Als anthropologische Konstante verbindet sich Kleidung mit den Funktionen Schutz, Scham und Schmuck. In vorindustriellen Gesellschaften diente Kleidung überdies als wichtiges Kommunikationsmittel dazu, Standeszugehörigkeit und soziale Ungleichheit auszudrücken. Kleidung bildete ein komplexes Zeichensystem, das in der hierarchisch strukturierten ständischen Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit erlaubte, Geschlechterrollen, Zugehörigkeit zum Klerus oder Laienstand, Sozialstatus und Prestige einer Person oder einer Gruppe an Stoffqualität, Schnitt, Farben und Accessoires abzulesen.
Mittelalter bis 1800
Kleidung für jeden Stand
Von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert suchten weltliche und kirchliche Obrigkeiten durch Kleiderordnungen die Ständeordnung für die Öffentlichkeit festzuschreiben, um einer befürchteten Verwischung der Standesgrenzen entgegenzuwirken: Adligen Männern und Frauen, Bürgerinnen und Bürgern, Mägden und Landleuten wurde der maximale Kleideraufwand, der für sie als "standesgemäss" galt, detailliert vorgeschrieben (Sittenmandate). Reiche Kleidung bot gerade wohlhabenden bürgerlichen Männern und Frauen sowie sozialen Aufsteigern die Möglichkeit, durch kostbare Stoffe, Pelze und Schmuckstücke Zugehörigkeit zu einem höheren Stand vorzutäuschen.
Kleidung grenzte nicht nur die Stände voneinander ab, sie legte vor allem für Frauen feinere Unterschiede innerhalb desselben Standes fest: Jungfrauen war zur Unterscheidung von verheirateten Frauen und Witwen eine besondere Tracht gestattet. So durften gemäss der Zürcher Kleiderordnung von 1357/1372 nur unverheiratete junge Mädchen ihre Kleider mit Gold, Silber, Seide oder Edelsteinen schmücken, nicht aber Ehefrauen und Witwen.
Ausser der ständischen Abgrenzung sollten Kleider- und allgemeine Luxusordnungen dazu dienen, dem gruppenspezifischen und individuellen Repräsentationsbedürfnis und der demonstrativen Zurschaustellung von Reichtum Schranken zu setzen. Auf diese Weise sollten der "Verschwendungssucht"(Luxus) und der Verarmung vorgebeugt werden. Eine Rolle spielten ausserdem merkantilistische und nationale Gründe. Die Reformation brachte eine Flut neuer Kleidermandate. In Verordnungen und Predigten bemühten sich Huldrych Zwingli, Heinrich Bullinger und Johannes Calvin, ihr reformatorisches Programm auch auf der Ebene der Kleidung durchzusetzen. Sie verlangten von Männern und vor allem von Frauen äusserliche Schlichtheit, Ehrbarkeit, Bescheidenheit und den Verzicht auf aufreizende Kleidung und "sündhaften" Aufwand. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert verlor die Kleidung ihre Bedeutung als Garantin einer "Lesbarkeit der wohlgeordneten Welt". Die ab dem 18. Jahrhundert verbreiteten Modejournale lockerten den Zusammenhang zwischen Kleidungsverhalten und Gesellschaftsordnung, und damit endete auch die Zeit der obrigkeitlichen Kleidermandate.
Schnabelschuhe und Schleppen des Adels
Als politisch kaum durchführbar erwiesen sich obrigkeitliche Versuche, zäh verteidigte Standesprivilegien des Adels anzutasten. Das beste Beispiel für den Zusammenhang zwischen Identität und Repräsentation bietet der Berner Twingherrenstreit vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen der alten Führungsschicht und dem ersten bürgerlichen Schultheissen. Der Diebstahl einer Hostie (1464) war Anlass zu einer Luxusordnung gegen das Tragen der modisch spitz zulaufenden Schnabelschuhe, der langen "Schwänze" (Schleppen) an Frauenkleidern und der kurzen Männerkleider, wie sie die burgundische Hofmode vorschrieb. Eine modifizierte Ordnung von 1470, die auf dem Verbot von Schleppen und Schnabelschuhen beharrte, löste eine öffentliche Demonstration der adligen Damen und Herren aus, die in ostentativer Übertretung des Verbots mit Schleppen und Schnabelschuhen zur Messe erschienen. In der folgenden Gerichtsverhandlung argumentierten sie mit ihrem Recht auf Distinktion und erklärten, sie seien an Werktagen, an denen sie keine seidene oder goldene Kleidung trügen, auf Schnabelschuhe und Schleppen angewiesen, um sich von anderen Leuten zu unterscheiden. Zwar wurden die Adligen mit einer Busse belegt und für einen Monat aus der Stadt verbannt, doch sah sich der Rat aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, sie wieder hereinzubitten und die Kleiderordnung zu ihren Gunsten zu modifizieren.
