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Anstaltswesen

Anstaltswesen umfasst begrifflich den Bereich der geschlossenen Fürsorge und bezeichnet ein System von spezifischen Internierungspraktiken sowie den Komplex an entsprechenden öffentlichen und privaten Institutionen der Versorgung und Verwahrung. Das Anstaltswesen war in seiner Entwicklung seit dem Spätmittelalter einem starken Wandel unterworfen, blieb aber geprägt von der Dialektik zwischen gesellschaftlichen Integrations- und Segregationsmechanismen.

Hervorgegangen aus kirchlichen Institutionen, bildeten das Siechenhaus und das Spital die klassischen spätmittelalterlichen Anstalten der Fürsorge und Versorgung. Während das Siechenhaus vor allem der seuchenhygienischen Absonderung von Menschen mit ansteckenden Krankheiten diente, erscheint das Spital als multifunktionale Anstalt spätmittelalterlicher Armenfürsorge: Herberge für mittellose Reisende (Hospiz), Pfrundhaus, Versorgungsanstalt für bedürftige Verwitwete, Waisen und Findelkinder, Krankenhaus für unheilbar Kranke, Verwahrungsanstalt für Irre (Psychisch Kranke), aber auch Gefängnis. Die im 13. Jahrhundert in zahlreichen Schweizer Städten (zum Beispiel St. Gallen, Winterthur, Schaffhausen, Bern) erfolgten Neugründungen stehen in engem Zusammenhang mit Prozessen der Kommunalisierung und Zentralisierung der Spitalfürsorge. Diese Prozesse setzten sich im 14. und 15. Jahrhundert fort und verliefen vor dem Hintergrund der sich wandelnden gesellschaftlichen Wahrnehmung der Armut und der neuen Konzepte städtischer und staatlicher Armenpolitik, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu einem Wendepunkt in der Armenfürsorge und im Anstaltswesen führten. Dabei handelte es sich um eine ganz Mittel- und Westeuropa erfassende Reformbewegung, in deren Kern die strikte Differenzierung in würdige und unwürdige sowie in eigene und fremde Arme stand.

Leitkonzepte der neuen Armenfürsorge waren die Arbeitspflicht für Arme, ein zunehmend verschärftes Bettelverbot sowie das sich allgemein durchsetzende Heimatprinzip. Diese Entwicklung des Armenwesens liess begrifflich klar unterschiedene Gruppen von Bedürftigen entstehen, für die entsprechend differenzierte administrative Verfahren galten. Während unwürdige fremde Arme generell vertrieben wurden (Bettlerjagden, Bettlerfuhren), war den unwürdigen eigenen Armen (Müssiggänger, Liederliche) neben der öffentlichen Zwangsarbeit in Schellenwerken die zunehmend mit Arbeitszwang verbundene Internierung vorbehalten. Diese auf dem europäischen Kontinent von den Niederlanden ausgehende Internierungsbewegung wird von der historischen Forschung als «Grosse Einschliessung» der Armut thematisiert (Michel Foucault, Bronislaw Geremek). Die Gründung von Arbeitshäusern als Massnahme gegen das Bettelwesen war in England bereits mit dem Armengesetz von 1576 institutionalisiert worden. Für die Schweiz galten die 1595-1596 in Amsterdam eröffneten Zucht- und Korrektionshäuser für Männer und Frauen (Rasphuis, Spinhuis) als Anstalten mit Vorbildcharakter. In den meisten Schweizer Städten ermöglichte die Multifunktionalität der bestehenden Anstalten entsprechende Erweiterungen zu Zwangsarbeits- und Korrektionsanstalten, denen mit Beginn des 17. Jahrhunderts zahlreiche Neugründungen folgten, so zum Beispiel in der Stadt Genf, wo im 1535 gegründeten Hôpital Général 1631 eine Abteilung als Maison de Discipline eröffnet wurde. Neben Genf wurden auch in Zürich 1637, Bern 1657, St. Gallen 1661 und Basel 1667 solche Zuchthäuser oder Zuchthausabteilungen eingerichtet. Für die weitere Entwicklung massgeblich war der Doppelcharakter dieser Anstalten: Sie blieben als Armenhäuser Institutionen der geschlossenen Armenfürsorge, wurden aber durch die Prinzipien des Freiheitsentzugs und des Arbeitszwangs zunehmend mit Zwecken des Strafvollzugs verknüpft. Arbeit wurde in den Anstalten zur korrektiven Disziplin für Deviante und Delinquente. Der damit verbundene Gedanke der Erziehung und Umerziehung der Insassen und Insassinnen zu moralisch besseren und wirtschaftlich nützlicheren Mitgliedern der Gesellschaft trat im Verlauf des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund. Die in Hausordnungen immer wieder festgelegte anstaltsinterne Disziplin (Fleiss, Arbeitsleistung, Einhalten des Stundenplans, Sauberkeit usw.), die durch spezifische Sanktionen (Körperstrafen, Isolierung) aufrechterhalten wurde, gilt daher auch als ein über die Anstaltsmauern hinaus wirkendes Instrument gesamtgesellschaftlicher Sozialdisziplinierung. Die Idee jedoch, mit der Internierung und Erziehung zur Arbeit die bettelnden Armen und Nicht-Sesshaften zu integrieren und gleichzeitig über die Anstaltsproduktion wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen, liess sich nur selten realisieren. Die Zucht- und Arbeitshäuser hatten vor allem den Charakter von Strafanstalten.

