
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) ist die grösste und politisch bedeutendste Dachorganisation schweizerischer Arbeitnehmerverbände. Im November 1880 beschloss der Kongress des sogenannten Alten Schweizerischen Arbeiterbunds in Olten die Selbstauflösung und die Bildung einer reinen Gewerkschaftsorganisation. Aktiv wurde der SGB aber erst nach Genehmigung der Statuten und der Wahl des Vororts im April 1881. Weil die beschränkten Mittel vieler lokaler Gewerkschaften die Mitgliedschaft in drei übergeordneten Organisationen nicht zuliessen, stand der SGB in Konkurrenz sowohl zu den Zentralverbänden (Berufs- oder Industriegewerkschaften) als auch zu den Arbeiterunionen. Eine wesentliche Stärkung brachte 1891 die Eingliederung der Allgemeinen schweizerischen Arbeiterreservekasse, eines Streikfonds. Das innere Erstarken der Zentralverbände, die überdies zunehmend dem SGB beitraten, verschärfte die Kompetenzkonflikte. Diese Streitigkeiten und die Auseinandersetzungen um die Strategie, mit der der SGB auf die Konkurrenz durch die aufkommenden christlichen Gewerkschaften reagieren sollte, bewirkten 1900-1908 eine ständige Diskussion der Statuten. Zuerst ging es um die weltanschauliche Neutralität, die 1906 mit dem Bekenntnis zur Klassenkampf-Theorie aufgegeben wurde. Dann erfolgte die entscheidende Gewichtsverlagerung zu den Zentralverbänden, die 1906 die Funktionen der Reservekasse übernahmen und über den 1908 geschaffenen Gewerkschaftsausschuss, ein von ihren Funktionären dominiertes Parlament, den SGB kontrollierten. Dieser blieb als Dachverband organisatorisch und finanziell schwächer und hat keinen direkten Zugriff auf Einzelmitglieder. Ohne Unterstützung durch die Zentralverbände ist er seither handlungsunfähig. Den Bedeutungsverlust in der Gestaltung der industriellen Beziehungen konnte der SGB auf politischer Ebene kompensieren.
Präsidenten und Präsidentinnen des SGB
Präsident | Amtsdaten |
---|---|
Ludwig Witt | 1884-1886 |
Johann Kappes | 1886 |
Ludwig Witt | 1886-1888 |
Albert Spiess | 1888 |
Georg Preiss | 1888-1890 |
Rudolf Morf | 1890-1891 |
Conrad Conzett | 1891-1893 |
Eduard Hungerbühler | 1893-1894 |
Eduard Keel | 1894-1896 |
Lienhard Boksberger | 1896-1898 |
Alois Kessler | 1898-1900 |
Heinrich Schnetzler | 1900-1902 |
Niklaus Bill | 1902-1903 |
Karl Zingg | 1903-1908 |
Emile Ryser | 1909-1912 |
Oskar Schneeberger | 1912-1934 |
Robert Bratschi | 1934-1953 |
Arthur Steiner | 1954-1958 |
Hermann Leuenberger | 1958-1968 |
Ernst Wüthrich | 1969-1973 |
Ezio Canonica | 1973-1978 |
Richard Müller | 1978-1982 |
Fritz Reimann | 1982-1990 |
Walter Renschler | 1990-1994 |
Christiane Brunner und Vasco Pedrinaa | 1994-1998 |
Paul Rechsteiner | 1998-2018 |
Pierre-Yves Maillard | 2019- |
a Co-Präsidium
Nachdem sich im Landesstreik 1918 die Stärke der freien Gewerkschaften gezeigt hatte, übernahm der SGB die Funktion des Neuen Schweizerischen Arbeiterbunds als Repräsentant der Arbeiterschaft bei den Bundesbehörden; er entsandte fortan Vertreter in die Expertenkommissionen des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements und von den 1930er Jahren an auch in diejenigen der übrigen Departemente. Die Klassenkampftheorie verlor an Bedeutung und verschwand 1927 aus den Statuten. Zunehmend wurde der SGB als einer der vier Spitzenverbände (Verbände) der schweizerischen Wirtschaft wahrgenommen und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg in tripartite Absprachen (Sozialpartnerschaft) einbezogen. Auch in Abstimmungskämpfen spielte er gelegentlich eine führende Rolle (z.B. Referendum gegen Lex Schulthess 1924, Kriseninitiative 1935); in der Blütezeit der Integration ins vorparlamentarische Verfahren verzichtete er aber fast ganz darauf und ergriff zwischen 1951 und 1974 kein Referendum. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel erschwerte vor allem ab den 1970er Jahren die innere Konsensfindung und untergrub den Anspruch, die gesamte Arbeiterschaft zu repräsentieren; zunehmend fand sich der SGB in der Opposition, auf betrieblicher Ebene gegen den Abbau kollektiver Regelung der Arbeitsbedingungen, auf politischer gegen die Einschnitte bei der sozialen Sicherheit.