Kleidung von Randgruppen
Die Ausgrenzung bestimmter Randgruppen erfolgte vom hohen und besonders konsequent vom späten Mittelalter an durch stigmatisierende Kleiderregeln, die sie von der Mehrheit durch negativ besetzte Zeichen optisch unterscheiden sollten. Juden, Aussätzige, Prostituierte, aber auch Almosenempfänger waren von stigmatisierenden vestimentären Symbolen betroffen. Das auffälligste Merkmal der männlichen jüdischen Tracht, der spitze Hut, war ursprünglich ein freiwillig gewähltes, traditionsbedingtes Unterscheidungszeichen. Erst im Lauf des 13. Jahrhunderts wurde diese Kopfbedeckung von der Kirche als verbindliche Tracht für jüdische Männer vorgeschrieben und erhielt dadurch immer mehr den Charakter eines Stigmas. Dies gilt auch für den Schleier der Jüdinnen. Zusätzlich wurde den Juden vom Vierten Laterankonzil (1215) an das Tragen eines (oft gelben) Kreises oder Rings als Judenabzeichen vorgeschrieben. Durch gelbe Ringe werden Juden denn auch in den Schweizer Bilderchroniken kenntlich gemacht. Die ältesten Ordnungen für Prostituierte im deutschsprachigen Raum stammen aus dem 13. Jahrhundert. Sie sollten den unterschiedlichen Status von "ehrbaren" und "lasterhaften" Frauen hervorheben. Eine Zürcher Ordnung von 1319 bestimmte zum Beispiel, dass Prostituierte ein rot keppelin zu tragen hätten. Gelbe, auch grüne und rote Kleidungsstücke und Abzeichen dienten der Sichtbarmachung ihrer Unehrenhaftigkeit. Gelbe Kugelhüte, auf die drei schwarze Würfel mit weissen Augen aufgenäht waren, schrieb der Rat von Basel 1417 für Zuhälter vor, um zu verhindern, dass diese sich mit dem Geld der Prostituierten wie Edelleute kleideten und so die Grenze zwischen Ehrbarkeit und Unehrbarkeit verwischten.
"Schamlose" Kleidermoden
Um die Mitte des 14. Jahrhunderts veränderte sich die Kleidung von Frauen und Männern grundlegend in einer für manche Zeitgenossen schockierenden Weise. Statt der weiten, fliessenden Gewänder trugen Männer und Frauen Kleider, die ihre Körperformen betonten und so ihre sexuelle Identität unterstrichen. Zielscheibe der Kritik waren die "unsittlichen" Décolletés der Frauen, die "obszönen", nur bis zu den Oberschenkeln reichenden Männerröcke und Wämser. Die Obrigkeiten der einzelnen eidgenössischen Orte und sogar die eidgenössische Tagsatzung befassten sich wiederholt mit diesem Thema. Sie verboten die "schamlose" Kleidung und belegten die Fehlbaren samt den Schneidern mit Bussen, doch ohne Erfolg. Das älteste Zürcher Mandat von 1357/1372 untersagte allgemein weit ausgeschnittene und enge, vorne oder auf der Seite geknöpfte Kleidungsstücke, kurze Männerröcke und Schnabelschuhe.
