Unter Bürgertum versteht man im engeren Sinn eine Gesellschaftsschicht, die sich aus unterschiedlichen sozialen Gruppen des gehobenen Mittelstandes zusammensetzt, die über Besitz und Bildung verfügen. Sie lässt sich besser anhand mentalitätsmässiger als wirtschaftlicher Merkmale definieren. Dominierende Kraft zumindest in den westeuropäischen Staaten war das Bürgertum in der Zeit zwischen den 1848er Revolutionen und dem Ersten Weltkrieg, dem «Zeitalter des Bürgertums». In der Schweiz, in welcher es den Adel als handlungsfähige soziale Klasse schon zu Beginn der Moderne nicht mehr gab, war die historische Prägekraft des Bürgertums besonders nachhaltig, mit Auswirkungen bis in die Gegenwart. In einem weiteren Sinn umfasst der Begriff Bürgertum aber auch das mittelalterliche Stadtbürgertum. Dessen Geschichte begann in der Städtegründungsphase des 12.-13. Jahrhunderts. Sie führte in einem nicht linearen Prozess mit abweichenden Entwicklungssträngen – etwa der Aristokratisierung von Teilen des Stadtbürgertums in der frühen Neuzeit – hin zum modernen Bürgertum, das sich allerdings durch Aufsteiger aus der Landschaft stark ausweitete.
Mittelalter und frühe Neuzeit
Mittelalterliches Stadtbürgertum
Die im Hochmittelalter gegründeten Städte (Städtegründung) erlangten – ähnlich wie in Italien, den Niederlanden, Frankreich und im Reich – schon bald eine privilegierte Rechtsstellung, die sich deutlich von den ländlichen Siedlungen unterschied. Durch Ansässigkeit in der Stadt konnten sich die Zuzüger «nach Jahr und Tag» von grund- und personalrechtlichen Bindungen befreien, ein Rechtsgrundsatz, der später in der berühmten Wendung «Stadtluft macht frei» zusammengefasst wurde. Um das Bürgerrecht zu erhalten, mussten gewisse Voraussetzungen erfüllt werden wie der Nachweis eines Minimalvermögens, Hausbesitz in der Stadt oder eine längere Aufenthaltsdauer. Das Bürgerrecht konnte von Männern und Frauen käuflich erworben werden; Männer konnten es durch Teilnahme an einem Kriegszug verdienen. Die Städte schenkten es auch bestimmten Personen, auf deren besondere Kenntnisse und Fertigkeiten sie Wert legten. Das Bürgerrecht war erblich; Witwen und ihre unmündigen Kinder behielten es nach dem Tode des Ehemannes. Verloren ging es, wenn der Inhaber darauf verzichtete oder wenn die Stadt den Bürger zur Strafe ausschloss. Nach grossen Bevölkerungsverlusten durch Kriege und Seuchen pflegten die Städte eine grosszügige Bürgerrechtsaufnahme, um die Zahl ihrer Einwohner wieder zu vergrössern. Diese Situation bestand in vielen eidgenössischen Städten im Spätmittelalter, als selbst der Zugang zu den Räten für reiche Zuzüger und Aufsteiger relativ leicht möglich war. Diese Offenheit wich in der frühen Neuzeit infolge des starken Bevölkerungswachstums wieder einer restriktiven Bürgerrechtserteilung.
