Die Gelehrten Gesellschaften, auch Sozietäten genannt, waren im Ancien Régime exklusive Vereine mit überwiegend männlichen Mitgliedern. Hauptsächlich im Kontext der Aufklärung entstanden, verfolgten sie – neben der expandierenden Presse, dem sich ausdifferenzierenden Literaturbetrieb, den Briefwechseln unter Gelehrten und deren zunehmenden Reiseaktivitäten – ihrem Selbstverständnis nach die Verbreitung gelehrten Wissens und die moralische Vervollkommnung ihrer Mitglieder. Die Gelehrten Gesellschaften gelten als Keimzellen der politischen Öffentlichkeit in der Formierung der bürgerlichen Gesellschaft (Bürgertum). Im 20. Jahrhundert wandelten sie sich häufig zu parastaatlichen, ausseruniversitären Institutionen zur Förderung und Vernetzung der wissenschaftlichen Forschung.
Ancien Régime

Im Zug der in Europa ab dem 16. Jahrhundert zu beobachtenden Ausbreitung der Akademien entstanden auch in der Schweiz locker organisierte, privatrechtliche Gelehrtenvereinigungen. Im Zürcher Collegium Insulanum (1679-1709) philosophierten jüngere Professoren und Geistliche an wöchentlichen Zusammenkünften im freien Diskurs über Themen aus allen Wissensgebieten jener Zeit. 1702 entwarf der Basler Medizinprofessor Theodor Zwinger das Projekt eines Zusammenschlusses der Schweizer Gelehrten, aber erst seinem Sohn Johann Rudolf Zwinger gelang die Bildung der Acta Helvetica physico-mathematico-botanico-medica, welche die Erträge der schweizerischen Forschung publizierte (1751-1787). Im Verschwiegenen arbeitete dagegen die Gelehrte Gesellschaft in Chur (1749-1760), die unter der Leitung des Autodidakten Johann Heinrich Lambert stand.
Während diese Sozietäten nach universaler Gelehrsamkeit strebten, beschränkten sich andere auf einzelne Disziplinen und mündeten später in berufsständischen Organisationen. Die medizinischen Gesellschaften, so etwa die Société des médecins (Genf 1713-1716, 1775-1885) und die Helvetische Gesellschaft korrespondierender Ärzte und Wundärzte (Zürich 1788-1807), bezweckten den Erfahrungsaustausch unter Fachkollegen und die Professionalisierung der Ausbildung. Johann Jakob Bodmer unternahm mit seiner Helvetischen Gesellschaft (Zürich 1727-1746) die erste Aufarbeitung schweizerischer Quellenbestände und schuf damit die Grundlage einer kritischen Geschichtsschreibung. Die von seinem Mitstreiter Johann Jakob Breitinger initiierte Asketische Gesellschaft (ab 1768) bot angehenden oder amtierenden Pfarrern ein Forum zur Erörterung pastoraler Fragen. Die Ökonomischen Gesellschaften beschäftigten sich vor allem mit den physiokratischen Ideen und deren Verbreitung.
Grösste Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaften in der Schweiz kam den Naturforschenden Gesellschaften zu. Die erste grosse und dauerhafte Vereinigung, die Modellcharakter hatte, war die von Johannes Gessner geleitete Physikalische, später Naturforschende Gesellschaft (Zürich 1746). Ihr folgten die Société des sciences physiques (Lausanne 1783-1790), die Privatgesellschaft naturforschender Freunde (Bern 1786) und die Société de physique et d'histoire naturelle (Genf 1790). Diese Gelehrten Gesellschaften bauten wissenschaftliche Sammlungen auf, führten Experimente durch und verbreiteten naturkundliches Wissen vor und neben den staatlichen Lehr- und Forschungseinrichtungen. 1797 wurden die Freunde der vaterländischen Physik und Naturgeschichte vom Berner Naturforscher Jakob Samuel Wyttenbach zu einem Treffen nach Herzogenbuchsee zusammengerufen, um nach dem Beispiel der Helvetischen Gesellschaft eine eidgenössische Plattform zu schaffen.
19. und 20. Jahrhundert

Die Gelehrten Gesellschaften trugen besonders im 19. Jahrhundert zur Entwicklung des nationalen Bewusstseins und zur Emanzipation des Bürgertums bei. Ihre Mitglieder bekleideten oft einflussreiche Positionen und bildeten das Verbindungsglied zwischen dem Bürgertum und der staatlichen Verwaltung. Die Gelehrten Gesellschaften nahmen öffentliche Aufgaben wahr und vereinten Bürger verschiedener Konfession und Herkunft. Den Gelehrten boten sie ausserhalb der Universitäten Gelegenheit zu freiem fachlichen Gedankenaustausch. Die Tradition der im 18. Jahrhundert entstandenen Gelehrten Gesellschaften wurde im 19. und 20. Jahrhundert durch Neugründungen fortgesetzt, die sich durch ihre naturwissenschaftliche, medizinische, geisteswissenschaftliche, juristische und technische Ausrichtung voneinander unterscheiden. Dazu kamen die Bildungsanstrengungen der Arbeitervereine.
