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Spiele

Spielen als eine der erstaunlichsten Erscheinungen der menschlichen Natur ist teils biologisches Bedürfnis – auch Tiere spielen –, teils wichtiger Kulturfaktor (Sprichwörter und Redensarten belegen es). Es ist eine fast immer zweckfreie, nicht rational begründbare, meist soziale, körperliche oder geistige Tätigkeit, die sich vom «gewöhnlichen» Leben und von der Arbeit unterscheidet (Freizeit). Spiele, die sich meistens innerhalb fester Regeln bewegen und Freude und Spannung bereiten, sind zeitlich durch Anfang und Ende und oft auch räumlich begrenzt und wiederholbar. In der Kindheit und der Jugend, in denen wohl am intensivsten gespielt wird, dient das Spiel nach Maria Montessori der Ausbildung kognitiver Praktiken, der Einübung sozialer Rollen und der Persönlichkeitsentwicklung.

Die Ausgangsbedeutung des seit dem 9. Jahrhundert belegten deutschen Worts scheint «Tanz» zu sein, diejenige des franz. jeu und des ital. gioco «Scherz» (lat. iocus). In allen drei Sprachen hat sich die Bedeutung im Lauf der Zeit stark erweitert und umfasst neben dem eigentlichen Spiel auch Feste und Bräuche, Sport, Theateraufführungen (Theater), Tanz- und Zirkusveranstaltungen (Tanz, Zirkus), Schaustellung, Musikausübung (Musik) und Gruppen von Ausübenden (Armeespiel) sowie Einheiten von Spielgeräten (Kegelries, Karten).

Zu den Spielen gehören unter anderem Funktions- oder Bewegungsspiele (Fang-, Lauf-, Hüpf-, Sprungspiele, Turnen), Spiele mit Geräten (Rassel, Nachzieh-Spielzeug), mimische Fiktions- oder Rollenspiele (Puppen, Puppenstube, Bauernhof, Eisenbahn, Kostümieren, Theater), Konstruieren, Werken, Gestalten, Gesellschafts- und Gruppenspiele (Verstecken), Neckspiele («Blinde Kuh»), Rate- und Pfänderspiele, Glücksspiele (Brett- und Würfelspiele, Kartenspiele, Kegeln). Einteilungen dieser Art überschneiden sich immer, da die meisten Spiele mehreren Kategorien angehören. Weiter kann sich der Charakter eines Spiels auch verändern; so entwickelte sich zum Beispiel das Spiel «Wir kommen aus dem Mohrenland» von einem Beruferaten zu einem Fangspiel.

Von der Ur- und Frühgeschichte bis 1800

Archäologische Funde von möglichen Spielgeräten aus dem Raum der heutigen Schweiz gibt es seit der mittleren Steinzeit (5000 v.Chr.). Aus der Cortaillod-Kultur des westlichen Mittellands (4500-3500 v.Chr.) stammende Miniaturgefässe aus Keramik können als Kinderspielzeug gedient haben, wie auch zwei Funde aus Feldmeilen, ein Wurzelstück in Hundegestalt, ein Sandsteinplättchen mit Menschengesicht und kleine Tierfigürchen aus Ton vom Südwestufer des Burgäschisees. Aus der Bronzezeit (2200-800 v.Chr.) fanden sich in der Ufersiedlung Mörigen am Bielersee Rasseln aus Ton mit eingeschlossenen Steinchen sowie Spielzeugtiere aus Ton in Grandson-Corcelettes, Auvernier und Pfeffingen-Schalberg.

Aus der Römerzeit sind diverse schriftliche Quellen und bildliche Darstellungen von Spielen überliefert; bei Ausgrabungen werden oft Würfel und Spielsteine aus Knochen gefunden. Spielbretter sind aus Aventicum (Marmor), Augusta Raurica und Vindonissa bekannt. In Letzterem wurden zudem hölzerne Spielkreisel gefunden. Mädchen spielten das sogenannte Astragalspiel (Aufwerfen und Auffangen von kleinen Knochen), dargestellt auf der Scherbe eines Kelchs aus Terra Sigillata (Keramik) aus Vindonissa.

Die raren alemannischen Funde aus dem frühen Mittelalter bestehen aus Pfeil und Bogen sowie Miniaturen aus Knabengräbern. Bis ins 20. Jahrhundert in abgelegenen Regionen des ganzen Alpenraumes vorkommende archaische Spielzeugtypen dürften wohl in jener Zeit entstanden sein: Spielzeugkühe aus Tier-Fussknochen (sogenannte Beinechüe) und Tiere aus Lärchen- oder Tannzapfen, aus Zweigstücken mit vorderer Gabelung oder halbzylindrischen Klötzen mit Zweiggabelung als Hörner (Evolènatypus).

