und zum Auftragen der Speisen. Sie umfassten Tischgebet, Hygiene (Händewaschen) und Tischmanieren. Im 18. und 19. Jahrhundert lösten allgemeinere Regeln für Umgangsformen, unter anderem Adolph von Knigges Buch «Über den Umgang mit Menschen» (Anstand) die Tischzuchten ab.

Während des Laupenkriegs bereiteten die Berner den verbündeten Truppen der Waldstätte eine Mahlzeit. Ausschnitt einer Illustration aus der Spiezer Chronik (1485) von Diebold Schilling (Burgerbibliothek Bern, Mss.h.h.I.16, S. 268).
Während des Laupenkriegs bereiteten die Berner den verbündeten Truppen der Waldstätte eine Mahlzeit. Ausschnitt einer Illustration aus der Spiezer Chronik (1485) von Diebold Schilling (Burgerbibliothek Bern, Mss.h.h.I.16, S. 268). […]

Wie die Kleidung spiegelten die Ess- und Trinksitten die ständisch-gesellschaftliche und wirtschaftliche Zugehörigkeit. Sie unterlagen daher denselben Gesetzen des Wandels: Die städtische Oberschicht hob sich durch ständige Verfeinerung bewusst vom Volk ab, wurde aber von der städtischen Mittel- und ländlichen Oberschicht nachgeahmt, obwohl deren Sitten einfacheren Zuschnitts waren. Die Sorge der städtischen und ländlichen Unterschichten galt hingegen weit mehr der Ernährungslage.

Gemeinsames Essen und Trinken

Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit betrafen Ess- und Trinksitten ausschliesslich das Essen und Trinken in Gemeinschaft, dem Schutz und Regelung durch das geistliche und weltliche Recht zukam: In der Kirche ist das gemeinsame Abendmahl (Kommunion) bis in die Gegenwart Zentrum des Kults geblieben. Gemeinsame Toten-, Jahrzeit-, Taufe- und Hochzeitsmähler besiegeln kirchlich-kultische Handlungen. Am «Tisch des Herrn» (Altar) fand der Verfolgte einst Asyl. Im weltlichen Recht stand die Tischgemeinschaft symbolisch für die Ehe- und Erbengemeinschaft. Sie stärkte den beschworenen Frieden (Trostung) unter den Parteien. Beim gemeinsamen Trunk wurden Vertragsabschlüsse rechtswirksam (u.a. beim Weinkauf). In der Regel beschloss ein gemeinsamer Imbiss (Zeche) öffentliche Anlässe wie Gerichts- und Schwörtage, Handwerksbote, Grenz- und Flurbegehungen. In der ländlichen Gesellschaft bestand ein verbreitetes Recht auf gestiftete Mähler, die nicht Teil von Arbeitslöhnen waren bzw. über diese hinausgingen (z.B. bei Zins- und Zehntablieferungen und anlässlich der Leistung von Frondiensten). Besonders festlich wurden Ernte- und Schlachtmähler und die Aufrichte gefeiert. Die gereichten Speisen waren traditionell festgelegt und hoben sich vom Alltag ab. Ihre Darbietung war aber einfach: Gegessen wurde aus einer gemeinsamen Schüssel mit dem eigenen Holzlöffel, getrunken aus dem eigenen Holznapf. Diese Sitten hielten sich vorwiegend in ländlichen Gegenden bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Wesentlich gehobener und aufwendiger waren die Jahresmähler der städtischen bürgerlichen Gesellschaften (Herren-, Kaufleutestuben), die Rats- und Zunftmähler, die sich nach den Ess- und Trinksitten der Oberschicht richteten. Dazu gehörten die reiche Ausstattung des Tischs mit Tischlaken und Tischschmuck (Zunftinsignien, Leuchter, Blumen), Besteck (Löffel, Messer, Pfriem, ab dem 16. Jh. Gabel), individuelle Teller und Becher. Geschöpft wurde aus Platten und Schüsseln, ausgeschenkt aus Zinn- und Silberkannen. Ess- und Trinkgeschirr waren ein wichtiger Posten des Vermögens von Zünften und patrizisch-aristokratischen Familien. Die mehrgängigen, zum Teil von Musik umrahmten Essen dauerten Stunden.