Alltag in der Basler Anstalt für Geisteskranke in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aquarell von Louis Dubois (Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD Falk. A 151).
Alltag in der Basler Anstalt für Geisteskranke in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aquarell von Louis Dubois (Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD Falk. A 151). […]

Damit wurde mit Beginn des 19. Jahrhunderts im Anstaltswesen ein Prozess der Ausdifferenzierung manifest, der von den multifunktionalen Anstalten des Spätmittelalters zu einer Vielzahl von spezialisierten und räumlich getrennten Anstalten weist, der in der Prägung des Begriffs «Anstaltenjahrhundert» zum Ausdruck kommt. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatten zunächst die Städte damit begonnen, mit der Gründung von Waisenhäusern die stationäre Versorgung von Kindern aus der Mehrzweckeinrichtung Spital herauszulösen. Die neuen Institutionen blieben aber organisatorisch und auch räumlich mit den Armen-, Zucht- und Arbeitshäusern gekoppelt. Die endgültige Ablösung erfolgte unter dem Einfluss der pädagogischen Ideale der Aufklärung erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts (Bern 1757, Zürich 1771). Als Alternative zu den Waisenhäusern führte seit Beginn des 19. Jahrhunderts die philanthropische Pädagogisierung der Armenfrage im Schosse der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschafften zu Gründungen von Armenerziehungs- und Rettungsanstalten für Kinder und Jugendliche (Bächtelen Bern 1840, Sonnenberg Luzern 1859, Erziehungsheime). Die Neugründungen erfolgten durch private Initiative und orientierten sich an den Mustereinrichtungen von Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Jakob Wehrli und Philipp Emanuel von Fellenberg (Hofwil). Das Ziel der Armenerzieher war die Bekämpfung der als moralisches Problem definierten Armut durch Arbeitserziehung, zunächst in Landwirtschaftsbetrieben, dann aber auch in industriellen Anstalten. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in der Schweiz fast 200 dieser Einrichtungen, die ab 1844 im Schweizerischen Armenerzieherverein organisiert waren (nach diversen Reorganisationen und Namenswechseln ab 2003 Curaviva, Verband Heime und Institutionen Schweiz). Im Zusammenhang mit der sich wandelnden Wahrnehmung der sozialen Frage, die Armut nicht mehr als individuell moralisches, sondern als sozioökonomisches Problem auffasste, änderten sich auch die Konzepte der Anstaltserziehung. Die Arbeitserziehungsanstalten wurden schliesslich mit der Ausgestaltung des sozialen Wohlfahrtsstaates definitiv von der Armenfürsorge entkoppelt und dienten im Rahmen der eingreifenden staatlichen Sozialfürsorge zunehmend der Verhinderung von «Verwahrlosung» durch Erziehungsdefizite in Familie und Schule. Unter dem Motto «erziehen statt strafen» wurden ferner zur Zwangserziehung von delinquenten Jugendlichen und jungen Erwachsenen spezifische Anstalten des Massnahmenvollzugs geschaffen. Die von Carl Albert Loosli 1924 in seinem Roman «Anstaltsleben» angeprangerten Missstände und eine Fotoreportage von Paul Senn für «Die Nation» 1944 bereiteten in der Öffentlichkeit eine Diskussion über Reformen im Anstaltswesen vor, die in die «Heimkampagne» der frühen 1970er Jahre mündete (Jürg Schoch).

Auf dem Weg zum modernen schweizerischen Straf- und Massnahmenvollzug für erwachsene Männer und Frauen führten die im 18. Jahrhundert begonnenen Reformen des Strafrechts im 19. Jahrhundert zu einer eigentlichen Welle von Neugründungen von Zucht-, Straf- und Zwangsarbeitsanstalten: 1826 Lausanne, 1839 St. Gallen, 1849 Thorberg, 1864 Lenzburg. Auch im Bereich des «Irrenwesens» (Psychiatrie) brachten die Prozesse der räumlichen und funktionalen Ausdifferenzierung im Zusammenhang mit neuen medizinischen und gesellschaftlichen Diskursen zahlreiche Neugründungen von Heil- und Pflegeanstalten für psychische Kranke: 1838 Genf, 1845 St. Pirminsberg (Gemeinde Pfäfers), 1855 Waldau (Gemeinde Bern), 1898 Mendrisio. Gleichzeitig entstanden wiederum vorwiegend auf private Initiative hin spezifische Einrichtungen für geistig Behinderte: 1841 Abendberg (Gemeinde Interlaken), 1849 Hottingen (heute Gemeinde Zürich), 1857 Basel, 1868 Bern. Während sich aus den Krankenpflegeabteilungen der spätmittelalterlichen Spitäler und Siechenhäuser im 19. Jahrhundert die städtischen und kantonalen Krankenhäuser entwickelten, konzentrierten sich im Bereich der geschlossenen Armenfürsorge die traditionellen Spitäler zunehmend auf unterstützungs- und pflegebedürftige alte Personen. Sie bilden die Vorläufer der Altersasyle und Alters- und Pflegeheime.

Quellen und Literatur

  • M. Foucault, Überwachen und Strafen, 1977 (franz. 1975)
  • B. Lescaze, Sauver l'âme, nourrir le corps, 1985
  • M. Mayer, Hilfsbedürftige und Delinquenten, 1987
  • B. Geremek, Gesch. der Armut, 1988 (21991)
  • J. Schoch et al., Aufwachsen ohne Eltern, 1989
  • A.-M. Piuz, L. Mottu-Weber, L'économie genevoise, de la Réforme à la fin de l'Ancien Régime, 1990, 142-164
  • Schritte zum Mitmenschen, 1994
  • N. Finzsch, R. Jütte, Institutions of Confinement, 1996
Weblinks

Zitiervorschlag

Rolf Wolfensberger: "Anstaltswesen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.11.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016582/2010-11-11/, konsultiert am 09.10.2024.