1815 regte Henri-Albert Gosse, Apotheker und Initiator der Societé de physique et d'histoire naturelle in Genf, die Gründung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft (SNG) an. Parallel zur Diversifizierung der Wissenschaften entstanden verschiedene weitere kantonale und regionale Naturforschende Gesellschaften. Sie waren als Mitgliedgesellschaften ebenso in der SNG vertreten wie die später entstandenen gesamtschweizerischen Fachgesellschaften, zum Beispiel die Entomologische Gesellschaft (seit 1858) oder die Schweizerische Geologische Gesellschaft (seit 1882). Während sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nur einzelne Gesellschaften naturwissenschaftlicher Ausrichtung neu bildeten, zeigte sich von den 1940er bis in die 1980er Jahre eine kontinuierliche Zunahme von neuen Gelehrten Gesellschaften, die in der Dachorganisation der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften vereint sind. Praxisbezogene naturwissenschaftliche Forschung wurde auch in den medizinischen Gesellschaften betrieben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich kantonale ärztliche Standesorganisationen; 1901 wurde die Foederatio Medicorum Helveticorum (FMH) gegründet (Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften). Die auf eidgenössischer Ebene organisierten technischen Gelehrten Gesellschaften entstanden mehrheitlich von den 1940er bis in die 1960er Jahre und bauten auf Vorgängerorganisationen wie der Technischen Gesellschaft Zürich (1825) auf (Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften).
Fast alle geisteswissenschaftlichen Gesellschaften entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bereits 1811 war die Schweizerische Geschichtforschende Gesellschaft von Niklaus Friedrich von Mülinen ins Leben gerufen worden. Die vor allem bernisch ausgerichtete Gesellschaft verlor aber nach 1830 ihre Bedeutung und wurde 1841 von Johann Caspar Zellweger als Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz (seit 2001 Schweizerische Gesellschaft für Geschichte) neu gegründet. Daraufhin entstanden Gesellschaften für historische Teildisziplinen, zum Beispiel die Numismatische Gesellschaft (1879), die Gesellschaft für schweizerische Kunstgeschichte (1880), die Heraldische Gesellschaft (1891) und die Schweizerische Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (1907, seit 2006 Archäologie Schweiz). 1864 wurde die Gesellschaft für Volkskunde gegründet, die im 20. Jahrhundert einen grossen Mitgliederzuwachs erfuhr. Mit der weiteren Spezialisierung der Disziplinen im 20. Jahrhundert und der Einrichtung neuer Lehrstühle an den Universitäten entstanden weitere Gelehrte Gesellschaften. Die Schweizerische Geisteswissenschaftliche Gesellschaft (heute Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften) als Dachorganisation konnte bei ihrer Gründung 1946 zehn Gelehrte Gesellschaften vereinen. Die während und nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Gelehrten Gesellschaften verfolgten verstärkt universalistische, kosmopolitische Ziele, so zum Beispiel die Schweizerische Gesellschaft für Psychologie (1943), die Schweizerische Vereinigung für Politische Wissenschaft (1959) oder die Schweizerische Theologische Gesellschaft (1965). Viele Neugründungen erfolgten in den 1970er Jahren, wie zum Beispiel die der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung (1970) und der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung (1975).
Bereits im 19. und verstärkt im 20. Jahrhundert öffnete sich ein Teil der Gelehrten Gesellschaften auch wissenschaftlich interessierten Laien, Studenten und Jungakademikern. Je nach Mitgliederstruktur zeigen sich unterschiedliche Typen: Die Bandbreite reicht von der rein akademischen Vereinigung mit elitärem Anstrich bis zur mehrere tausend Mitglieder umfassenden Publikumsgesellschaft. Während im 19. Jahrhundert unter den Wissenschaftlern die Pflege der kollegialen Beziehungen, die Förderung des Wissensgebiets und die Wahrnehmung der nationalen Interessen im Vordergrund standen, sind im 20. Jahrhundert weitere Ziele dazugekommen: die Nachwuchsförderung, die Schaffung von Publikationsmöglichkeiten besonders in Form von Zeitschriften, wissenschaftspolitische Aufgaben und die Kontaktpflege mit internationalen Vereinigungen.
Quellen und Literatur
- Gesellschaft und Gesellschaften, hg. von N. Bernard, Q. Reichen, 1982
- U. Im Hof, F. de Capitani, Die Helvet. Ges., 2 Bde., 1983
- E. Erne, Die schweiz. Sozietäten, 1988
- Geselligkeit, Sozietäten und Vereine, hg. von H.U. Jost, A. Tanner, 1991
- Europ. Sozietätsbewegung und demokrat. Tradition, hg. von K. Garber, H. Wismann, 1996
Kontext | Geisteswissenschaftliche Gesellschaften, naturforschende Gesellschaften, wissenschaftliche Gesellschaften |