Einen auffallenden Wandel in Kleidung und Verhalten, der in wenigen Jahrzehnten die gesamte Eidgenossenschaft bis in die Dörfer erfasst hatte, registrierten unter anderen die Chronisten Valerius Anshelm und Renward Cysat. Sie machten die aus den Burgunder- und Mailänderkriegen zurückkehrenden Söldner und ihre Begleiterinnen dafür verantwortlich. Mit der Gegenüberstellung der traditionellen und der importierten (welschen) Kleidung verband Valerius Anshelm eine detaillierte Schilderung der Neuerungen mit Kritik an der eidgenössischen Politik und am Pensionenwesen. Für ihn spiegelte die reiche, bunte Kleidung den Zerfall der alteidgenössischen Ordnung und Werte.
An Neuerungen waren gegen Ende des 15. Jahrhunderts bei der Männerkleidung bunte "zerhauene" (geschlitzte und mit andersfarbigen Stoffen unterlegte) Wämser und Hosen, die auffällig verzierten überdimensionierten Schamkapseln, die "gefüllten, grossen Lätze" (braguettes), und die "geteilten" (längsgestreiften mehrfarbigen) Hosen aufgekommen. Neue Modefarbe für Männer und Frauen war Gelb, eine Farbe, die bis anhin nördlich der Alpen mit dem Stigma der Unehrlichkeit behaftet, mit Juden, Häretikern, Prostituierten, Henkern, Narren und dem Verräter Judas assoziiert worden war. Nach Anshelm liess die Berner Obrigkeit die vom spanischen Kriegsvolk übernommene "zerhauene" Kleidung zu Stadt und Land bei fünf Pfund Strafe verbieten. Unter den kostspieligen neuen Moden erwähnt er 1521 zarte lombardische Kragen und Kragenhemden, spanische Kappen, Schuhe, die an den Zehen hängen und doch doppelt soviel kosten wie frühere Bundschuhe, sowie Schleier, Hauben, Kragen, Kittel und Ärmel nach Mailänder Machart und die tiefen Ausschnitte der Frauenkleidung. In seinem Tagebuch von 1536-1567 liefert Felix Platter genaue Beschreibungen der Kleidung, selbst der Farben, die er als Kind trug und die er sich als modebewusster junger Mann in Montpellier und Basel anfertigen liess.
Neue Sitten und Bräuche erfassten zuerst die Städte und Hauptorte. Erst mit einiger Verzögerung begann nach Renward Cysat auch die wohlhabende ländliche Bevölkerung ihre traditionellen, schlichten Kleider aus Landtuch gegen solche aus importierten, teuren Stoffen zu vertauschen. Cysat beschreibt das generationen- und standesspezifische Kleidungsverhalten der eidgenössischen Männer: Die älteren, ehrbaren Einheimischen trügen unzerschnittene Hosen und Wämser nach tütscher Art, knielange Leibröcke und Joppen aus Wolle oder Leinen, die jüngeren hingegen, insbesondere vornehme und solche, die an Kriegszügen teilnähmen, zögen zerschnittene, mit Seide und Taft unterlegte Hosen nach Art der Landsknechte und anderer Deutschen vor. Die neu aufgekommenen Bundschuhe würden von den Angehörigen aller Stände getragen, im Unterschied dazu die welschen lagkeyen Schuhe (Glanzlederschuhe) vornehmlich von Städtern. Der Kleidung des weiblichen Geschlechts brachte Cysat wenig Interesse entgegen.
Einflüsse aus Spanien und Frankreich
Unter spanischem Einfluss begannen sich nach der Mitte des 16. Jahrhunderts schwarze und dunkle Kleiderfarben allgemein durchzusetzen. Der tiefe Ausschnitt der Frauenkleidung verschwand zugunsten des eng an den Hals anschliessenden Hemds, das ein verzierter Kragen abschloss. An Stelle des Baretts trat der fingerhutförmige hohe Hut mit schmaler Krempe. Verheiratete Frauen trugen weiterhin die Haube, jedoch zunehmend ohne die Umhüllung der Kinn- und Backenpartie. Neu waren kugelförmige Kappen aus Bärenfell oder wollene Imitationen. Aufgelockert wurde die nach Stand und Vermögen aus unterschiedlich kostbaren Stoffen angefertigte dunkle Kleidung durch Schmuck, gefältelte weisse Kragen, weisse Hauben und Schürzen, wie sie die zeitgenössischen Porträts und Nachlassinventare überliefern. Qualität und Quantität der Wäsche, blütenweisse Hemden, Kragen und Spitzen wurden vom 17. Jahrhundert an zum Statussymbol des Adels und wohlhabender Bürgerinnen und Bürger.
