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Gotteshausbund

Nach dem Zusammenbruch des frühmittelalterlichen churrätischen Bischofsstaats (Churrätien, Diözese Chur) zu Beginn des 9. Jahrhunderts erstand dieser teilweise wieder ab dem 10. Jahrhundert durch Schenkungen der ottonischen Kaiser und ihrer Nachfolger. Die bischöflichen Kerngebiete lagen konzentriert an den Nord-Süd-Strassen, vor allem entlang der Septimer-Julier-Route. Der Bischof war im 14. Jahrhundert Landesherr und übte die hohe Gerichtsbarkeit in den Vier Dörfern (Fünf Dörfer), der Stadt Chur, im Oberhalbstein, Oberengadin und Münstertal aus, im Bergell, Schams und Rheinwald war er im Besitz alter Grafenrechte, und im Oberland, Unterengadin und Vinschgau verfügte er über Streubesitz und die niedere Gerichtsbarkeit.

Ab 1363 verschlechterte sich die Stimmung zwischen dem Bischof und seinen Untertanen. Die österreichischen Herzöge hatten die Grafschaft Tirol (mit Münstertal und Unterengadin) erworben und trachteten danach, die Gebiete des Bistums Chur an sich zu ziehen. Der landesfremde und häufig abwesende Churer Bischof Peter Gelyto von Böhmen, der sein Bistum schlecht verwaltete und es in Schulden stürzte, zeigte sich bereit, die weltliche Verwaltung samt Einkünften den Herzögen von Österreich gegen ein Jahrgeld zu überlassen. 1366 übertrug er denselben die Feste Fürstenburg im Vinschgau zu Lehen. Aus Besorgnis über diese Entwicklung versammelten sich Vertreter des Domkapitels, der Talschaften und der Stadt Chur 1365 in Zernez und darauf in revolutionärer Absicht am 29. Januar 1367 in Chur. Die Abgeordneten repräsentierten drei Stände: erstens die Geistlichkeit am bischöflichen Hauptsitz, zweitens die grossen Talgemeinden Domleschg und Schams (6 Boten), Oberhalbstein (4), Bergell (6), Oberengadin (3) und Unterengadin (2), welche durch Ministeriale oder andere Angehörige der lokalen Führungsschicht vertreten waren, drittens die Churer Stadtbürger. Diese Versammlung, welche den Landständen im Heiligen Römischen Reich nachempfunden war, tagte ohne Bischof und beschloss gegen ihn: Sie führte Mitbestimmungsrechte in der bischöflichen Verwaltung ein, sicherte sich Kontrollrechte in finanziellen Dingen und verbot dem Bischof jegliche Veräusserung von Gotteshausvermögen ohne ihre Zustimmung.

Ausschnitt aus der "Carte des Grisons et des communautez qui composent leurs ligues", die im zweiten Band des "Atlas historique" von Zacharias Châtelain und Nicolas Gueudeville 1718 in Amsterdam erschien (Universitätsbibliothek Bern, Sammlung Ryhiner).
Ausschnitt aus der "Carte des Grisons et des communautez qui composent leurs ligues", die im zweiten Band des "Atlas historique" von Zacharias Châtelain und Nicolas Gueudeville 1718 in Amsterdam erschien (Universitätsbibliothek Bern, Sammlung Ryhiner). […]

Die Beschlüsse von 1367 waren noch kein eigentliches Bündnis, sondern das Resultat einer Notgemeinschaft. Aber durch den Willen, sich periodisch wieder zu Bundstagen zu versammeln und die Landesverwaltung streng zu beaufsichtigen, gewann das «gemeine Gotteshaus» immer mehr an bundesähnlichem Charakter. 1409 setzten die Bundsleute einen Rat und einen Vogt für die bischöfliche Verwaltung ein. Konsequent wurde die Bevormundung der bischöflichen Machtstellung weiterverfolgt, bis diese mit den Ilanzer Artikeln von 1524 und 1526 fast vollständig aufgehoben wurde. Im Lauf des 15. Jahrhunderts rundete sich das Territorium des Gotteshausbunds durch den Einbezug der Vier Dörfer, des Avers und des obersten Albulatals, des Münstertals und des Puschlavs ab. 1498 verbündete sich der Gotteshausbund als zugewandter Ort mit der Eidgenossenschaft. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts begegneten sich die Vertreter des Gotteshausbunds mit denen der anderen beiden rätischen Bünde (Grauer Bund, Zehngerichtenbund) zu gemeinsamen aussenpolitischen Unternehmungen und Bundstagen. Nach dem Calvenkrieg 1499 entfremdete sich der Vinschgau dem Bistum Chur, und nach 1570 nahmen die politischen Vertreter des Gerichts Untercalven (also des Vinschgaus) nicht mehr an den bündnerischen Bundstagen teil. Mit dem Bundesvertrag aller Drei Bünde (Graubünden) von 1524 begann die Ära der kohärenteren Landespolitik des Freistaats. Insgesamt 63 Abgeordnete (Boten) vertraten nun 52 Gerichtsgemeinden im bündnerischen «Parlament», dem sogenannten Allgemeinen Bundstag, davon 22 Boten aus 17 Gerichtsgemeinden des Gotteshausbunds. Innerhalb des Gotteshausbunds erhielt die Stadt Chur die Stellung eines Vororts; der Churer Bürgermeister amtierte bis 1700 automatisch als Bundspräsident. Dies veranlasste des Öfteren bestimmte Zweige von prominenten Familien, ihren Wohnsitz nach Chur zu verlegen. In der Rangordnung der Drei Bünde befand sich der Gotteshausbund nach dem Grauen Bund an zweiter Stelle. Zu Differenzen mit dem Bischof kam es ab 1541 wegen der Bischofswahl, mit dem Grauen Bund 1550 wegen der Siegelung und dem Vorsitz. Die staatliche Ordnung der Drei Bünde hielt sich bis 1798, jedoch bewahrte der Gotteshausbund seine Funktion als Teil der politischen Organisation des Kantons Graubünden von 1803 bis 1854.

Quellen und Literatur

  • Fs. 600 Jahre Gotteshausbund, 1967
  • HbGR 1-2
  • R.C. Head, Demokratie im frühneuzeitl. Graubünden, 2001 (engl. 1995)
Weblinks
Weitere Links
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Zitiervorschlag

Martin Bundi: "Gotteshausbund", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.12.2007. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017154/2007-12-19/, konsultiert am 28.03.2024.