Seite aus der Postilla in Exodum et Leviticum des Franziskaner-Exegeten Nikolaus von Lyra. Buchmalerei aus der Werkstatt Wolfenschiessen, 1460 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung).
Seite aus der Postilla in Exodum et Leviticum des Franziskaner-Exegeten Nikolaus von Lyra. Buchmalerei aus der Werkstatt Wolfenschiessen, 1460 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung). […]

Im Mittelalter gab es die Freizeit im heutigen Sinn nicht. Musse (otium) – durch die hohe Zahl der kirchlichen Feiertage immerhin fast ein Drittel des Jahres – diente dem religiösen Leben. Dazu gehörte auch die fröhliche Ausgestaltung der kirchlichen Feste des Jahres- oder Lebenslaufs durch Spiele (Kirchenjahr). Diese waren als Hauptmittel zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls fest in den kirchlichen Rahmen wie in die höfische oder bürgerliche Gesellschaft eingebunden. Die Haltung der mittelalterlichen Gesellschaft war dem Spielen gegenüber jedoch immer ambivalent: Kirchliche und obrigkeitliche Moralisten beargwöhnten und verdammten es als unsittlichen Müssiggang. Dies spiegelt sich in zahlreichen Sittenmandaten und Ratserlassen der eidgenössischen Orte. Besonders Gewinn- und Glücksspiele wurden verboten: 1290 in Rheinfelden, 1304, 1320, 1326 in Zürich, wo 1370 auch das Tanzen an Hochzeiten untersagt wurde – an Neujahr, Fasnacht, Kilbi und Markttagen blieb es jedoch erlaubt.

Für das Spielen im Mittelalter finden sich reiche Bildzeugnisse. Ein Relief auf dem Chorgestühl der Kathedrale Lausanne von 1200 stellt Ringkämpfer dar. In der um 1300 in Zürich entstandenen Manessischen Handschrift sind höfische Spiele dargestellt (Schach bei Otto von Brandenburg, Turnier beim Thurgauer Ritter Walther von Klingen, Steinstossen beim Burggrafen von Lienz). Bilderchroniken (Diebold Schilling, Schodolers «Eidgenössische Chronik») zeigen volkstümliche sportliche Spiele, die Schützenfeste von Konstanz 1458 und Altdorf (UR) 1508, den Fasnachtstanz unter der Dorflinde von Schwyz, einen Knaben mit Steckenpferd, das Kegel- und Würfelspiel sowie das Spielen auf Musikinstrumenten. In der Literatur ist Meister Altswert zu erwähnen, ein elsässischer Dichter der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, der in 54 Versen die Erwachsenenspiele seiner Zeit vorstellt. Erhaltene Spielgeräte aus dem Mittelalter bestehen aus geschnitzten Spielsteinen aus Knochen mit Drachen aus dem 11. Jahrhundert (Altenberg bei Füllinsdorf) und aus Hirschhorn aus dem 11.-12. Jahrhundert (Burg Salbüel bei Willisau), vielen Würfeln, Schachfiguren aus Knochen oder Elfenbein (arabischer Typus ohne menschliche Gestalt) sowie einer Tonpuppe in der Tracht von 1350 aus Alt-Schauenburg in Frenkendorf.

Im 16. Jahrhundert reduzierte sich die Zeit zum Spielen nicht nur, weil die Reformation zahlreiche Festtage abschaffte, sondern auch durch das ausgeprägte Arbeitsethos der Zeit. Zunehmende, alle paar Jahre verschärfte Spielverbote, die nun auch die Kinder betrafen, sind Zeugen davon. Basel verbot 1508 das Schlitteln und Gleiten (ausser am Kohlenberg) und 1581 das Spielen auf dem Petersplatz, das Eneo Silvio Piccolomini noch 1433 und 1438 beschrieben hatte. Winterthur bestrafte ab 1530 das Spielen mit Kluckern (Marmeln) mit Trülle oder Geldbusse. Auch die Spielorte waren durch Ge- und Verbote geregelt, jeder Ort hatte bestimmte Stätten, oft war es der Kirchhof. Auf offenen Plätzen war Spielen erlaubt, auf abgelegenen, die nicht kontrolliert werden konnten, nicht (Zürcher Mandat 1636). Im 18. Jahrhundert sind Spiele weiterhin archivalisch fassbar durch Spielverbote, die bis 1790 zunehmend verschärft wurden.