Im 18. Jahrhundert machte sich französischer Einfluss bemerkbar. Die schwarzen Amtstrachten mit Mühlesteinkragen blieben bei Ratsherren und reformierten Geistlichen vorherrschend. Die französische Mode hielt in der Frauenkleidung Einzug mit Krinolinen und knappen, tief ausgeschnittenen Miedern, in der Männerkleidung mit dunklen Kniehosen, bestickten Röcken, verzierten Westen und weisser Halsbinde mit Spitzenjabot. Hauben und Kappen verschwanden zugunsten sorgfältig frisierter Haartrachten und Perücken.
19. und 20. Jahrhundert
Kleidung im Spannungsfeld von Bedürfnis und Mode
Auch nach 1800 wurden Form, Schnitt, Machart, Farbgebung und Schmuck der Kleidung über das Grundbedürfnis hinaus vor allem von der Mode bestimmt. Eine "Schweizer Kleidung" oder schweizerische Kleidermode gab es nicht. Nach wie vor trug die Oberschicht der Schweizer Städte und Länderorte mit zeitlicher Verspätung, was die Oberschichten in europäischen Zentren trugen – nach 1800 die Mode der bürgerlichen Gesellschaft von Paris. Man kopierte daher in der Schweiz das Chemisekleid mit Décolleté, die lange Hose (Pantalon) mit Stiefeln, Gilet, Frack und Zweispitz, nach 1815 die Mode des Biedermeier: Röcke mit Schinkenärmeln, geschnürter Taille und Seidenschal, dezentfarbene Beinkleider, Gilet, Frack und Zylinder. In der Schweiz wie in ganz Europa orientierte sich die Kleidung nach 1850 neben Paris neu auch an London: Pariser Modehäuser kreierten für die Dame Krinolinen (Reifröcke), Tournüren (ab 1865) und gepolsterte Culs de Paris (ab 1880) bei enger Schnürung, während der Herr nach englischem Geschmack zu Überzieher, Gehrock, Sakko, Hemd mit steifem Kragen und Krawatte griff, was zur klassischen Herrenkleidung des 20. Jahrhunderts wurde. Die Haute Couture – ab 1859 in den Händen von Designern renommierter Modehäuser – blieb mit Exklusivkreation und Einzelherstellung einer reichen Oberschicht vorbehalten. Der Mittelstand, Städter wie Landleute, ahmte die Kleidung der Oberschicht nach.
Mit der industriellen Herstellung von Massen- oder Stapelware im 19. Jahrhundert war die Kleidung für untere Einkommen leichter verfügbar geworden. Seit den 1860er Jahren versorgte die schweizerische Bekleidungsindustrie die Arbeiterbevölkerung mit eigenen Fabrikaten und Importen an Arbeiterblusen, Mänteln usw. Dieses erste einfache Angebot der Konfektion wurde bald erweitert und umfasste gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Artikel in zunehmend modischerer Ausrüstung, angeboten von Warenhäusern für untere und von Modehäusern für mittlere Preisklassen einer vor allem städtischen Kundschaft. Exklusive Fachgeschäfte, in Zürich etwa Seiden-Grieder, Wollen-Keller und Schuh-Bally, boten neben teurer Konfektion auch Masskonfektion und den Schuh nach Mass an.
