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Geistige Landesverteidigung

Als Geistige Landesverteidigung wird die von den 1930er bis in die 1960er Jahre dauernde politisch-kulturelle Bewegung bezeichnet, welche die Stärkung von als schweizerisch deklarierten Werten und die Abwehr der faschistischen, nationalsozialistischen und kommunistischen Totalitarismen zum Ziel hatte. Die Wurzeln der Geistigen Landesverteidigung liegen im Ersten Weltkrieg, der den totalen Charakter des modernen Krieges offenbarte und Verteidigungsanstrengungen auch in nichtmilitärischen Bereichen wie Wirtschaft und Kultur notwendig erscheinen liess.

Karikatur aus der Schweizer Radiozeitung, 1939, Nr. 31 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Karikatur aus der Schweizer Radiozeitung, 1939, Nr. 31 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Die russische Revolution und die vom faschistischen Italien (Faschismus) ausgehende Bedrohung der italienischen Schweiz (Irredentismus) sowie die neuen Möglichkeiten, die Radio und Film zur Verbreitung totalitärer Ideologien boten, bestätigten in den 1920er Jahren die Notwendigkeit, den demokratischen Rechtsstaat bereits in Friedenszeiten zu verteidigen. Der Begriff Geistige Landesverteidigung tauchte schon vor den 1930er Jahren auf, aber erst die Bedrohung der Schweiz durch das nationalsozialistische Deutschland (Nationalsozialismus) gab der Geistigen Landesverteidigung ihre primär antideutsche Prägung mit Schwergewicht in der Deutschschweiz. Unter dem Begriff «Elvetismo» entwickelte die italienische Schweiz eine besondere Form der Geistigen Landesverteidigung.

Ab 1933 verlangten Parlamentarier, Intellektuelle und Medienschaffende Massnahmen zur Stärkung der kulturellen Grundwerte der Schweiz; angestrebt wurde ein Schulterschluss über alle Parteien hinweg und die Überwindung der Klassengegensätze. In der bundesrätlichen Botschaft vom 9. Dezember 1938 erhielt die Geistige Landesverteidigung aus der Feder von Bundesrat Philipp Etter eine offizielle Formulierung. Darin wurden dem Rassismus, völkischen Nationalismus, der staatlichen Kulturpropaganda und dem Führerstaat eine Absage erteilt und ihnen die Grundwerte der Schweiz entgegengestellt: die Zugehörigkeit zu drei europäischen Kulturräumen, die kulturelle Vielfalt, der bündische Charakter der Demokratie und die Ehrfurcht vor der Würde und Freiheit des Menschen. Die Verteidigung dieser geistigen Werte wurde primär als Aufgabe des Bürgers, nicht des Staates, deklariert.

Plakat für den Film Füsilier Wipf, der 1938 von Hermann Haller und Leopold Lindtberg gedreht und von der Praesens Film AG produziert wurde (Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten).
Plakat für den Film Füsilier Wipf, der 1938 von Hermann Haller und Leopold Lindtberg gedreht und von der Praesens Film AG produziert wurde (Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten). […]

An der Landesausstellung 1939 in Zürich fand die Geistige Landesverteidigung ihren wirkungsvollen Ausdruck («Landigeist»). Sie stiess im Volk weitgehend auf Zustimmung. Da die «Eigenarten der Schweiz» nicht weiter konkretisiert wurden, blieb das Konzept der Geistigen Landesverteidigung ein Minimalprogramm, das nach vielen Seiten offen war. Unter ihrem breiten Dach fanden sich mit Ausnahme der Frontisten und eines Teils der Kommunisten die verschiedenen politischen Strömungen zusammen, welche die Geistige Landesverteidigung mit unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden