Die Anrede G. verdrängte in den 1880er und 90er Jahren den nach 1848 auch in der deutschschweiz. Arbeiterbewegung gebräuchl. Begriff "Bürger", der im sozialist. und marxist. Milieu eine Umdeutung erfahren hatte. Während sich die Anrede G. in der Sozialdemokratischen Partei bis heute hielt, wurde sie in den Gewerkschaften seit den 1920er, v.a. aber in den 30er Jahren durch "Kollege" ersetzt. Im MA und in der frühen Neuzeit diente der Ausdruck G. allgemein der Bezeichnung von Partnern, die, in rechtl. Hinsicht auf der gleichen Ebene stehend, gemeinsam anteilmässige Nutzungsrechte (Genossenschaft) ausübten - der Begriff war also sowohl mit egalitären wie auch demokrat. Inhalten konnotiert.
In der Arbeiterbewegung der franz. Schweiz differierten die versch. Anreden je nach Epoche, polit. Strömung und Berufsgruppe; eine genaue zeitl. Abgrenzung der einzelnen Begriffe ist nicht möglich. Im sozialist.-demokrat. Milieu um 1848 war offenbar die Anrede citoyen gebräuchlich. In Protokollen aus dem gewerkschaftl. Umfeld dominierte bis 1880 das eher förml. Monsieur; allerdings tauchte auch die Anrede confrère schon regelmässig auf. Der Ausdruck collègue wurde dagegen erst um die Jahrhundertwende üblich und in Gewerkschaftskreisen wie in der dt. Schweiz in der Zwischenkriegszeit allmählich zur Norm. Während der I. Internationale (1864-72) benutzte man die Begrüssungsformel citoyen; die Wendung citoyens et chers camarades ist z.B. 1869 bezeugt. Ab 1871 wurde der Ausdruck compagnon im libertären Umfeld immer geläufiger; er setzte sich auch bei den Anarchisten und den revolutionären Syndikalisten durch (gleiches gilt für den ital. Begriff compagno). Erst Ende des 19. Jh. wurde die Anrede camarade zunehmend populärer, ohne dass die anderen Anredeformen völlig verschwanden.
Im Italienischen erscheint der Begriff compagno zum ersten Mal in den Akten der 1. nationalen Konferenz der ital. Sektionen der Internationale im August 1872. Er lehnt sich an das franz. compagnon an und stand einige Jahre in Konkurrenz zu den Anreden fratello und cittadino.