Die Nachkriegszeiten beider Weltkriege lösten bei der Kleidung Veränderungen aus, befreiten von gesellschaftlichen Tabus und verhalfen Neuem zum Durchbruch: Frauenerwerbsarbeit, Hygiene, Sport und Freizeit revolutionierten die Kleidung und begünstigten langfristig funktionelle, bequeme Alltags- und Strassenkleidung. Seitdem selbst billigste Konfektion die exklusive Kleidung in Stil und Schnitt samt Labels (z.B. Lacoste-Krokodil) kopiert, hebt sich diese vor allem durch teure Materialien, gepflegte Machart und kostbare Ausrüstung von der Massenkonfektion ab.
Kleidung und Kleidermode waren im 19. Jahrhundert Erwachsenenkleidung und Erwachsenenmode. Eigentliche Kinderkleider und Kindermode gab es nicht. Kleine Mädchen und Knaben trugen Röcke, ab 5-7 Jahren dann verkleinerte Ausgaben der Erwachsenenkleidung. Erst in den 1890er Jahren kam die Kindermode städtisch-wohlhabender Kreise auf, unter anderem Matrosenanzüge für Knaben, Hängerkleidchen für Mädchen. Auf dem Land, wo Kinder nicht nur bei Armen die abgelegte, umgearbeitete Kleidung der Eltern nachtrugen, setzte sich Kinderkleidung nur zögernd, in Gebirgstälern erst nach 1950 durch. In den 1960er Jahren kam mit der Teenager- oder Jungen Mode die spezielle Kleidung für Jugendliche auf.
Die Trachtenbewegung (Trachten) der 1920er Jahre ist als Reaktion auf die durch Werbung und Presse bewirkte "Internationalisierung" der Kleidung zu verstehen. Sie war eine der ersten Protestbewegungen der "Anti-Mode" in der Schweiz. Bewegungen nach 1950 (u.a. Rocker, Punks, Hippies, Natur-Freaks) hielten sich an den Kleiderstil ihrer vor allem amerikanischen Vorbilder.
Schneiderkleid – Selbermachen – Kleid ab Stange und aus dem Katalog
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war Massanfertigung für städtische und ländliche Kundschaft das Übliche, das Schneiderhandwerk stark verbreitet (1910 62'400 selbstständige, 5822 in der Konfektion beschäftigte Schneider; 1975 20'685 Beschäftigte in Schneiderei und Konfektion). Bereits in den 1890er Jahren verdrängte dagegen der Fabrikschuh (Schuhindustrie), ob als eleganter Schnürstiefel oder gepechter Volksschuh (Holzböden), die Massanfertigung des Schuhmachers. Frauen mittlerer und unterer Einkommensklassen waren auf das Selbermachen eingerichtet, vor allem seit dem Siegeszug der Nähmaschine (schweizerische Produktion ab 1858) und dem obligatorischen Handarbeitsunterricht. Lehrpläne waren auf Flicken und Selbermachen der wichtigsten Kleidungsstücke (v.a. Unterwäsche, Nachthemden, Schürzen) angelegt, und eine ganze Ratgeberliteratur leitete dazu an. Konfektion ab Stange setzte sich zuerst in Städten und Hauptorten durch. Auf dem Land ging derweil der Konfektionsreisende von Haus zu Haus, bis nach 1950 Modeläden und Boutiquen auch in den Dörfern Modisches präsentierten. Nach 2000 begann schliesslich ein explosionsartig anwachsender Versandhandel Stadt und Land gleichermassen mit trendiger Kleidung für jedes Budget aus Chinas Textilfabriken zu überschwemmen. Das rasch wechselnde billige Angebot leitete junge und zunehmend auch ältere Leute zu dem seit den 1980er Jahren bekannten Konsumverhalten an: Kleidung wird spontan gekauft, oft bloss für einen Anlass oder eine Saison. Flicken lohnt den Aufwand nicht. Was nicht mehr gebraucht wird, geht in die Textilsammlung.
Kleidung für bestimmte Anlässe
Seit jeher verlangten spezielle Anlässe nach besonderer, nur diesem Zweck dienender Kleidung, vor allem im Bereich kirchlicher Feierlichkeiten. Einiges, das noch vor 1950 Sitte und Brauch war – dezent dunkle Kleidung mit Hut zum Kirchenbesuch, schwarze Kleidung für Beerdigung und Trauerjahr – verlor danach an Bedeutung, zuerst bei der städtischen, dann auch bei der ländlichen Bevölkerung. Trotz allgemein gelockerter Bindung an religiöse Bräuche erhielt sich festliches Weiss der Kleidung bei Taufen (Taufkleid des Täuflings), Erstkommunion und Hochzeit. Dagegen verdrängte ein individualistisches Erscheinungsbild allmählich die dunkle Kleidung der Konfirmanden.