In allen Gasthäusern assen und tranken die Logiergäste am gemeinsamen Gasttisch. Allen Gästen wurde gleichzeitig das Mahl serviert. Diese Sitte führten ab 1830 moderne Hotels als Table d'hôte fort. Die Trinksitten in den Trinkstuben der Herren und Zünfte oder in öffentlichen Schankstuben von Tavernen und Pinten waren von Männergesellschaften geprägt. Charakteristisch war das Zutrinken mit Trinkzwang, was oft böse Folgen zeitigte und trotz obrigkeitlicher Verbote auch für junge Männer galt. Ab dem 18. Jahrhundert wurde es im Comment (Bier-, Trinkcomment) der Studentenverbindungen ritualisiert.

Alltägliche und festliche Ess- und Trinksitten

Mahlzeit einer vielköpfigen Bündner Bauernfamilie in Vrin. Fotografie von Ernst Brunner, 1944 (Schweizerisches Institut für Volkskunde, Basel).
Mahlzeit einer vielköpfigen Bündner Bauernfamilie in Vrin. Fotografie von Ernst Brunner, 1944 (Schweizerisches Institut für Volkskunde, Basel).

Zu den Ess- und Trinksitten des bäuerlich-ländlichen Alltags zählten warme Hauptmahlzeiten morgens und mittags sowie verschiedene Imbisse während des Tages (Znüni, Zvieri, Abendessen). Der Speiseplan (Breie, Brot, Kraut, Obst, ab dem 18. Jh. Kartoffeln) war frugal und saisonal bestimmt, die Getränke waren Wasser und Wein und in Gebieten der Viehwirtschaft auch Milch. Auf Monate der Fülle (Ernten und Schlachten) von Mitte Juli bis Mitte Januar folgten solche des Mangels, einschliesslich der 40-tägigen Fastenzeit von Aschermittwoch bis Ostern. An kirchlichen und weltlichen Feiertagen liessen überbordende Ess- und Trinksitten und üppig-unmässiger Genuss traditioneller Getränke und Speisen (z.B. Gebäck an der Kirchweih) die Festteilnehmer den kargen Alltag vergessen. Bei Ernte- und Schlachtmählern und bei Hochzeitsgelagen gab es Unmengen von Würsten, Rauch-, Sied- und Bratfleisch. Sittenmandate reformierter und katholischer Obrigkeiten prangerten diese ruinöse Verschwendung erfolglos an. Zwar wurde auch in bürgerlichen, patrizisch-aristokratischen Kreisen an Festtagen ein grosser Aufwand betrieben, doch war die Essensmenge durch die kultivierte Mehrgängigkeit der Festmähler kleiner und von aufbereitetem Wein mit diätetischer Wirkung begleitet.

Zu den Ess- und Trinksitten gehörte die feste Sitzordnung am Tisch gemäss der Rangordnung der Tischgenossen: In der Regel sass der Hausvater oben am Tisch, die Hausfrau in seiner Nähe, gefolgt von den sich gegenübersitzenden Söhnen und Töchtern. Das Gesinde ass in der Küche. Am bäuerlichen Tisch sassen von oben nach unten die Familie, die Knechte und Mägde, Störhandwerker und Taglöhner.

