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Flüchtlinge

Die Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 1A) und das auf ihr basierende, mehrfach revidierte schweizerische Asylgesetz von 1979 (Artikel 3) definieren den Flüchtling als Person, die «aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich ausserhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt». Flüchtlingen im Sinn der Konvention kommt eine spezielle Rechtsstellung zu; viele Signatarstaaten stellen sie den Ausländern gleich, die im betreffenden Staat den günstigsten Schutz geniessen. Die Genfer Flüchtlingskonvention verankerte auch das Prinzip des Non-Refoulements: Flüchtlinge, denen in ihrem Herkunftsland Folter und Tod droht, dürfen nicht dorthin zurückgebracht werden, falls ihr Asylgesuch abschlägig beantwortet wird. In der schweizerischen Rechtssprache bezeichnet der Ausdruck «Flüchtling» den Status derjenigen Ausländer, deren Gesuch um Asyl positiv entschieden wurde. Ein Asylbewerber ist dagegen ein Ausländer, der um den Flüchtlingsstatus nachgesucht hat und auf den Entscheid der Bundesbehörden wartet.

Mittelalter und Frühe Neuzeit

Im Mittelalter mussten zahlreiche Menschen aus politischen, religiösen oder persönlichen Gründen ihre Heimat verlassen, in der Schweiz etwa die Unterlegenen in innerkommunalen Auseinandersetzungen, Geächtete und Juden (Antisemitismus). Vom 16.-18. Jahrhundert strömten in verschiedenen Wellen Waldenser und protestantische Glaubensflüchtlinge in die reformierten Kantone der Eidgenossenschaft, so 1549-1560, 1572-1574, 1585-1587 und nach 1680. Die quantitativen Angaben differieren erheblich; für den sogenannten Grand Refuge nach dem Widerruf des Edikts von Nantes 1680 reichen die Schätzungen von ca. 60'000 bis über 100'000 Flüchtlinge, die aber bis auf ungefähr 20'000 «nützliche», reiche oder besonders hilfsbedürftige Exulanten das Land spätestens in den 1690er Jahren wieder verliessen. Das aufgrund seiner langen Grenze zu Frankreich und der Nähe zu Genf, dem wichtigsten Zugang zur Waadt, stark betroffene Bern hatte sich eine entsprechende Behördenstruktur gegeben (Exulantenkammer) und handelte mit den anderen reformierten Ständen einen Verteilschlüssel aus, gemäss dem es 50% der französischen Flüchtlinge zu versorgen hatte, Zürich 30%, Basel 12% und Schaffhausen 8%.

1792-1798 fanden viele französische Monarchisten (Emigrés) – die Schätzungen belaufen sich auf 6000-9000 – in Freiburg, Neuenburg und Solothurn Aufnahme. Geflohene Adlige und Geistliche übten einen gewissen Einfluss auf die aristokratischen und patrizischen Führungsschichten der eidgenössischen Orte aus, und bereiteten die spätere Gegenrevolution in ideologischer Hinsicht vor. Zum Zentrum des oppositionellen französischen Klerus wurde Freiburg, dessen Regierung und dessen Bischof einen Kreuzzug gegen die revolutionären Ideen führten. Viele der Emigrés kehrten nach Ende der Pariser Schreckensherrschaft nach Frankreich zurück; die Verbliebenen wurden 1798 ausgewiesen.