Die Berufskleidung, ursprünglich von praktischer Bedeutung wie das Übergewand des Mechanikers, erhielt je nach Beruf zusätzliche Funktion, indem sie ihren Träger (z.B. Koch, Spitalpersonal) von der Umwelt abgrenzte und dessen Rang vermerkte (unterschiedliche Höhe der Kochmützen und Farbe der Spitalschürzen). Informelle Einheitskleidung wie das Kostüm der Geschäftsfrau oder der Anzug mit Krawatte des Bankbeamten warb mit der Korrektheit für Vertrauen in das Geschäft. Darüber hinaus markierte die Uniform im öffentlichen Dienst (u.a. Linienpiloten, Tramführer), bei der Polizei und im Militär den öffentlichen Auftrag und eine übergeordnete Befugnis. In Zeitlosigkeit erstarrt, kennzeichnen Amtstrachten (Talare) Geistliche, Richter und Professoren als öffentliche Amtsträger. Die katholische Kirche regelte bis in die 1970er Jahre die strenge Kleiderordnung. Beim Standesklerus sind Soutane und schwarzer Anzug mit Kollar verschwunden, zeichnen aber traditionalistische Richtungen aus. Strenger sind die Bestimmungen für die Kleidung (Habit) der Ordensleute.
Enormen Einfluss hatten seit den 1880er Jahren gesellschaftliche Anlässe, Sport und neuerdings Freizeit auf die Entstehung neuer Formen von Kleidung: Jede Art von Gesellschaftsanlass verlangte nach hierfür korrekter Kleidung (Cutaway oder Smoking, Robe oder Cocktailkleid). Jede neue Sportart, jede Freizeitbeschäftigung erfand und erfindet ihren spezifischen Dress (Tennis-, Reiter-, Jogger-, Ski-, Reisedress).
Kleidung und Körpergefühl, das Dessous
Während sich das 19. Jahrhundert durch Kleidervorschriften, die "korrekte Kleidung" für jeden Anlass, hervortat, kennzeichneten Tragkomfort und Lässigkeit das 20. Jahrhundert. Schon vor 1900 wurden durch Kleidung verursachte Gesundheitsschäden bekämpft, schädliche Farben (u.a. Chromgelb) verboten, gegen enge Korsetts die taillenlose "Reformkleidung" propagiert und dem Reinigen und Waschen der Kleidung vermehrte Beachtung geschenkt. Die Bekleidungsindustrie begann sich für das thermische Verhalten von Stoffen und deren Luftdurchlässigkeit zu interessieren und experimentierte mit ersten Kunstmaterialien (Kunstseide, Viskose, Kunstfaserindustrie) sowie verschiedene Webarten. Diese ermöglichten seit den 1950er Jahren unter anderem viele Varianten von Gesundheits- und Rheumawäsche oder "atmende" Spezialstoffe bei Sportkleidern.
Erst im 19. Jahrhundert wurde die Unterwäsche, das Dessous, zum festen Zubehör der Kleidung: Unterrock, Unterhemd, neu die knie- bis wadenlange Unterhose waren Bestandteile städtischer Kleidung. Bei der bäuerlichen Kleidung waren mehrere, auch wollene Unterröcke üblich, nicht aber Unterhosen, die sich erst nach 1900 durchsetzten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war selbst genähte Unterwäsche Teil der Aussteuer bürgerlicher und bäuerlicher Bräute. Erst nach 1950 setzte sich die pflegeleichte baumwollene Rundstrickware der einheimischen Industrie durch. Von Designern entworfene, bestickte seidene Dessous lagen ebenso im Trend berufstätiger jüngerer Frauen wie der Body (Einteiler). Das einstige Nachtgewand (-hemd) für Mann und Frau erhielt seit den 1920er Jahren im Pyjama einen bleibenden Konkurrenten.