Mit dem städtischen Bürgerrecht gewannen die Neubürger Rechte und übernahmen Pflichten: Zu den Rechten eines Bürgers und einer Bürgerin gehörten die Freizügigkeit, eine freiere erbrechtliche Stellung, der Anspruch auf Schutz und – ausschliesslich für männliche Bürger – die Teilhabe an der städtischen Selbstverwaltung. Die Stadt versuchte durchzusetzen, dass ihre Bürger nur vor den eigenen Gerichten zu erscheinen hatten, um nicht vor auswärtigen Gerichten Rechtshilfe leisten zu müssen. Im Bürgereid, der alljährlich am «Schwörtag» abgelegt wurde, verpflichteten sich die gesamte Bürgerschaft und der Rat bzw. der Stadtherr zur gegenseitigen Treue; die Bürger schworen dem Stadtherrn oder dem Rat Gehorsam, die Erfüllung der Pflichten und die Einhaltung des jeweiligen, nach Orten unterschiedlichen Stadtrechts wie zum Beispiel die Erhaltung des Stadtfriedens. Bürger waren verpflichtet, die Stadtmauern zu bewachen und für die Stadt Kriegsdienst zu leisten. Frauen, die ihr Bürgerrecht selbst gekauft oder ererbt hatten, oder Bürgerswitwen stellten für diese Aufgaben Vertreter. Bürgerinnen und Bürger mussten auch Steuern bezahlen, wobei direkte Vermögenssteuern nicht regelmässig, sondern nur bei erhöhtem Finanzbedarf erhoben wurden. Wegen der Kriege und des Erwerbs von Territorien war dies in den eidgenössischen Städten im Spätmittelalter häufiger der Fall als in der frühen Neuzeit. Der Rechtsstatus des Bürgers war privilegiert gegenüber den Hintersassen, die, obschon sie nicht das volle Bürgerrecht besassen, diesen vielfach ökonomisch gleichgestellt waren. Als Ausbürger oder Pfahlbürger wurden Bürger bezeichnet, die ausserhalb der Stadt ansässig waren. Anfänglich handelte es sich um Leibeigene von Grundherren, die durch Aufnahme ins Bürgerrecht ihrem Status als Unfreie (Hörige) zu entfliehen suchten. Als Folge ihrer Territorialpolitik nahmen Städte auch adelige Grundherren in ihr Bürgerrecht auf, wodurch adelige Familien in die Städte integriert werden konnten (Burgrecht). Bereits im 14.-15. Jahrhundert hatte der Adel in den Städten und Länderorten der alten Eidgenossenschaft mit dem Niedergang seiner wirtschaftlichen und politischen Macht seine Vorherrschaft eingebüsst.
Eine erste Phase von städtischen Unruhen fand während des 12.-13. Jahrhunderts statt zwischen einzelnen Faktionen der traditionellen Machtelite und den zu Reichtum und Ansehen gelangten, von der politischen Mitbestimmung jedoch ausgeschlossenen neuen Gruppierungen, zum Beispiel reichen Kaufleuten. Ihr Ziel war es, ihre Unabhängigkeit dem Stadtherrn gegenüber durchzusetzen und/oder die Machthaber zu stürzen. Die wichtigsten Protagonisten der zweiten Aufstandsphase im 14.-15. Jahrhundert waren im Unterschied zur ersten die Handwerker, die den Hauptteil der Bürgerschaft bildeten. In zahlreichen Städten der Eidgenossenschaft und des deutschen Südwestens errangen die in Zünften zusammengeschlossenen Handwerker eine breitere politische Mitbeteiligung und delegierten eigene Vertreter in den Rat. Selbst in den Städten mit sogenannter Zunftverfassung (Zunftstädte) zeichneten sich im Laufe des 15.-16. Jahrhunderts aristokratische Tendenzen ab, die die politischen Rechte und Einflussmöglichkeiten der Bürger zunehmend einschränkten.
Aristokratisierung der städtischen Führungsschichten in der frühen Neuzeit
Die starke Bevölkerungszunahme im 16. Jahrhundert und die damit verbundene Ressourcenverknappung führten zu einer Abkapselungstendenz. Die Erlangung des städtischen Bürgerrechts wurde zusehends erschwert, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam es vielerorts zur beinahe vollständigen Schliessung des Bürgerrechts. Die Folge davon war, dass die Zahl der minderberechtigten Stadtbewohner, der Hintersassen, zunahm. In einzelnen Städten gab es bei den Minderberechtigten Abstufungen: In Bern waren die Habitanten etwas besser gestellt als die Hintersassen (Ordnung von 1643), in Genf wurde zwischen Habitants mit und Natifs ohne Aufstiegschancen unterschieden, in Lugano zwischen alteingesessenen Hintersassen, den cittadini antichi und den später hinzugezogenen, den avventizi. Beim Anteil der Bürgerschaft an der gesamten Stadtbevölkerung gab es grosse Unterschiede: Um 1780 belief er sich in Zürich auf 62% (1671 noch auf 85%), in Genf lediglich auf 27% (nach 1720 auf 33%). Zürich konnte sich eine restriktive Niederlassungspolitik leisten, weil es für die städtischen Verlagskaufleute vorteilhafter war, wenn die textilen Heimarbeiter auf der Landschaft wohnten; Genf hingegen, das nur ein kleines Untertanengebiet hatte, musste die Arbeitskräfte für seine Golddraht- und Uhrenindustrie in die Stadt ziehen lassen.
