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Freizeit

Plakat zur Einweihung des neuen Strandbads von Arbon. Lithografie von Arnold Bosshard, 1933 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat zur Einweihung des neuen Strandbads von Arbon. Lithografie von Arnold Bosshard, 1933 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Als Freizeit wird gewöhnlich diejenige Zeit bezeichnet, die weder der Erwerbs- noch der Familienarbeit noch der Befriedigung physiologischer Bedürfnisse (Schlafen, Essen, Körperpflege) dient und die der Einzelne selbstbestimmt gestalten kann. Je nach sozialer Schicht, Geschlecht und Alter wird sie unterschiedlich genutzt und bewertet. Obwohl es zu allen Zeiten im Lebensrhythmus des Menschen Phasen der Erholung gab, ist Freizeit im heutigen Verständnis eine Folge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Der Wandel der Arbeits- und Zeitorganisation und die damit verbundene Trennung der Lebensbereiche führten zur Herausbildung von arbeitsfreier Restzeit, die gemäss der Leistungsideologie durch Arbeit verdient wurde. Diese Restzeit war nicht mehr zwingend an physische Regeneration oder religiöse Besinnung gebunden, sie wurde zur frei verfügbaren Zeit, zur Freizeit. Je nach wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Hintergrund deckte die Freizeit das Bedürfnis nach Erholung, Zerstreuung und ausgewählten Aktivitäten ab. Der Aspekt der Selbstentfaltung gewann im 20. Jahrhundert für breite Bevölkerungsschichten an Bedeutung.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Auf dem Lindenhof in Zürich. Ofenkachel von Hans Heinrich Pfau, um 1700 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Auf dem Lindenhof in Zürich. Ofenkachel von Hans Heinrich Pfau, um 1700 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).

Das Zeitverständnis des mittelalterlichen Menschen war ein zyklisches, bestimmt durch die Jahreszeiten, Wettereinflüsse und periodisch wiederkehrenden Feste. Die Zeit richtete sich nach der Logik des Notwendigen und wurde flexibel eingeteilt. Ländliche und städtische Gesellschaften kannten vor allem in den Wintermonaten in die Arbeitsabläufe integrierte Zeiten der Entspannung. Einen grossen Teil der arbeitsfreien Zeit machten die hohe Zahl wiederkehrender Feiertage sowie die Sonntage aus. Diese brachten arbeitsfreie Zeit, die kollektiv verankert und kontrolliert war. Viele Feste signalisierten den Übergang zwischen Perioden zunehmender oder abnehmender Arbeitsintensität. Sie dienten dazu, körperlich wieder zu Kräften zu kommen, Gott zu preisen, das gemeinsame Wertsystem zu stärken und Ängste zu bekämpfen. Spiele und der Besuch der Gasthäuser boten den Männern im Alltag Erholung. Allgemein waren Arbeit und Freizeit in der vorindustriellen Zeit noch nicht scharf getrennt. So war im Südtessin die Drusch der Kolbenhirse als Fest organisiert, bei welchem die Dorfjugend zum Geigenspiel tanzend die Körner herauslöste. In den heimindustriellen Gebieten trafen sich die Jungen an Winterabenden, um in «Spinnstubeten» Garn zu spinnen und gleichzeitig der Geselligkeit zu frönen. Vor allem das Berner, Freiburger, Solothurner und Luzerner Patriziat und die Genfer Magistraten fanden sich im 17. Jahrhundert als exklusive Gruppe zu Geselligkeit und Unterhaltung in abgeschlossenen Zirkeln zusammen. Dagegen war die bürgerliche Freizeitgestaltung in Zürich, Basel oder St. Gallen vom eher bescheidenen Lebensstil geprägt.