Neue Lebensweisen, unter anderem mit der Berufsarbeit der (Haus-)Frau und dem Verschwinden der Dienstboten im technisierten Haushalt, stellten seit Beginn des 20. Jahrhunderts neue Ansprüche an die Alltagskleidung: Dazu gehörten Waschbarkeit, seit den 1950er Jahren Pflegeleichtigkeit und Tragkomfort. Kleidungsstücke der 1960er Jahre wie Jeans und T-Shirts, auch in der Schweiz ursprünglich Zeichen von Zivilisationsüberdruss und Protest gegen Etablierte, wirkten bahnbrechend: Jeans öffneten Mädchen den Weg zur Hose und verdrängten die Kurzhose der Knaben. Unter dem Einfluss von Sport und Freizeit fand praktisch-zwanglose Kleidung (ohne Krawatte, Hosendress für Damen, Turnschuhe) zum Teil auch in die Arbeitswelt Eingang. Nicht zuletzt setzte sich ab den 1970er Jahren die Hose der nach Gleichberechtigung strebenden Frau für alle Anlässe durch. Jugendlichkeitsideal und Unisex-Stil glichen die Kleidung der Altersgruppen und Geschlechter einander an.
Die Accessoires
Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörten Tasche und Schirm bei der Dame, Taschenuhr und Spazierstock beim Herrn, bei beiden Hut, Schal, Handschuhe und Taschentuch zur korrekten Kleidung. Die von Konventionen diktierten Accessoires änderten sich teils unter äusseren Zwängen: So etwa verdrängte das Automobil die auch von Kurzfrisur und Dauerwelle konkurrenzierten Hüte. Nach 1960 schwoll das Geschäft mit den von Modehäusern entworfenen Accessoires an, die saisonweise unentbehrliche Neuheiten zu schaffen suchten: Zur Kleidung wurden passender Modeschmuck, Gürtel, Schuh, Hut, Schirm, Tasche und Schal angeboten. Branchenunterschiede verwischten sich: Schuhgeschäfte boten zum Schuh, Modehäuser zum Kleid das perfekte Arrangement an. Während der gepflegte Schuh in der Hohen Mode zum Zubehör verkam, verlor er bei der Alltagskleidung seinen Stellenwert zugunsten von Billig- und Turnschuhen.
Quellen und Literatur
- F. Platter, Tagebuch, hg. von V. Lötscher, 1976
- Schweizer Fam. 1-, 1894-, (Beil. "Das fleissige Hausmütterchen")
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- L. Zehnder, Volkskundliches in der älteren schweiz. Chronistik, 1976
- C. Andersson, Dirnen, Krieger, Narren, 1978
- A. Ribeiro, Dress and Morality, 1986
- A. Hauser, Was für ein Leben, 1987
- G. Wolter, Die Verpackung des männl. Geschlechts, 1988
- O. Blanc, Le vêtement, 1989
- D. Roche, La culture des apparences, 1989
- Zwischen Sein und Schein, hg. von N. Bulst, R. Jütte, 1993, (mit Bibl.)
- C. Walker, «Les lois somptuaires ou le rêve d'un ordre social», in Equinoxe 11, 1994, 111-129
- K. Simon-Muscheid, «"Schweizergelb" und "Judasfarbe"», in ZHF 22, 1995, 317-343, (mit Bibl.)
- K. Wiederkehr-Benz, Sozialpsycholog. Funktionen der Kleidermode, 1973
- I. Weber-Kellermann, Der Kinder neue Kleider, 1985
- U. Brunold-Bigler, «Schonen – Flicken – Umschaffen», in Schweizer Volkskunde 77, 1987, 49-59
- M. Jäger, «Kleidung und Mode», in Hb. der schweiz. Volkskultur 1, hg. von P. Hugger, 1992, 289-314
- Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana 3, 1998, 255-260 (calza), 261-265 (calzee), 266-268 (calzón), 299-304 (camisa), 522-535 (capèll)