Zu einer starken soziopolitischen Differenzierung kam es auch innerhalb der städtischen Bürgerschaft. In Bern, Luzern, Freiburg und Solothurn wurde das Stadtregiment immer mehr von einem engen Kreis vornehmer Familien monopolisiert. Die Ratsstellen wurden de facto erblich, was möglich war, weil sich die Räte selbst ergänzten. Die so entstehende Führungsschicht, das Patriziat, lebte in erster Linie von Amtstätigkeit, Solddienst und Einkünften aus der Landwirtschaft. Geburtsständisch von der übrigen Bürgerschaft abgeschlossen, ahmte es in Lebensführung und -stil adlige Vorbilder nach. Die Teilnahme der Bürger an der Gemeindeversammlung – sofern sie überhaupt noch einberufen wurde – sank allmählich zur Pflichtübung ohne politische Einflussmöglichkeit herab. In Luzern etwa war es den Bürgern verboten, ohne Genehmigung des Rats das Wort zu ergreifen oder gar einen Antrag zu stellen. Die Zurücksetzung der Bürger führte ab Mitte des 17. Jahrhunderts zu städtischen Unruhen, ohne dass deswegen der Prozess der politischen Entmündigung rückgängig gemacht werden konnte. Zugeständnisse an die nicht regierenden Bürger gingen meist auf Kosten der Landschaft (z.B. die Einschränkung des ländlichen Handwerks zugunsten des städtischen). Die weitaus konfliktreichste Stadt war im 18. Jahrhundert Genf, das als «Laboratorium der Revolution» bezeichnet worden ist.
Die Aristokratisierung erfasste auch Zürich, Basel und Schaffhausen, Städte mit Zunftverfassung, in denen ein Teil der Räte von den Zünften gewählt wurde. Die Handwerker wurden im 16.-17. Jahrhundert schrittweise von reichen Kaufleuten, Textilverlegern, Bankiers und Rentnern zurückgedrängt, welche die Zünfte unterwanderten und danach strebten, für ihre Familien möglichst viele Ratsstellen zu gewinnen. Diese Führungsschicht wies durchaus aristokratische Tendenzen auf: Landsitz und seigneuraler Lebensstil waren auch für erfolgreiche Kaufleute ein erstrebenswertes Ziel. Sie blieb aber im Vergleich zum Patriziat durchlässiger. Auf- und Abstieg waren in beschränktem Mass möglich, weil der wirtschaftliche Erfolg ein entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit war. Dies galt selbst für Basel und Genf, wo die Familienherrschaft ausgeprägter war als in Zürich.
Die Oberschicht der auf Handel, Protoindustrie und Finanzgeschäft orientierten Städte wuchs im 17.-18. Jahrhundert stark an – in Zürich stieg der Anteil der Kaufleute an der Bürgerschaft von 2,6% 1599 auf 12,4% 1790. Sie bildete denjenigen Teil der städtischen Bürgerschaft, den man auch im soziologischen Sinn als Bürgertum betrachten kann. Mit der Ausrichtung auf Leistung, Wettbewerb und Innovation war ihre Wirtschaftsgesinnung bürgerlich orientiert. Für die Handels- und Finanzaristokraten bedeutete die politische Vorrangstellung vor allem Ansehen und Macht, ihre wirtschaftliche Existenz hing aber nicht direkt davon ab. Im 19. Jahrhundert konnten sie sich deshalb vergleichsweise leicht in das neue, sozial breiter zusammengesetzte Bürgertum integrieren, im Unterschied zu den patrizischen Familien, die grosse Umstellungs- und Anpassungsleistungen erbringen mussten.
19. und 20. Jahrhundert
Soziale Zusammensetzung und Wertsystem
Mit der Aufklärung und der Französischen Revolution erfuhren die Begriffe «Bürgertum» und «Bürger» eine Erweiterung. Wenigstens dem Anspruch nach wurden nun alle Menschen zu Bürgern und alle (männlichen) Bürger zu Staatsbürgern. Im Unterschied zu Frankreich, wo mit dem Begriff bourgeois vermögende Stadteinwohner wie selbstständige Handwerker, Verleger und Unternehmer vom citoyen unterschieden wurden, erhielt im Deutschen das Wort «Bürger» bis heute rechtlich und sozial unterschiedlich weit gefasste Bedeutungsinhalte. Mit Bürger kann sowohl der Staatsbürger als auch ein Bürger im sozialen Sinn gemeint sein. Eine gewisse Klärung erfuhr der Begriff «Bürgertum» um 1850, als man damit – ähnlich wie mit bourgeoisie im Französischen oder middle classes im Englischen – die wirtschaftlich und sozial besser gestellten mittleren und oberen Bevölkerungsschichten zu bezeichnen begann.
