Der Schweizerische Handels- und Industrieverein (SHIV), genannt Vorort, seit 2000 mit der Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft zum Verband Economiesuisse zusammengeschlossen, ist der älteste der vier grossen Schweizer Wirtschaftsverbände (Schweizerischer Gewerbeverband, Schweizerischer Gewerkschaftsbund, Schweizerischer Bauernverband). Er wurde 1870 von kantonalen Kollegien gegründet, die über ihre Textilindustrien global agierten und bestrebt waren, handelspolitische Standesinteressen zu einen. Als Dachverband der kantonalen Handelskammern und der bestehenden Wirtschaftsverbände sollte der SHIV die Interessen der Privatwirtschaft gegenüber den noch schwach ausgebildeten staatlichen Stellen vertreten. Die enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Privatwirtschaft prägte in der Folge die schweizerische Wirtschaftspolitik (Verbände).
Gründerzeit (1870-1914)
An der Gründungsversammlung vom 12. März 1870 wurde statutarisch die Delegiertenversammlung und eine geschäftsleitende Präsidialbehörde eingesetzt. Deren Name Vorort – später als Bezeichnung für den SHIV verwendet – und die Bestellung in zweijähriger Rotation waren der alten Eidgenossenschaft entlehnt. Einem beratenden Ausschuss als drittem Gremium gehörten von der Versammlung gewählte Delegierte sowie die Mitglieder der Präsidialbehörde an. Bereits in den ersten Jahren entwickelte sich der Verband zum Partner des Bundes in Sachfragen. Das Tätigkeitsfeld des SHIV erweiterte sich von der Informationssammlung und -bündelung über die Beratung des Bundes bis hin zur Formulierung sachpolitischer Vorlagen. Unterstützt durch Bundesbeiträge erhob der Verband Wirtschaftsstatistiken oder verfasste daraus ab 1878 seinen jährlichen Bericht über Handel und Industrie der Schweiz. Zentrales Thema war im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Zollpolitik (Zölle), die zunächst von den kantonalen Handelskammern der Industrieregionen als wichtigsten Trägern des SHIV mitgestaltet wurden. Während der Zolltarifrevisionen bis zum Ersten Weltkrieg traten zahlreiche Branchenverbände als neue Sektionen bei. 1882 wurde der beratende Ausschuss des SHIV in die Schweizerische Handelskammer umgewandelt, welche die wirtschaftspolitischen Richtlinien festlegte. Sekretäre aus dem Kanton Zürich hatten sich zu unverzichtbaren Fachreferenten entwickelt, so dass der Vorort ab 1882 auch nicht mehr rotierte, sondern seinen Sitz in Zürich festlegte. Zürichs Vormachtstellung wurde mit der Statutenrevision desselben Jahres zementiert, die neben der Wiederwählbarkeit des abtretenden Vororts auch vierjährige Wahlperioden vorsah. Im Anschluss ebnete der Zürcher Präsident Conrad Cramer-Frey als Prototyp des gut vernetzten Wirtschaftslobbyisten dem SHIV den Weg zum einflussreichen Dachverband.
Weltkriege und Zwischenkriegszeit (1914-1945)
1900 schuf der SHIV das Amt eines Direktors, das von Alfred Frey besetzt wurde. Im Ersten Weltkrieg konnte Frey die kriegswirtschaftliche Organisation massgeblich mitgestalten. In der anschliessenden Weltwirtschaftskrise kam es im Verband neben finanziellen Schwierigkeiten zu einer vorübergehenden internen Zerreissprobe zwischen sogenannten freihändlerischen und protektionistischen Positionen in der Zollpolitik. Ein stetiger Zuwachs an Sektionen führte währenddessen zu mehreren Statutenrevisionen. Jene von 1931 brach unter anderem die Zürcher Vormachtstellung. Zürich blieb zwar ständiger Sitz der Geschäftsleitung. Das Vorortgremium wurde nun aber von der Schweizerischen Handelskammer gewählt und in den Kantonen und Branchen breiter abgestützt. Den Beginn einer institutionalisierten internationalen Kooperation privatwirtschaftlicher Verbände markiert das Jahr 1922, als der Vorort das Sekretariat des schweizerischen Nationalkomitees der Internationalen Handelskammer übernahm. In der Weltwirtschaftskrise intensivierte auch der Bundesrat die Zusammenarbeit mit den Wirtschaftsspitzen. Die Abwertung des Frankens 1936 (Abwertung 1936) bereitete dem SHIV allerdings eine herbe Niederlage, hatte er doch im Kampf gegen die Kriseninitiative lange eine deflationäre Politik befürwortet. Die Einführung des Verrechnungs- und Clearingsystems im internationalen Zahlungsverkehr (Clearing) stärkte den Vorort, dessen Direktor Einsitz in die Clearingkommission nahm, als Akteur der Aussenhandelspolitik. Heinrich Homberger wurde in dieser Phase und für ein Vierteljahrhundert zur dominierenden Verbandspersönlichkeit. Als Mitglied der Ständigen Wirtschaftsdelegation des Bundes spielte er auch in den Verhandlungen mit Alliierten und Achsenmächten vor und während des Zweiten Weltkriegs eine zentrale Rolle. Als Garant für den Interessensausgleich zwischen den Verbänden wurden Homberger und der SHIV nun zum wichtigsten Partner des Bundes für die innere Absicherung der Aussenwirtschaftspolitik.