19. Jahrhundert

Erste Fabrikgesetze regelten Mitte des 19. Jahrhunderts die Arbeitszeit der Arbeiterschaft, die durchschnittlich 12 bis 14 Stunden pro Tag betrug. Das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 brachte den 11-Stunden-Tag. Die tieferen Arbeitszeiten liessen auch in der Arbeiterschaft ein stärkeres Freizeitbewusstsein entstehen. Wirtshausbesuche, zum Teil kombiniert mit Unterhaltungsangeboten, gemeinsames Essen, Erzählen, Disputieren, Gesang, Wandern sowie Feste (z.B. Jahrmärkte) und Bräuche prägten die Freizeit der Arbeiter. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Vereine (Gesangsvereine, Schützen- und Turnvereine, religiöse Vereine) dienten gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Angestellten und Arbeitern verstärkt als Modell zur Herausbildung einer eigenen Vereinskultur. Das Vereinsleben bot nicht nur Bildung, Geselligkeit, Erholung und Unterhaltung, es war auch ein Mittel zur sozialen Verankerung und Selbstdarstellung.

Neben den ausserhäuslichen Aktivitäten spielte die häusliche Sphäre für die Freizeit weiterhin eine wichtige Rolle. Technische Errungenschaften, allen voran Gaslicht und Elektrizität, verlängerten den Tag und damit die freie Zeit. Durch die Alphabetisierung im 19. Jahrhundert wurden Bücher und später auch Zeitschriften von breiten Kreisen der handwerklichen und bäuerlichen Bevölkerung konsumiert, wobei sich der Lesestoff nach Geschlecht und Status des Lesenden unterschied (Lektüre). Auch Hausmusik, Brett- und Kartenspiele wurden zunehmend als Freizeitaktivitäten empfunden. Bürgerliche Frauen beschäftigten sich primär mit Tätigkeiten, die ihre Tugendhaftigkeit und Tüchtigkeit widerspiegelten (Handarbeit, Musik, Philanthropie). Die Eisenbahn eröffnete dem Bürgertum neue Welten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erlebte die Hotellerie einen Aufschwung, wobei Reisen zu einem Luft- oder Bäderkurort oder gar Ferien ein Privileg der wohlhabenden Schichten waren.

20. Jahrhundert

Parallel zur Urbanisierung und Privatisierung des sozialen Lebens entwickelte sich die Unterhaltungsindustrie. Mit der Einführung des 8-Stunden-Tages 1919 investierten die Verbraucher ihr Geld zunehmend in ihre Freizeit. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden Zerstreuung und Unterhaltung im Kino (Film), im Zirkus, beim Tanz, in Oper, Operette und im Zaubertheater angeboten. Filme wurden zuerst auf Jahrmärkten, im Zirkus und in Gastwirtschaften gezeigt und waren die ersten, auch für Lohnabhängige konsumierbaren modernen Massenmedien. Die illustrierten Printmedien (Illustrierte) entwickelten sich zu einer Hauptquelle der visuell-sprachlichen Allgemeinkultur. Entsprechend verdoppelte sich in den Schweizer Haushaltungen zwischen 1900 und 1910 die Zahl der abonnierten Zeitschriften. Ein beliebtes Medium wurde das Radio, das ab Mitte der 1920er Jahre rasche Verbreitung fand. Freizeitexterne Entwicklungen wie die Leistungs- und Wettbewerbsorientierung widerspiegelten sich in der zunehmenden Beliebtheit des Sports. Während dieser in der britischen Arbeiterschaft schon im 19. Jahrhundert zum Vergnügen gehörte, wurde er in der Schweiz im 20. Jahrhundert zu einer Freizeitbeschäftigung, die Geselligkeit, Selbstdarstellung und physische Regeneration vereinte. Seine Beliebtheit zeigte sich vor dem Ersten Weltkrieg in der Entstehung zahlreicher Sportvereine. Radfahren (Fahrrad) verbreitete sich, und der Fussball gewann trotz Widerständen an Beliebtheit. Die Ausdehnung des Zuschauersports (v.a. Radsport, Fussball, Eishockey, Skifahren) erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Zahlreiche bis zum Zweiten Weltkrieg gegründete Jugendorganisationen (1905 Naturfreunde, 1913 Schweizerischer Pfadfinderbund, 1924 Rote Pioniere, 1926 Rote Falken, 1932 Jungwacht, 1933 Blauring) griffen ordnend in die Freizeit der Jugendlichen ein. Sie boten eine kontrollierte «sinnvolle» Freizeitbeschäftigung, die je nach politischer oder konfessioneller Ausrichtung die Sozialisation der Jugendlichen mitbestimmte.