Soziologisch umfasste das Bürgertum damit eine Vielzahl von Berufs- und Erwerbsklassen recht unterschiedlicher wirtschaftlicher und sozialer Lebenslagen, Bildungsniveaus, kultureller Orientierung und politischer Ausrichtung. Aufgrund statistisch messbarer Kriterien wie Erwerbstätigkeit und Bildung gehörten ein Grossteil der Selbstständigen in Handwerk und Gewerbe, die Unternehmer in Industrie und Handel, die freien oder liberalen Berufe wie Ärzte, Rechtsanwälte oder Künstler, die höheren Beamten und leitenden Angestellten sowie die Kapitalrentner dazu. 1888 und 1910 stellten diese sozialen Gruppen rund 16% aller Erwerbstätigen, 1990 – nach starker Abnahme der Selbstständigen, aber hoher Zunahme der leitenden Angestellten und Kader – waren es mit höchstens 18% nur wenig mehr. Doch Bürgertum war und ist mehr als nur ein Sammelbegriff für verschiedene Sozialgruppen, die durch ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit und/oder eine spezifische Fachgeschultheit, also durch Besitz und Bildung, privilegiert waren. Ein bürgerlicher Beruf, ein bestimmtes Einkommen und Vermögen und die damit verbundene gesicherte Lebenslage, ein gewisser Wohlstand und die Abgehobenheit von schwerer körperlicher Arbeit genügten im 19. wie 20. Jahrhundert nicht, um sich zum Bürgertum zählen zu können.
Was die verschiedenen sozialen Gruppen erst zu einer sozialen Klasse im Sinn einer Orientierungs- und Handlungsgemeinschaft oder gar zu einer handlungsbereiten Klasse machte, war eine spezifische, sich allerdings wandelnde Art der Lebensweise und Mentalität, eine für diese bürgerlichen Erwerbsklassen übergreifende Vorstellung von Bürgerlichkeit. Dieses in sich zwar vielfach abgestufte und variierte, in seinen Grundzügen jedoch verbindliche Kulturmodell der Bürger erforderte über die genannten materiellen Voraussetzungen hinaus eine ähnliche Art der Lebenshaltung im häuslichen Alltag, im Wohnen, in der Kleidung und im Essen, in der Routine und den Ritualen des täglichen Lebens, aber auch in der Art und Weise der Gestaltung der arbeitsfreien Zeit, des Konsums und des Luxus. Zur bürgerlichen Lebensweise gehörte ein System von gemeinsamen Werten und Normen wie Leistung und Erfolg, Fleiss und Arbeit, Pflicht und Beruf. Sie gründete auf einer rationalen Lebensführung, auf Individualität und Selbstverantwortung, auf Innenleitung und selbstständigem Urteilen, aber auch auf einer hohen Wertschätzung von Familie und Verwandtschaft sowie einer ausgeprägten geschlechtsspezifischen Rollenteilung. Nicht-Erwerbsarbeit der Ehefrau und der Töchter bildete eines der sichtbarsten und wichtigsten Merkmale der bürgerlichen Wohlanständigkeit. Sie demonstrierte nach aussen die relative Freiheit der Familie von ökonomischen Zwängen. Man grenzte sich damit gegen unten, insbesondere auch den alten Mittelstand ab, wo die Frauen im Geschäft aktiv beteiligt blieben, und rückte gleichzeitig dem Ideal vornehmer Lebensführung etwas näher. Zur Bürgerlichkeit gehörte eine hohe Wertschätzung von Bildung und Wissenschaft, von Literatur, Kunst und Musik, allgemein von Kultur. Auch hier kam den Frauen und Töchtern eine hervorragende Rolle zu. Obwohl sie in der Regel auf den Konsum, den Besuch von Theater, Konzerten und Ausstellungen, die dilettantische Pflege und Präsentation von Kultur und Bildung eingeschränkt waren, bestimmten sie als sekundäre Kulturträgerinnen in hohem Masse das kulturelle Niveau der Familie.
