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Abstinenzbewegung

Die Alkohol-Abstinenzbewegung gehörte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu den wichtigen sozialen Bewegungen der Schweiz und umfasste auf ihrem Höhepunkt rund 60'000 Mitglieder. Im Totalverzicht auf Alkohol durch den Einzelnen sah die Bewegung nicht nur den Ansatz zur Heilung von Trinkern (Alkoholismus), sondern auch zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und zur sittlichen Reform der gesamten Gesellschaft (Sittlichkeitsbewegung).

Die Idee der Alkohol-Abstinenz ging ursprünglich von puritanisch ausgerichteten kirchlichen Gemeinschaften Nordamerikas aus und verbreitete sich ab etwa 1830 rasch in der Alten Welt, vor allem in skandinavischen Ländern und in England. Beeindruckt durch die englische Bewegung gründete der freikirchliche Waadtländer Pfarrer Louis-Lucien Rochat 1877 in Genf den ersten Verein des Blauen Kreuzes. Hintergrund war der stark gestiegene Alkoholkonsum in der Schweiz: Vorab der Schnapsverbrauch hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark erhöht, was unter anderem mit der Verbreitung der Kleinbrennerei unter Bauern und der damit verbundenen billigen Herstellung von Kartoffelschnaps, dem sogenannten Härdöpfeler, zu tun hatte (Branntwein).

Plakat zum 75-jährigen Jubiläum des Blauen Kreuzes 1877-1952, von H. Pache (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat zum 75-jährigen Jubiläum des Blauen Kreuzes 1877-1952, von H. Pache (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Das Schweizerische Blaue Kreuz verband die christliche Mission und die "Rettung" von Trinkern und arbeitete dabei sowohl mit der Evangelisch-reformierten Landeskirche wie auch mit Freikirchen zusammen. Nicht nur der Alkohol, sondern auch das Wirtshaus an sich und die "Genusssucht" wurden vom Blauen Kreuz als Bedrohung für die gesellschaftliche Moral gegeisselt. 1895 erhielt das Blaue Kreuz eine katholische Entsprechung, die Schweizerische Katholische Abstinenten-Liga (SKAL), welche weitgehend innerhalb der kirchlichen Strukturen arbeitete, aber nie die Bedeutung des Blauen Kreuzes erreichte.

Plakat des Schweizerischen Bundes abstinenter Frauen, gestaltet von Jeanne Lombard, um 1900 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat des Schweizerischen Bundes abstinenter Frauen, gestaltet von Jeanne Lombard, um 1900 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Einen wichtigen Impuls erfuhr die Abstinenzbewegung Mitte der 1880er Jahre durch den Basler Professor Gustav von Bunge, der die sogenannte sozialhygienische Richtung begründete: Die Volksgesundheit und die Angst vor der Schädigung des menschlichen Erbguts standen für ihn im Mittelpunkt des Abstinenzgedankens. Bunge verlangte Abstinenz nicht nur für ehemalige Trinker und sozialpädagogisch tätige "Trinkerretter", sondern für die gesamte Bevölkerung, würden doch Trinker gerade durch die "Mässigen" verführt. Zweiter Gründungsvater der sozialhygienischen Richtung war Auguste Forel, der mit der Gründung der Heilanstalt Ellikon an der Thur 1888 wesentlich zu den Fortschritten in der Trinkerbehandlung beitrug. Aus der sozialhygienischen Bewegung gingen der Alkoholgegner-Bund (Organ: "Die Freiheit"), der Bund abstinenter Frauen, der sozialistische Abstinentenbund sowie die Schweizer Grossloge des internationalen Guttempler-Ordens hervor.

Die Wandlung der Konsumgewohnheiten weg von Wein und Schnaps hin zu Bier und alkoholfreien Getränken, aber auch die Veränderung der gesellschaftspolitischen Situation führten zu einem Bedeutungsverlust der Abstinenzbewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Noch 1908 stimmte das Volk der Initiative zum Verbot des Absinths mit 63% Ja-Stimmen zu. Ein Volksbegehren, welches den Gemeinden die Möglichkeit geben wollte, die Prohibition einzuführen (Gemeindebestimmungsrecht), wurde hingegen 1929 mit 67% Nein-Stimmen verworfen. Insgesamt war die Abstinenzbewegung gesellschaftlich erfolgreicher als politisch. Sie trug wesentlich dazu bei, dass der Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit problematisiert, der gesellschaftliche Trinkzwang gemildert und Behandlungssysteme für Alkoholabhängige entwickelt wurden.

Quellen und Literatur

  • U. Tecklenburg, Abstinenzbewegung und Entwicklung des Behandlungssystems für Alkoholabhängige in der Schweiz, 1983
  • R. Trechsel, Die Gesch. der Abstinenzbewegung in der Schweiz im 19. und frühen 20. Jh., 1990
Weblinks

Zitiervorschlag

Rolf Trechsel: "Abstinenzbewegung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 21.01.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016445/2015-01-21/, konsultiert am 29.03.2024.