In den 1950er und 1960er Jahren brachte der Aufschwung nicht nur mehr Ferien und den arbeitsfreien Samstag, sondern auch eine Zunahme des Wohlstandes. Auch der private Freizeitbereich erfuhr einen Kommerzialisierungsschub. Neben einer breiteren Palette an Konsumgütern für die Freizeit (Elektronik, Sportartikel) wuchs der Anteil der Dienstleistungsbetriebe in der Freizeitindustrie (Reisebranche, Freizeiteinrichtungen). Radio und ab den 1960er Jahren auch das Fernsehen gehörten zur Grundausstattung der Haushalte. Die gesellschaftliche Differenzierung förderte die Ausbildung von Jugendszenen, die ab den 1960er Jahren zusehends die vielfältigen Lebens- und Konsumstile der Jugendlichen prägten. Jugendkulturen, die sich häufig um Musikstile (Rock 'n' Roll, Disco, Punk, Hiphop, Techno usw.) oder sportliche Aktivitäten (Skater, Snowboarder) gruppierten, experimentierten mit Rollen und Ideen und kreierten neue Ausdrucksformen, die von Freizeitindustrie und Massenmedien aufgenommen wurden.

Obwohl für die Bildungselite nach wie vor die Vorstellung einer Hochkultur besteht, entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten mehr schichtübergreifende Formen der Freizeitgestaltung. Sowohl die Suche nach Entspannung (Ferien) als auch das Bedürfnis nach aussergewöhnlichen Erlebnissen (Extremsportarten, aber auch virtuelle Welten im Internet) nahmen zu. Gleichzeitig gelten viele im 19. Jahrhundert noch als Arbeit taxierte Tätigkeiten (Gärtnern, Kochen, Werken) heute auch als Freizeitbeschäftigung. Nebst der Kommerzialisierung einfachster in der Freizeit stattfindender Tätigkeiten fand eine Professionalisierung der Freizeitvergnügen statt (Fitnessstudios, Kurswesen). Aufgrund von Arbeitslosigkeit und Frühpensionierungen hat Freizeit in den letzten Jahren für Teile der Bevölkerung stärker Sinn stiftende Funktionen erhalten, sie entwickelt sich zur eigenen Sinnwelt. Es kann jedoch nicht von einer der «Arbeitsgesellschaft» gleichgesetzten «Freizeitgesellschaft» gesprochen werden, da die Freizeit im sozialen Leben trotz Bedeutungsgewinn nicht als absolut zentraler Lebensbereich gilt.

Quellen und Literatur

  • R. Braun, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländl. Industriegebiet (Zürcher Oberland) unter Einwirkung des Maschinen- und Fabrikwesens im 19. und 20. Jh., 1965
  • C. Lalive d'Epinay et al., Temps libre, 1982
  • M. König et al., Warten und Aufrücken, 1985
  • L'univers des loisirs, hg. von F. Comte et al., 1990
  • T. Kuchenbuch, Die Welt um 1900, 1992
  • M. Lamprecht, H. Stamm, Die soziale Ordnung der Freizeit, 1994
  • A. Corbin, L'avènement des loisirs 1850-1960, 1995
  • A walk on the wild side, Ausstellungskat. Lenzburg, 1997
  • Freizeit und Vergnügen vom 14. bis 20. Jh., hg. von H.-J. Gilomen et al., 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Andrea Weibel: "Freizeit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.02.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016319/2015-02-17/, konsultiert am 19.03.2024.