Kultur, die Stilisierung der Lebenshaltung, das Wertlegen auf Ästhetik, auf Geschmack, das Betonen von Bildung, Wissen und höheren Werten schufen soziale Distanz, stifteten aber zugleich Identität. Sie bildeten die Grundlage des Umgangs miteinander, dienten damit der Abhebung von den übrigen Klassen und förderten trotz der feinen Unterschiede, die sich daraus innerhalb des Bürgertums oder zu mittelständischen und kleinbürgerlichen Schichten ergaben, den Zusammenhalt. Eine besondere Rolle für die kulturelle, aber auch politische Konstituierung spielten das Vereinswesen und andere Formen der Geselligkeit. Wie stark Geschmack, höhere Werte und die Stilisierung des Lebens nicht nur die wirtschaftliche Position und die Losgelöstheit vom Zwang des Ökonomischen symbolisch darstellten, sondern auch Teil des bürgerlichen Klassenbewusstseins waren, machten ihre Funktion in der Abgrenzung von der Arbeiterschaft deutlich. Seinen Persönlichkeits-, Sittlichkeits- und Bildungsidealen stellte das Bürgertum den proletarischen bzw. den nivellierten Massenmenschen in seiner interessenverhafteten Existenz, mit seinem Materialismus, seiner ethischen Minderwertigkeit, Oberflächlichkeit, seinem mangelnden Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, seiner Unwissenheit und Halbbildung, ja seiner Kulturlosigkeit gegenüber.
Leitbildfunktion und politische Vertretung
Die bürgerliche Staats- und Gesellschaftsordnung wie die bürgerliche Kultur, ihre Werte und Normen übten ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf die übrigen Bevölkerungskreise einen Sozialdisziplinierungs- und Integrationsdruck aus, dem sich diese zusehends weniger entziehen konnten. Von den bürgerlichen Leitbildern und Lebensformen ging jedoch auch eine hohe Attraktivität aus. Dies galt besonders für die Angestellten, den neuen Mittelstand. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erhielt das bürgerliche Lebensmodell auch für Arbeiter und Bauern immer stärker Vorbildcharakter. Allerdings konnte der Verbürgerlichungsprozess erst in der Hochkonjunktur der 1950er und 1960er Jahre Breitenwirkung entfalten. Dank der Zunahme der Reallöhne waren nun auch Arbeiterfamilien imstande, dem bürgerlichen Ideal der nicht erwerbstätigen Hausfrau nachzuleben. Das Aufkommen von Massenkonsum und Massenmedien verstärkte die Herausbildung klassenübergreifender Lebensstile und Normen. Trotz der Tendenz zu einer gewissen sozialen und kulturellen Homogenisierung darf nicht übersehen werden, dass die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung bestehen blieb und sich nach 1950 zeitweise noch verstärkte.
Politisch identifizierte sich das Bürgertum sehr stark mit dem Liberalismus oder Radikalismus, d.h. mit dem Freisinn. Dies galt auch für das schmale Bürgertum in den konfessionell gemischten und katholischen Kantonen. Manche besitz- und wirtschaftsbürgerlichen Kreise, insbesondere in Basel, Zürich, Bern oder Genf, bekannten sich jedoch zum Konservatismus und sammelten sich nach 1900 in der Liberalen Partei. 1919 hatte der Freisinn seine hegemoniale Stellung eingebüsst, blieb aber die führende Kraft innerhalb des Bürgertums. Zusammen mit den anderen bürgerlichen Parteien (heute CVP und SVP) bestimmte er weiterhin die Politik auf Ebene von Bund und Kantonen. Der Gegensatz zwischen den sogenannten bürgerlichen Parteien und der Linken blieb bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die wichtigste Trenn- und Konfliktlinie der schweizerischen Politik.
Obwohl das Bürgertum kaum mehr als homogene Orientierungs- und Handlungsgemeinschaft fassbar ist, haben die Kategorien Bürgertum und Bürgerlichkeit, mehr als in anderen europäischen Ländern, in der Fremd- wie Selbstwahrnehmung der mittleren und oberen Bevölkerungsschichten noch immer oder wieder eine grosse Bedeutung. Dies dürfte unter anderem auch damit zu tun haben, dass sich in der Schweiz ähnlich wie in Frankreich der nationale Mythos mit dem Erfolgsmythos des Bürgertums viel unproblematischer verbinden liess als zum Beispiel in Deutschland. Noch wichtiger war jedoch, dass das schweizerische Bürgertum trotz gewisser Tendenzen zur Abschliessung um 1900 sich in der Regel als integrationsfähig erwies, nicht zuletzt auch aufgrund der republikanisch-demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung, die eine allzu exklusive Vergesellschaftung der bürgerlichen Klassen nicht zuliess.
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