Das liberale Asylland des 19. Jahrhunderts

Im 19. Jahrhundert erwarb sich die Schweiz den Ruf des klassischen Asyllandes. Als Folge der Restaurationspolitik kamen seit 1815 deutsche Liberale, italienische Carbonari, ehemalige Mitglieder des französischen Nationalkonvents oder Bonapartisten aus Frankreich in grosser Zahl ins Land, vor allem Angehörige der Mittel- und Oberschichten, darunter viele Intellektuelle, die sich zum Teil wie etwa Pellegrino Rossi oder die Brüder Wilhelm und Ludwig Snell am politischen Leben beteiligten. Die Schweiz profitierte politisch, wirtschaftlich und kulturell von dieser Zuwanderung. Polnische Aufständische gegen die russische Herrschaft trafen nach 1830 ein; 1833 hielten sich über 400 von Frankreich abgewiesene Polen in Bern auf. Dass die liberalen Orte die publizistische Tätigkeit ihrer Gesinnungsgenossen aus dem Ausland zuliessen, missfiel den autokratischen Nachbarstaaten, die regelmässig restriktivere Massnahmen forderten. Auf diesen Druck erliess die Tagsatzung 1823 das Presse- und Fremdenkonklusum, welches die Kantone zur Überwachung der Berichterstattung über auswärtige Mächte verpflichtete. Trotzdem gewährten die Regenerationskantone auch weiterhin Flüchtlingen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten grosszügig Asyl, sofern diese nicht frühsozialistische oder -kommunistische Anschauungen in der Öffentlichkeit vertraten (Deutsche Arbeitervereine, Junges Europa).

"Das Café du Levant in Genf, Treffpunkt der Flüchtlinge der Pariser Commune". Stich von P. Lix, publiziert im Monde illustré vom 24. Juli 1872, hier einer deutschen Zeitung entnommen (Bibliothèque de Genève).
"Das Café du Levant in Genf, Treffpunkt der Flüchtlinge der Pariser Commune". Stich von P. Lix, publiziert im Monde illustré vom 24. Juli 1872, hier einer deutschen Zeitung entnommen (Bibliothèque de Genève). […]

Nach 1848 erwies sich der Umgang mit der Flüchtlingsfrage als erste aussenpolitische Bewährungsprobe des jungen Bundesstaates. 10'000-12'000 deutsche Liberale, Republikaner aus Frankreich, Italien und Ungarn in unbekannter Zahl flohen in die Schweiz; Aufständische aus Baden und der Pfalz, rund 9000 Mann, wurden 1849 in Basel interniert. Französische Republikaner suchten nach dem Staatsstreich Napoleons III. 1851 in den französischsprachigen Kantonen Schutz. Frankreich, Preussen und Österreich wollten die Schweiz zur Ausweisung der Flüchtlinge zwingen und zogen an der Grenze Truppen zusammen. Dank den Bemühungen Englands und den Ausweisungen, welche die Schweiz schon vollstreckt hatte, gaben die Grossmächte schliesslich die Idee eines militärischen Vorgehens gegen die Schweiz auf. Der Bundesrat schlug den Weg ein, welchen die Tagsatzung mit den Fremdenkonklusa gewiesen hatte. Seine Politik war teils durch eine Verteidigung des Asylrechts, teils durch aussenpolitische Opportunität geprägt: Man nahm einerseits grosszügig Flüchtlinge auf, gab aber andererseits auch dem Druck der Grossmächte nach, indem man vor allem politisch aktive Asylanten wegwies. Die Behörden lieferten die betroffenen Flüchtlinge bis auf ganz wenige Personen nicht aus, sondern handelten mit einem nicht unmittelbar betroffenen Nachbarn eine Durchreiseerlaubnis für die Weiterreise etwa nach England oder in die Vereinigten Staaten aus. Diese grosszügige Flüchtlingspolitik wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Teil der Rechtfertigungsideologie des Bundesstaats.