Arbeiter des Unternehmens Von Roll beim Essen. Fotografie von Hans Peter Klauser, 1942 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz.
Arbeiter des Unternehmens Von Roll beim Essen. Fotografie von Hans Peter Klauser, 1942 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz. […]

Ess- und Trinksitten regelten auch die häusliche Gastfreundschaft; viele dieser Bräuche erhielten sich auf dem Land bis ins 20. Jahrhundert. Da die fürsorgliche Zuwendung dem Gast galt, bediente die Hausfrau diesen und den Ehemann, ohne selber am Essen teilzunehmen, und da die Bewirtung den wirtschaftlichen Status des Gastgebers standesgemäss spiegeln musste, tischten vor allem bäuerliche Gastgeber grosse Speisemengen auf und nötigten zum Essen, wie dies Jeremias Gotthelf für Emmentaler Gastereien des 19. Jahrhunderts beschreibt.

Wandel der Ess- und Trinksitten im 19. und 20. Jahrhundert

Imbiss am Buffet des Migros-Restaurants auf der Arteplage von Biel während der Expo.02. Fotografie von Gaëtan Bally © KEYSTONE/Photopress.
Imbiss am Buffet des Migros-Restaurants auf der Arteplage von Biel während der Expo.02. Fotografie von Gaëtan Bally © KEYSTONE/Photopress.

Mit der Verbesserung der Nahrungsversorgung in allen sozialen Schichten im letzten Viertel des 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert lösten sich die traditionellen Ess- und Trinksitten teilweise auf und neue Formen etablierten sich. Speisen, Ernährungsmuster und Tischsitten verloren aufgrund der neuen Lebensführung im Zuge der Industrialisierung zunehmend ihre geographische und gesellschaftliche Zuordnung. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg und ab 1950, als sich der Anteil der industriell hergestellten Produkte vergrösserte (Nahrungs- und Genussmittelindustrie), entstanden neue Gewohnheiten. Der Weg war frei für die Privatisierung und Individualisierung der Ess- und Trinksitten. Streben nach Gesundheit (nährstoffreiches, vegetarisches Essen, Roh- und Reformkost, Kuren und Diäten, funktionelle Nahrungsmittel) und schickem Aussehen (fettarme, leichte Küche, kalorienreduzierte Nahrungsmittel, Schlankheitskuren), Zeitmangel und Massenkonsum (Auswärtsessen, Fertiggerichte, Fastfood) und die Internationalisierung (Pizza, Hamburger, fernöstliche Gerichte) prägten die neuen Ernährungsgewohnheiten. Als gegenläufige Trends entwickelten sich die gastronomische Kultur des «schönen Essens und Trinkens» und die Aufwertung der regionalen und nationalen Küchen. Die teilweise Auflösung der häuslichen Tischgemeinschaft, unter anderem durch individuelle Essenszeiten der Familienmitglieder und die auswärtige Verpflegung in Kantinen oder Restaurants, führten zu veränderten Ess- und Trinksitten. Allein essende Menschen in zunehmender Zahl bildeten neue Lebensstilgruppen (z.B. Besucher von Fastfood-Restaurants). Am Anfang des 21. Jahrhunderts sind die Ess- und Trinksitten geprägt vom Schwinden der schichtspezifischen Unterschiede, der Saisonalität der Nahrung und der Differenzen, die zwischen städtischer und ländlicher Verhaltensweisen bei Tisch bestanden.

Quellen und Literatur

  • R. Weiss, Volkskunde der Schweiz, 1946 (31984), 128-133
  • W. Meyer, Hirsebrei und Hellebarde, 1985, 197-199, 274-276
  • M.R. Schärer, «Ernährung und Essgewohnheiten», in Hb. der schweiz. Volkskultur 1, hg. von P. Hugger, 1992, 253-288
  • A. Wirz, Die Moral auf dem Teller, 1993, 19-43
  • LexMA 8, 806-811
  • HRG 5, 255-257, 361-363
  • Gesellschaft und Ernährung um 1000, hg. von D. Rippmann, B. Neumeister-Taroni, 2000
  • A. Morel, Der gedeckte Tisch, 2001
  • Fünfter Schweiz. Ernährungsbericht, 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Ess- und Trinksitten", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 13.05.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016225/2008-05-13/, konsultiert am 25.03.2025.