Für das Spielen im 16. und 17. Jahrhundert gibt es viele bildliche und literarische Belege: Spiele sind dargestellt auf Zeichnungen von Urs Graf dem Älteren, auf einem Kinderalphabet-Holzschnitt von Hans Holbein dem Jüngeren (1525), und dessen ältester Bruder Ambrosius stellt erstmals in der Schweiz einen Stelzenläufer dar. Die von Johann Fischart 1575 publizierte freie deutsche Übersetzung von François Rabelais' «Gargantua» enthält das berühmte Kapitel über die Spiele. Jörg Wickram beschrieb Soldatenspiele, und auch Thomas Platter erwähnte 1596 Spiele. 1657 gab der beliebte Zürcher Porträtist Conrad Meyer 26 Kupferstiche heraus, die Spiele darstellen, mit Versen des Niederländers Jacob Cats, die von Johann Heinrich Ammann aus Schaffhausen übersetzt wurden.

19. und 20. Jahrhundert

Um die Wende zum 19. Jahrhundert zeichnete sich ein Umschwung in der Bewertung des Spiels ab. Die Pädagogen der Aufklärung (Johann Amos Comenius, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi und Friedrich Froebel) setzten sich nun für Spiele und Leibesübungen der Kinder ein; führend war der Arzt Johann Bernhard Basedow. Sie waren von zwei verschiedenen Auffassungen geleitet: Einerseits sahen sie das Kind als vollkommenen, unverbildeten Idealmenschen («edler Wilder») und andererseits als form- und erziehbar. Die zweite Anschauung war wegbereitend für die Lern- und Beschäftigungsspiele nach dem Prinzip «Lernen durch Anschauung, Selbsttätigkeit und sinnliche Erfahrung». Im 19. Jahrhundert entwickelten sich zudem mit der räumlichen Trennung von Leben und Arbeiten, dem Aufkommen des privaten bürgerlichen Familienlebens und der Ausstaffierung der Kinderzimmer mit Spielzeug sowohl eine schärfere Klassentrennung wie eine immer stärkere Absonderung der Kindheit vom Erwachsenenleben.

Sammlung von Spielen, Gesängen und sketchartigen Lustspielen sowie Ratschlägen für die Organisation von Jugendfesten, veröffentlicht 1838 von Johann Jakob Sprüngli. Frontispiz mit Lithografie von Johann Melchior Deschwanden (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Sammlung von Spielen, Gesängen und sketchartigen Lustspielen sowie Ratschlägen für die Organisation von Jugendfesten, veröffentlicht 1838 von Johann Jakob Sprüngli. Frontispiz mit Lithografie von Johann Melchior Deschwanden (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Darstellungen von Spielen im 18. und 19. Jahrhundert stammen von Johann Rudolf Schellenberg, Gabriel Lory, Sigmund Freudenberger, Franz Niklaus König, Gottfried Mind, Jacques-Laurent Agasse, Johann Friedrich Dietler, Karl Itschner, Hans Jakob Kull, Elisabeth de Stoutz und Johann Jakob Sprüngli, der einer der ersten Spielförderer des 19. Jahrhunderts war. Aus beiden Jahrhunderten sind zahlreiche Spielsachen erhalten und in Museen zu finden.

Im 20. Jahrhundert wurde durch den zunehmenden Verkehr der Spielraum auf öffentlichen Plätzen und Strassen immer stärker beschnitten. Dies führte zur Einrichtung von geschützten Kinderspielplätzen, Krippen, Horten und Freizeitwerkstätten, was jedoch oft auch als Gettoisierung kritisiert wird. Wohl gegenläufig zur Einengung auf den privaten Lebensraum zeigte sich eine gewaltige Zunahme der industriellen Spielzeugproduktion, die bewusst geschlechtsspezifisch kognitive, den schulischen Intellekt fördernde Spiele für Knaben und affektive, rollenfixierende Spiele für Mädchen anbot. Gleichzeitig wuchs im 20. Jahrhundert jedoch die Jugendarbeit in den Sportvereinen stark, und die heutige Akzeptanz des Sports in der Gesellschaft erlaubt sogar bis zu einem gewissen Grad die Rückeroberung des öffentlichen Raums für Streetball, Rollbrettfahren und Rollerskating. Seit den 1970er Jahren ist ein Trend zur Internationalisierung der Spiele zu beobachten (z.B. Barbie). Das Aufkommen der elektronischen Spiele, die zuerst auf eigenen Stationen (Heimcomputer, Playstation), heute vermehrt auch in Netzwerken gespielt werden, ist ein Hinweis auf virtuelle, zunehmend von der Lebenswirklichkeit wegführende Spielwelten. Durch eine weltweite Vermarktungsstrategie, die häufig an Filme oder Fernsehserien (Walt-Disney-Filme, Harry Potter, Herr der Ringe, Pokémon) gekoppelt ist, werden Spiele zunehmend kommerzialisiert. Die Verringerung der durchschnittlichen Arbeitszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts führte dazu, dass auch Erwachsene vermehrt spielen.