Vom Bilateralismus zum Multilateralismus (1945-2003)
Mit dem Wirtschaftsartikel von 1947 erhielt der Einbezug der Unternehmerverbände in die staatliche Wirtschaftspolitik eine Verfassungsgrundlage. Der Ausbau der sozialen Marktwirtschaft in der Nachkriegszeit begünstigte die innenpolitische Einflussnahme durch Kommissionsarbeit und Vernehmlassungen. Ergänzendes wirtschaftspolitisches Lobbying und Medienarbeit betrieb die neue Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft, die sogenannte Wirtschaftsförderung, mit welcher der SHIV inhaltliche und organisatorische Absprachen traf. Seit der ersten europäischen Integrationsphase der 1950er Jahre blieb der im Bilateralismus erprobte SHIV supranationalen Einigungsprozessen gegenüber skeptisch eingestellt. In Zusammenarbeit mit der Handelsabteilung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements war er zwar für den Beitritt zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) und später für die Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta). In den Wirtschafts- und Industriebeirat der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) oder in Industrieverbände wie die Union of Industrial and Employers’ Confederation of Europe (Unice, heute Businesseurope) bettete sich der SHIV international auch stärker ein und eröffnete 1989 ein Büro in Brüssel. Einen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) schloss er aus, befürwortete aber den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Nach dem EWR-Nein 1992 sprach sich der SHIV gegen den Beitritt zur Europäischen Union (EU) und für den bilateralen Weg aus. Global tätige multinationale Konzerne, aber auch kleine und mittlere Unternehmen verfolgten hingegen zum Teil divergierende Interessen, was sich auf das verbandspolitische Engagement der Mitglieder niederschlug. Dazu wurden Vorwürfe der Schwerfälligkeit und Bürokratielastigkeit des SHIV laut. Die formelle Auflösung des SHIV erfolgte 2003, ihm gehörten zu diesem Zeitpunkt 19 Handelskammern, 91 Branchenverbände und 59 weitere Mitglieder an. Der Nachfolgeverband Economiesuisse wurde gegründet, um die wirtschaftspolitische Kompetenz des SHIV mit der professionellen Kommunikation und Kampagnenführung der Wirtschaftsförderung zu verbinden. 2020 vertrat Economiesuisse rund 100’000 Unternehmen mit je ca. 2 Mio. Beschäftigten im In- und Ausland.
Präsidenten und Direktoren des SHIV bzw. Economiesuisse
Präsident | Amtsdaten | Direktor | Amtsdaten |
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Alfred Ernst | 1870-1872 | ||
Leonhard Steiner | 1872-1874 | ||
Carl Emil Viktor Gonzenbach | 1874-1876 | ||
Alphons Koechlin | 1876-1878 | ||
Konrad Bürkli | 1878-1880 | ||
Ernest Pictet | 1880-1882 | ||
Conrad Cramer-Frey | 1882-1900 | ||
Hans Wunderly-von Muralt | 1900-1917 | Alfred Frey | 1900-1924 |
Alfred Frey | 1917-1924 | Ernst Wetter | 1924-1939 |
John Syz | 1924-1934 | Heinrich Homberger | 1939-1965 |
Hans Sulzer | 1935-1951 | Peter Aebi | 1966-1970 |
Carl Koechlin | 1951-1964 | Gerhard Winterberger | 1970-1987 |
Hans Robert Schwarzenbach | 1964-1970 | Kurt Moser | 1987-1998 |
Etienne Junod | 1970-1976 | Rudolf Ramsauer | 1998-2007 |
Louis von Planta | 1976-1987 | Pascal Gentinetta | 2007-2013 |
Pierre Borgeaud | 1987-1993 | Rudolf Minsch (ad interim) | 2013-2014 |
Andres F. Leuenberger | 1994-2001 | Monika Rühl | 2014- |
Ueli Forster | 2002-2007 | ||
Gerold Bührer | 2007-2012 | ||
Rudolf Wehrli | 2012-2013 | ||
Heinz Karrer | 2013-2020 | ||
Christoph Mäder | 2020- |
Quellen und Literatur
- Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich, Zürich, Vorort-Archiv.
- Hulftegger, Otto: Der Schweizerische Handels- und Industrie-Verein, 1870-1882, 1920.
- Wehrli, Bernhard: Aus der Geschichte des Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins, 1870-1970, 1970.
- Zimmermann, Beat R.: Verbands- und Wirtschaftspolitik am Übergang zum Staatsinterventionismus. Dargestellt anhand der Mitwirkung des Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins und der Kaufmännischen Gesellschaft Zürich bei der Ausgestaltung der schweizerischen Aussenhandelspolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert, 1980.
- Hauser, Benedikt: Wirtschaftsverbände im frühen schweizerischen Bundesstaat 1848-74. Vom regionalen zum nationalen Einzugsgebiet, 1985.
- Gees, Thomas: «Interessenclearing und innere Absicherung», in: Hug, Peter; Kloter, Martin (Hg.): Aufstieg und Niedergang des Bilateralismus. Schweizerische Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik 1930-1960: Rahmenbedingungen, Entscheidungsstrukturen, Fallstudien, 1999, S. 141-172.
- Meier, Martin; Frech, Stefan et al.: Schweizerische Aussenwirtschaftspolitik 1930-1948. Strukturen – Verhandlungen – Funktionen, 2002 (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, 10).
- Humair, Cédric: Développement économique et Etat central (1815-1914). Un siècle de politique douanière suisse au service des élites, 2004.
Variante(n) | SHIV
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Kontext | Industriesekretariat |