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Verdingung

Der Begriff Verdingung tritt in zahlreichen Zusammenhängen auf und umschreibt eine vertragliche Abmachung, die in gewissen Fällen eine Arbeitsleistung und deren Entschädigung beinhaltet. Für die Sozialgeschichte von besonderem Interesse ist die Verdingung als Fremdplatzierung von meist armen, sowohl älteren, gebrechlichen Menschen als auch Kindern, die weder bei der eigenen Familie noch in einer Anstalt untergebracht werden konnten. Die Aufgabe der Fürsorge war die Unterbringung der Betroffenen in einer Pflegefamilie gegen eine vertraglich abgemachte Entschädigung (deshalb auch Verkostgeldung oder Verakkordierung genannt). Bei den verdingten Kindern spielt im Gegensatz zum Pflegekind der Arbeitseinsatz des Kindes eine wichtige Rolle (Kinderarbeit).

Für Waisen, Findelkinder (Kindesaussetzung) sowie arme bzw. illegitime Kinder (Illegitimität), die der elterlichen Obhut entzogen wurden, gab es ab dem Spätmittelalter verschiedene Möglichkeiten der Fremderziehung, die regional unterschiedlich bevorzugt wurden: Sie wurden bei Verwandten in Pflege gegeben, bei Fremden als Verding- oder Pflegekinder untergebracht, kurzfristig bei wechselnden Familien verdingt (Kehr, Umgang) oder in ein Spital, Armen- oder Waisenhaus gesteckt, bis sie – meistens ab dem zwölften Lebensjahr – selber für ihren Unterhalt sorgen oder eine Lehre antreten konnten.

Karikatur aus dem Gukkasten, die 1841 unter dem Titel "Industriezweige" erschienen ist (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Karikatur aus dem Gukkasten, die 1841 unter dem Titel "Industriezweige" erschienen ist (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Die Tradition der Familienplatzierung als ältere Form der Verdingung war in allen Landesteilen und sowohl in städtischen wie auch in ländlichen Gebieten bekannt, nur dass die Stadtbewohner ihre Angehörigen aus wirtschaftlichen Überlegungen oft auf dem Land unterbrachten. Für die Fürsorgebehörde standen die Kosten im Zentrum, deshalb entschied man sich meistens für die Verdingung, denn sie war für den Steuerzahler kostengünstiger als der Unterhalt in einer Anstalt. Zuweilen spielte auch die Überlegung eine Rolle, dass die Unterbringung in einer «intakten» Familie den betroffenen Kindern eine gute Erziehung, vielleicht auch eine Berufsausbildung ermöglichen würde. Verdingt wurde gewöhnlich auf ein Jahr, so dass die fremdplatzierten Menschen selten länger als zwei oder drei Jahre im gleichen Haushalt blieben. Vielerorts fanden regelmässige Verdingmärkte (Bettlergemeinden) statt, bei denen die Not leidenden Menschen in einer öffentlichen Absteigerung bzw. Mindersteigerung auf dem Marktplatz derjenigen Familie zugeschlagen wurde, die am wenigsten Kostgeld verlangte. Für die (meist bäuerlichen) Familien bedeutete dieser Beitrag der Fürsorge ein willkommenes Nebeneinkommen. Die zusätzliche, billige Arbeitskraft der Kinder war aber ebenso wichtig. Häufig wurden Verding- und Pflegekinder auch Opfer von Missbrauch jeglicher Art (Vernachlässigung, sexuelle Ausbeutung, Gewalt, Kinderhandel).

In den schweizerischen Städten existierten Waisenhäuser bereits seit dem 17. Jahrhundert. In ländlichen Gegenden setzten sich Waisenhäuser, Rettungs- und Armenerziehungsinstitute ― und damit die als fortschrittlich geltende Anstaltserziehung ― dagegen erst seit der Kritik an der Verdingung, wie sie zum Beispiel Johann Heinrich Pestalozzi, Jeremias Gotthelf oder Johann Konrad Zellweger äusserten, im 19. Jahrhundert durch. Trotz des seit Beginn des 19. Jahrhunderts wachsenden Widerstands gegen die Absteigerungen (in Luzern wurden sie z.B. 1856 verboten) fanden solche in manchen Kantonen (z.B. Waadt, Bern, Genf) noch Ende des 19. Jahrhunderts statt. Das Verdingsystem verschwand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Verbesserung des Anstaltswesens (Professionalisierung des Sozialwesens) und dem Inkrafttreten des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (1912), das eine verschärfte Pflegekinderaufsicht (Artikel 307) durch die Vormundschaftsbehörde (Artikel 316) einführte.

Quellen und Literatur

  • A. Denzler, Jugendfürsorge in der alten Eidgenossenschaft, 1925
  • Idiotikon 13, 572-582
  • H. Brunner, Luzerns Ges. im Wandel, 1981
  • Aufwachsen ohne Eltern, hg. von J. Schoch et al., 1989
  • R. Gadient, Bettler, Frevler, Armenhäusler, 1991
  • J.M. Niederberger, Kinder in Heimen und Pflegefam., 1997
  • M.-A. Lovis, «Mise aux enchères de l'entretien des indigents dans les communes jurassiennes au XIXe siècle», in Actes SJE, 2006, 263-297
  • Versorgt und vergessen, hg. von M. Leuenberger, L. Seglias, 2008 (42010)
Weblinks

Zitiervorschlag

Markus Lischer: "Verdingung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.03.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016581/2013-03-04/, konsultiert am 19.03.2024.