Nach 1860 verlor die Flüchtlingsfrage in einem nunmehr liberaleren Europa zwischenzeitlich etwas an Schärfe. Mehr als 2000 Polen erreichten die Schweiz nach der Niederschlagung des Aufstands von 1863-1864. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870-1871 wurden 1800-2500 Zivilevakuierte aus Strassburg aufgenommen und die 87'000 Mann der Bourbakiarmee in der Schweiz interniert. Ab den 1860er und 1870er Jahren kamen vermehrt auch sozialistische Flüchtlinge ins Land. 1871 suchten zum Beispiel 800 Mitglieder der Pariser Kommune, darunter der Maler Gustave Courbet, in der Schweiz Asyl, nach der Verabschiedung des Sozialistengesetzes 1878 dann viele deutsche Sozialdemokraten. Der Bundesrat setzte seine fallbezogene Politik fort: Während er das Asylrecht der Kommunemitglieder verteidigte, liess er 1888 die Redaktoren der deutschen Wochenschrift «Der Sozialdemokrat», darunter Eduard Bernstein, ausweisen. Der grosse Druck, den das Deutsche Reich, Österreich und Russland nach der Wohlgemuth-Affäre 1889 auf die Schweiz ausübten, führte 1889 zur Wiedereinsetzung eines ständigen Bundesanwalts, der die Massnahmen der kantonalen Polizeibehörden zur politischen Überwachung der Flüchtlinge und anderer Fremden koordinierte.

Ähnlich wie die Sozialdemokraten wurden die Revolutionäre und Anarchisten, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aus Russland, Polen, Bulgarien sowie nach 1893 auch aus Italien in der Schweiz eintrafen, von den Behörden behandelt (Anarchismus). Michail Bakunin, der die Schweiz als Agitationsplattform nutzte, blieb abgesehen von der ständigen Überwachung bis zu seinem Tod unbehelligt. Errico Malatesta wurde 1891 ausgewiesen, aber nicht ausgeliefert. Sergei Gennadjewitsch Netschajew wurde dagegen 1872 den russischen Behörden übergeben, weil der von ihm begangene Mord nicht als politisch motiviertes Verbrechen gelten konnte. Die Ermordung der Kaiserin Elisabeth von Österreich 1898 in Genf durch Luigi Luccheni zog aufgrund starken aussenpolitischen Drucks die Ausweisung mehrerer italienischer Anarchisten nach sich; die schweizerischen Behörden ahndeten von diesem Zeitpunkt an anarchistische und antimilitaristische Propaganda häufiger mit der Ausweisung. Ausserdem begann die Bundeswaltschaft 1898, mit den Polizeibehörden der europäischen Länder Informationen über die Aktivitäten der Anarchisten und Sozialisten auszutauschen.

In der Zeit des Ersten Weltkriegs spitzte sich die Flüchtlingsfrage wieder zu. Neben sehr wenigen politischen Flüchtlingen strömten vor allem in der zweiten Kriegshälfte viele Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten ins Land; deren Zahl stieg von ca. 700 (ohne die Flüchtlinge, die schon vor Kriegsbeginn in der Schweiz gelebt hatten) im April 1916 auf über 15'000 im September 1917 an; im Mai 1919, ein halbes Jahr nach Kriegsende, lag sie schliesslich bei ca. 26'000 (davon 12'000 aus Italien, 7200 aus Deutschland, 2500 aus Frankreich, 2500 aus Österreich-Ungarn sowie 1130 aus Russland). Im Gegensatz zu politischen Flüchtlingen, denen ehrenwerte Motive zugebilligt wurden, galten die Deserteure und Kriegsdienstverweigerer als Drückeberger. Da aber Elsässern oder Italienern, die nicht in der deutschen bzw. österreichischen Armee dienen wollten, auch politische Beweggründe zugestanden wurden, verbot der Bundesrat am 30. Juni 1916 die Abschiebung von Deserteuren und Refraktären über Kantons- und Landesgrenzen. Die Beteiligung von Flüchtlingen an politischen Manifestationen und Tumulten, die ökonomischen Schwierigkeiten sowie die Oktoberrevolution 1917 führten zu einer fremdenfeindlichen Polemik in der Presse, auf die der Bundesrat mit einer Verschärfung des Ausweisungsvorbehalts zur Bekämpfung antimilitaristischer Umtriebe und mit der Einführung eines Arbeitsdienstes reagierte. Nach Konflikten und Streiks mit bzw. von Arbeitsdetachementen ordnete der Bundesrat am 1. Mai 1918 die Rückweisung sämtlicher Deserteure und Kriegsdienstverweigerer an der Grenze an, musste diesen Beschluss aber nach Protesten in der Bevölkerung kurz vor Kriegsende zurücknehmen. In der Nachkriegszeit verhinderten in vielen Ländern unklare oder restriktive Amnestiegesetze die Rückkehr der Flüchtlinge; Ende 1920 hielten sich noch mehr als 18'000 Flüchtlinge in der Schweiz auf, von denen viele im Land blieben.

