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Freikörperkultur

Die Freikörperkultur entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus der Naturheilbewegung (Naturheilkunde) und der Badekultur (Bäder). Ihre Vertreter wandten sich gegen die als verknöchert betrachtete Gesellschaft und setzten dagegen eigene Entwürfe, mit denen sie insbesondere den Wert der «natürlichen» Nacktheit im Gegensatz zu den rigiden bürgerlichen Kleidungsvorschriften betonten (Lebensreformbewegung). Wegbereiter waren der «Sonnendoktor» Arnold Rikli, der in Veldes (Bled, heute Slowenien) ein sogenanntes Lichtluftbad führte, sowie Auguste Rollier, der Pionier der Heliotherapie. Sonne, Licht, Luft und Nacktheit gehörten auch zur Ideenwelt der Gründer des Monte Verità in Ascona, die in ihrem Sanatorium 1900-1920 ein grosses, Aufsehen erregendes Sonnenbad betrieben. Ebenfalls vor dem Ersten Weltkrieg bestanden in der Schweiz verschiedene Ableger des deutschen «Treubunds für aufsteigendes Leben», der eine sexualfeindliche Linie verfolgte und sich zur Idee der Rassenhygiene bekannte.

Als in Deutschland die kämpferischen Anfangszeiten der Freikörperkultur beendet waren, gründete Eduard Fankhauser auf Anregung des Lebensreformers Werner Zimmermann 1927 mit Gleichgesinnten den konfessionell und politisch neutralen Schweizer Lichtbund (ab 1938 Organisation der Naturisten in der Schweiz, ONS). Er strebte umfassende Gesundheit durch Alkohol- und Tabakabstinenz (Abstinenzbewegung), Vegetarismus, die Pflege des Geistes und Gesundheitssport an. Der Lichtbund sorgte mit zwölf Prozessen (1926-1944), die Fankhauser für das «Recht auf den nackten Körper» führte, für Publizität. 1937 richteten Eduard Fankhauser und Elsa Fankhauser-Waldkirch das Naturistengelände in Thielle am Neuenburgersee ein. Der Mitgliederbestand wuchs bis 1948 auf 2500 an, wozu die erstmals 1928 erschienene Zeitschrift «Die neue Zeit» wesentlich beitrug. Auch die 1961 gegründete gleichnamige Stiftung verfolgte das Ziel der Förderung einer gesunden Freizeitgestaltung im Sinne der Lebensreform. Wegen ideologischer und persönlicher Differenzen trennte sich 1956 ein Teil der Mitglieder unter der Leitung von Carl Frank von der ONS und gründete die Schweizer Naturisten-Förderation. Beide Organisationen sind in der Schweizer Naturistenunion zusammengefasst, die 2003 rund 10'000 Aktivmitglieder zählte und Mitglied der Internationalen Naturisten-Föderation ist.

In den Anfängen der Freikörperkultur waren deren Anhänger Aussenseiter, weil sie die gesellschaftlich tabuisierte Nacktheit öffentlich auslebten. Als ab Mitte der 1960er Jahren die Medien, die Werbung und die Rockkultur die Nacktheit thematisierten, gewann die Freikörperkultur als Freizeitaktivität an Anerkennung. Dass die neue Nacktheit, die sich vorwiegend auf den weiblichen Körper erstreckte, kommerziell genutzt wurde und das neue Körperbewusstsein den Idealkörper propagierte, entsprach jedoch nicht mehr dem ursprünglichen Gedankengut der Reformbewegung.

Quellen und Literatur

  • O. König, Nacktheit: soziale Normierung und Moral, 1990
  • M. von Graffenried, H. Szeemann, Nackt im Paradies, 1997
  • P.F. Kopp, 75 Jahre ONS, 2002
  • A. Schwab, «Ohne Hintergedanken? Ambivalente Stilisierung der Nacktheit auf dem Monte Verità», in Nacktheit, hg. von K. Gernig, 2002, 111-130
Weblinks

Zitiervorschlag

Andrea Weibel: "Freikörperkultur", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.12.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016447/2009-12-17/, konsultiert am 06.12.2024.