Zur Zeit der Reorganisation 1908 zählte der SGB 20 Zentralverbände, 1928 trotz mehrerer Neueintritte (v.a. Eisenbahn und PTT) wegen verschiedenen Fusionen nur mehr 15. Danach blieben Mutationen bis in die 1990er Jahre selten. Für die Anfangsjahre fehlt eine zuverlässige Mitgliederstatistik; Ende 1886 wurde die Grenze von 1000 Personen überschritten, 1890 die von 5000 und 1896-1898 folgte ein Sprung von weniger als 8000 auf ca. 14'000, 2015 zählte der SGB mehr als 360'000 Mitglieder.
Mitgliederzahlen der Verbände des SGB 1910-2015
Jahr | SMUV | GBH | GBI | VHTL | UNIA | SEV | VPOD | Übrigea | Total |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
1910 | 24 600 | 15 400 | 5 300 | 2 000 | 2 500 | 16 300 | 66 100 | ||
1920 | 82 700 | 23 400 | 19 500 | 38 600 | 10 200 | 49 100 | 223 500 | ||
1940 | 65 800 | 35 100 | 22 800 | 31 600 | 18 500 | 38 800 | 212 600 | ||
1950 | 101 500 | 65 700 | 39 400 | 57 000 | 31 100 | 82 600 | 377 300 | ||
1960 | 130 300 | 83 300 | 42 000 | 61 300 | 36 900 | 83 200 | 437 000 | ||
1975 | 144 200 | 111 000 | 31 200 | 58 700 | 40 000 | 86 400 | 471 500 | ||
1980 | 132 300 | 113 400 | 29 900 | 57 200 | 42 000 | 85 100 | 459 900 | ||
1985 | 118 300 | 115 200 | 28 400 | 57 900 | 40 400 | 83 300 | 443 500 | ||
1990 | 110 900 | - | 124 500 | 26 600 | 57 800 | 41 600 | 82 500 | 443 900 | |
1995 | 102 500 | - | 121 500 | 22 100 | 59 500 | 40 500 | 73 700 | 419 800 | |
2000 | 90 900 | - | 91 000 | 17 100 | 53 600 | 36 600 | 96 900 | 386 100 | |
2005 | - | - | - | - | 203 100 | 50 200 | 36 100 | 93 800 | 383 200 |
2010 | - | - | - | - | 193 400 | 45 700 | 35 500 | 97 400 | 372 000 |
2015 | - | - | - | - | 201 200 | 42 200 | 35 100 | 82 600 | 361 100 |
kursive Zahlen = Verband bestand damals noch nicht in dieser Form. |
a Unter "Übrige" sind zusammengefasst: PTT-Union, GDP, VBLA (bis 1991), GTCP (bis 1992) sowie verschiedene Kleinverbände.