Die restriktive Flüchtlingspolitik 1918-1945

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Haltung der Behörden zunehmend restriktiver. Infolge der starken Einwanderung italienischer Arbeiter seit den 1890er Jahren und der Konflikte, die sich aus dem Zusammenarbeiten und -leben mit Ausländern eingestellt hatten, war eine gewisse Fremdenfeindlichkeit entstanden. Der Begriff Überfremdung tauchte 1914 im behördlichen Vokabular auf und wurde auch in der Zwischenkriegszeit weiter verwendet, obwohl seit Kriegsbeginn die ausländische Bevölkerung wieder spürbar abnahm. Da der Landesstreik als ein von sozialistischen Flüchtlingen aus dem Ausland angeheizter Revolutionsversuch interpretiert wurde, nahm die Linksfeindlichkeit der Behörden zu (Antikommunismus). Weil der Bundesrat zudem die Hoffnung hegte, dass ein Entgegenkommen in der Flüchtlingspolitik Benito Mussolini dazu bewegen könnte, seine irredentistischen Gelüste auf das Tessin zu zügeln, wurde die Praxis gegenüber den in Italien ab 1924 verfolgten Sozialisten, Kommunisten und anderen Antifaschisten zunehmend härter (Antifaschismus).

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten setzte ein Massenexodus von Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, engagierten Christen, Intellektuellen und Künstlern aus Deutschland ein, der die Schweiz vor noch nie dagewesene Probleme stellte. Die Schweizer Behörden legten bereits im Frühjahr 1933 die bis 1944 angewandte Unterscheidung zwischen politischen und anderen Flüchtlingen fest: Als politische Flüchtling galt nur, wer persönlich verfolgt war; lediglich hohe Staatsbeamte und Führer von Linksparteien wurden dieser Kategorie zugeteilt. Infolge dieser engen Auslegung gewährte die Schweiz von 1933 bis 1945 insgesamt nur 644 Personen politisches Asyl. Alle anderen Flüchtlinge waren in rechtlicher Hinsicht bloss Ausländer; ihre Behandlung regelte das Bundesgesetz über den Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern, das 1934 in Kraft trat. Administrativ waren die kantonalen Polizeibehörden für die Flüchtlinge zuständig; die Polizeiabteilung des EJPD koordinierte die Massnahmen. Die Schweiz sah sich als Erstaufnahme- und Transitland, das die Flüchtlinge sobald wie möglich wieder verlassen sollten. Um die Flüchtlinge zur Weiterreise zu bewegen, wurde ihnen ein Erwerbsverbot auferlegt.

Der Grenzposten in Les Verrières im Juni 1940 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, Actualités suisses Lausanne).
Der Grenzposten in Les Verrières im Juni 1940 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, Actualités suisses Lausanne). […]