Die Spielzeugproduktion

Die Herstellung von Spielzeug entwickelte sich von der privaten Anfertigung für den Eigengebrauch über organisierte Heimarbeit zwecks Verkauf zur industriellen Massenproduktion. Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich höchstens 20% der Familien käufliches Spielzeug, d.h. von Erwachsenen für Kinder zum Zweck des Spielens professionell hergestellte, stark geschlechtsspezifische Objekte leisten (Puppen und Miniatur-Haushaltgeräte für Mädchen, Steckenpferde, Zinnsoldaten, Baukästen, mechanisches Spielzeug für Knaben). Gut zwei Drittel davon stammten aus Deutschland.

Im 19. Jahrhundert wurden Zinnfiguren in Aarau bei Johann Rudolf Wehrli produziert. Seit 1828 werden in der heute noch existierenden AG Müller in Schaffhausen Spielkarten hergestellt. Die älteste noch aktive Schweizer Spielzeugfabrik ist die seit 1874 bestehende Wisa Gloria AG in Lenzburg. Um 1910 entstand die Fahrni & Cie. in Rothrist. Das 1912 in Genf eröffnete Institut Jean-Jacques Rousseau entwickelte eigene edukative Spielmittel; ab 1924 entstanden die Puppen von Sasha Morgenthaler. In Ascona hatte die Deutsche Käthe Kruse zuvor den bekanntesten Puppentyp des 20. Jahrhunderts geschaffen.

Als im Ersten Weltkrieg die Importe ausblieben, schufen die Architekten Carlo Kuster und Carl Zweifel Städtebaukasten, H. Oberholzer Kasperfiguren und der Bildhauer Hans Trudel Schaukelpferde. Im Zweiten Weltkrieg gründeten die Brüder Stockmann in Luzern die Metallbaukästen-Firma Stokys; es entstanden unter anderem die Hag-Modelleisenbahnen, die Albisbrunn-Spielwaren, die Decor AG und die Carlit AG. Nach Kriegsende ging die einheimische Produktion wieder stark zurück. Das Druckhaus Säuberlin & Pfeiffer in Vevey produzierte 1917-1963 patriotische Spiele, da ausländische Spiele nicht der schweizerischen Mentalität entsprächen. Bis heute kümmert sich das Heimatwerk um Herstellung und Vertrieb von Spielzeug aus Schweizer Werkstätten, zum Beispiel Brienzer Schnitzerei und Heimberger Keramik. Manches entsteht als Nebenprodukt wie die Modell-Kochherde der Firma Sigg. Das grösste Handelsunternehmen ist die Franz Carl Weber AG, die 1881 als erstes Fachgeschäft gegründet und 1984 von der Denner AG, 2006 von der französischen Ludendo-Gruppe übernommen worden ist.

In zahlreichen Museen ist die Geschichte der Spiele aufgearbeitet: Im Spielzeugmuseum in Riehen, im Zürcher Spielzeugmuseum, im Schweizer Spielmuseum in La Tour-de-Peilz sowie im Kindermuseum in Baden. Der Gründung der ersten Ludothek in Münchenstein 1972 folgten zahlreiche weitere (2000 385).

Quellen und Literatur

  • E.L. Rochholz, Alemann. Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz, 1857
  • K. Ranke, «Meister Altswerts Spielregister (14. Jh.)», in SAVk 48, 1952, 137-197
  • J.B. Masüger, Das Schweizerbuch der alten Bewegungsspiele, 1955
  • I. Weber-Kellermann, Die Kindheit, 1979
  • P. Grand et al., Jeux de notre enfance, jeux de nos enfants, 1983
  • F.K. Mathys, Ist die schwarze Köchin da?, 1983
  • R. Kaysel, M. Etter, Die Schweiz im Spiel, 1989
  • LexMA 7, 2105-2112
  • Kind sein in der Schweiz, hg. von P. Hugger, 1998, 349-368
  • P. Ariès, Gesch. der Kindheit, 152003 (franz. 1960)
Weblinks

Zitiervorschlag

Erika Derendinger: "Spiele", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.07.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016325/2013-07-04/, konsultiert am 19.03.2024.