1937 befanden sich ca. 5000 Flüchtlinge in der Schweiz. Mit dem Anschluss Österreichs und den Pogromen vom November 1938 verschärfte sich die Lage; die Gesamtzahl der sich in der Schweiz befindenden Flüchtlinge stieg 1938-1939 zwischenzeitlich auf 10'000 bis 12'000 an. Der Versuch der internationalen Staatengemeinschaft, sich für die Flüchtlingsfrage auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen, war auf der Konferenz von Evian gescheitert, weil es weltweit an der Bereitschaft zur Aufnahme der in Deutschland und Österreich verfolgten jüdischen Menschen fehlte. Viele Länder verschärften vielmehr im Anschluss an die Konferenz ihre Einwanderungsgesetzgebung, was die Schweiz in ihrer restriktiven Haltung bestärkte. Die zum Teil judenfeindlich gesinnten schweizerischen Behörden – in der Fremdenpolizei lassen sich antisemitische Tendenzen schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung nachweisen – beschlossen im August 1938, Flüchtlinge ohne Visum zurückzuweisen, führten ab dem 4. Oktober für deutsche «Nichtarier» die Visumspflicht ein und handelten mit Deutschland die Kennzeichnung der Pässe von Personen jüdischen Ursprungs mit dem sogenannten Judenstempel aus.

Während des Zweiten Weltkriegs gewährte die Schweiz insgesamt ca. 60'000 Zivilpersonen für eine Dauer von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und Faschisten Schutz; davon waren ca. 28'000 Juden. Ausserdem wurden während des ganzen Kriegs 104'000 Soldaten, geflohene Kriegsgefangene, Deserteure und Dienstverweigerer aufgenommen, darunter 43'000 Franzosen und Polen im Juni 1940 nach der Niederlage Frankreichs und mehr als 21'000 Italiener im Herbst 1943 (Internierungen). Schliesslich durften rund 60'000 Kinder aus den umliegenden Ländern und etwa 66'000 Grenzflüchtige sich für einige Zeit in der Schweiz erholen. Die Gesamtzahl von ca. 290'000 besagt nicht, wieviel Flüchtlinge sich jeweils zu einem gewissen Zeitpunkt in der Schweiz aufhielten. Bei Kriegsbeginn befanden sich zwischen 7000 und 8000 regulär eingereiste Emigranten in der Schweiz, darunter 5000 Juden. Ende 1942 hielten sich ca. 16'200 Flüchtlinge in der Schweiz auf, Mitte 1943 waren es ca. 21'500. Ende 1943 beherbergte die Schweiz 73'000 Ausländer (davon 22'000 Juden), bei Kriegsende schliesslich rund 115'000 Flüchtlinge. Die meisten von ihnen verliessen rasch nach Kriegsende das Land.

Aufgrund einer antisemitischen Haltung, zur Abschreckung und vielleicht auch aus Angst um die Versorgungslage – prekärer als die Ernährungsfrage waren allerdings die Probleme der Unterkunft und der Kleidung – beschlossen die Schweizer Behörden im August 1942, Flüchtlinge aus Rassengründen seien grundsätzlich wegzuweisen, obwohl sie um die Gefährdung der Juden wussten. Das Verbot wurde von vielen Bürgern, Behördenvertretern und Exponenten der Landeskirchen unterlaufen, was vielen Flüchtlingen das Leben rettete. Erst gegen Ende 1943, als sich die Niederlage der Achsenmächte abzeichnete, lockerten die Behörden schrittweise ihre restriktive Politik, und am 12. Juli 1944 erteilte das EJPD die Weisung, alle an Leib und Leben gefährdeten Zivilpersonen aufzunehmen. Während des Krieges wurden schätzungsweise 20'000 Personen an den Grenzen weggewiesen und 10'000 Personen von Schweizer Konsulaten kein Visa erteilt; die Betroffenen wurden zum Teil in den deutschen Konzentrationslagern ermordet. Bei diesen Abgewiesenen handelt es sich zu einem grossen Teil um Personen jüdischer Herkunft. Gegen Kriegsende wurden auch nationalsozialistische und faschistische Funktionäre und Kriegsverbrecher abgewiesen, die in der Schweiz Unterschlupf suchten.

Offene Grenzen 1945-1982

Ein ungarisches Paar bei seiner Ankunft in der Schweiz. Fotografie von Anita Niesz, November 1956 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz.
Ein ungarisches Paar bei seiner Ankunft in der Schweiz. Fotografie von Anita Niesz, November 1956 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz.

Nach 1945 war die schweizerische Flüchtlingspolitik vom Bemühen um die Bewältigung der restriktiven Haltung der Bundesbehörden während der Kriegszeit geprägt. Von 1945 an gelangten jährlich 200-400 Flüchtlinge aus Osteuropa in die Schweiz. Diese wurden als Opfer der totalitären kommunistischen Systeme von der Bevölkerung offen empfangen, zumal die bis in die 1970er Jahre andauernde Hochkonjunktur keine wirtschaftlichen Ängste aufkommen liess. Da die Schweiz geschützt inmitten von Nato-Staaten lag, hatte der Bundesrat auch keine aussenpolitischen Bedenken, den Flüchtlingsbegriff sehr extensiv – die persönliche Verfolgung stellte keine Bedingung für die Asylgewährung dar – zu interpretieren; schon 1947 hatte er das Dauerasyl und Bundesbeiträge für die Flüchtlingsfürsorge eingeführt.

12'000 Ungarn flohen in die Schweiz, nachdem die Truppen des Warschauer Paktes den Aufstand 1956 niedergeschlagen hatten; von ihnen blieb ca. die Hälfte. Die Unterdrückung durch China veranlasste viele Tibeter nach der Niederwerfung des Aufstands von 1959 zur Flucht in die Schweiz; in den frühen 1980er Jahren war die Tibeter Gemeinde hierzulande mit 1700 Angehörigen die grösste ausserhalb Asiens. 12'000 Tschechoslowaken kamen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Paktes 1968. Während des Vietnam-Krieges flüchteten zwischen 1975 und 1983 rund 8200 Südvietnamesen vor den siegreichen Kommunisten in die Schweiz. Auch 1600 Chilenen, die von 1973 bis ca. 1983 vor der Diktatur Pinochets flohen, fanden Aufnahme; der Versuch des Bundesrats, deren Kontingent auf 200 zu limitieren, hatte Proteste der Bevölkerung hervorgerufen. Die zunehmend schwierige Lage in den Ostblock-Staaten (Wirtschaftskrise, Unterdrückung der Solidarnosc in Polen, Ceausescu-Regime unter anderem) liess ab 1981 die Zahl der jährlichen Ostflüchtlinge in der Schweiz von 500-1000 auf 2500 ansteigen.

Nicht nur die Aufnahmepraxis, sondern auch das 1979 verabschiedete, liberale schweizerische Asylgesetz bezeugte das Bemühen, wieder an die Asyltradition des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen. Ausserdem ist die Schweiz seit 1951 Mitglied des Exekutivkomitees des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR).

Neue Flüchtlingsströme

Nach 1980 nahm die Zahl der Flüchtlinge stetig zu, was die in der Schweiz seit den 1960er Jahren geführten Auseinandersetzungen über das Ausmass der Einwanderung wieder verschärfte (Initiativen gegen Überfremdung wurden 1965, 1969, 1972, 1974, 1977, 1985 und 1995 eingereicht). Lag die Zahl der Personen aus dem Asylbereich (Ausländerausweise F und N) 1981 noch bei 2670, so stieg sie bis 1991 auf 63'410 und dann, nach einem zweijährigen Rückgang, bis 1999 als Folge des Kosovo-Konflikts auf 107'010 an, bevor sie bis 2008 wieder auf 40'794 absank. Die Nettobelastung der öffentlichen Hand für Flüchtlingsausgaben im Inland stieg von 373 Mio. Franken 1990 auf 1307 Mio. Franken im Jahr 2000 und betrug 2007 noch 730 Mio. Franken. Abgesehen von den Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien handelte es sich jetzt überwiegend nicht mehr um Europäer, sondern um Migranten aus asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten, die in der Regel vor dem Hintergrund von Bürgerkriegssituationen und schlechter wirtschaftlicher Lage nach Europa auswanderten und deshalb auch als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet werden. Dieses Migrationspotential war schon in einem Bundesratsbericht von 1991 auf einige 100 Mio. Menschen geschätzt worden. Zusätzlichen Druck erfuhr die Schweiz wegen der Erstasyl-Abkommen, in denen sich die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. der EU in Schengen bzw. Dublin auf eine gemeinsame Asylpolitik verpflichteten, was dazu führte, dass in diesen Staaten abgewiesene Flüchtlinge in Europa praktisch nur noch in der Schweiz um Asyl nachsuchen konnten.

Schweizerische Asylstatistik 1980-2000
Schweizerische Asylstatistik 1980-2000 […]

Die Behörden reagierten auf die steigenden Zahlen der Asylsuchenden, deren politische Instrumentalisierung seit den 1990er Jahren vor allem der SVP spektakuläre Wahlerfolge verschuf, mit einem Bündel von Massnahmen. Der Flüchtlingsbegriff wurde wieder enger ausgelegt. Zugleich wurden aber auch sogenannte Gewaltflüchtlinge – dieser Status wurde anlässlich der Asylgesetzrevision 1998 geschaffen – gruppenweise für eine begrenzte Zeit aufgenommen, bis sich die Lage im Herkunftsland entschärft hat. Damit stieg die Zahl derjenigen, die trotz abgelehntem Asylgesuch nicht in die Heimat zurückgeschafft werden konnten. Daneben bemühten sich die Behörden, das langdauernde Prüfungsverfahren zu beschleunigen und Vollzugsprobleme bei der Ausweisung durch die Schaffung von Anreizen für die freiwillige Rückkehr, Rückübernahmeabkommen, die kompromisslose Durchsetzung von Ausweisungsentscheiden usw. in den Griff zu bekommen. Drittens versuchte die Schweiz mit entwicklungs-, friedens- und menschenrechtspolitischen Massnahmen, Krisen bereits in den Ursprungsländern zu bekämpfen. 2006 erfuhr das Asylgesetz eine weitere, restriktivere Revision. Im Rahmen der Abkommen von Schengen/Dublin integrierte sich die Schweiz 2008 in die Erstasyl-Konventionen der EU.

Quellen und Literatur

  • M. Vuilleumier, Flüchtlinge und Immigranten in der Schweiz, 1989 (franz. 1987)
  • W. Kälin, «Die schweiz. Flüchtlings- und Asylpolitik», in Neues Hb. der schweiz. Aussenpolitik, hg. von A. Riklin et al., 1992, 761-775
  • "Zuflucht Schweiz", hg. von C. Goehrke, W.G. Zimmermann, 1994
  • G. Kreis, «Schweiz. Asylpolitik in Vergangenheit und Gegenwart», in Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europ. Kontext seit 1914, hg. von G. Heiss, O. Rathkolb, 1995, 264-279
  • U. Gast, Von der Kontrolle zur Abwehr: die eidg. Fremdenpolizei im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft 1915-1933, 1997
  • G. Kreis, «Die schweiz. Flüchtlingspolitik der Jahre 1933-1945», in SZG 47, 1997, 552-579
  • R. Broggini, La frontiera della speranza: gli ebrei dall'Italia verso la Svizzera 1943-1945, 1998
  • J. Stadelmann, Umgang mit Fremden in bedrängter Zeit, 1998
  • «Les réfugiés en Suisse durant la Seconde Guerre mondiale», in Actes SJE, 2002, 253-338
  • Veröff. UEK, Schlussber. 2002, 107-180
  • J. Lätt, Réfuge et écriture: les écrivains allemands réfugiés en Suisse, 1933-1945, 2003
  • S. Erlanger, "Nur ein Durchgangsland", 2006
  • B.-E. Lupp, Von der Klassensolidarität zur humanitären Hilfe, 2006
Weblinks

Zitiervorschlag

Albert Portmann-Tinguely, Philipp von Cranach; Albert Portmann-Tinguely; Philipp von Cranach: "Flüchtlinge", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.01.2016. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016388/2016-01-07/, konsultiert am 19.03.2024.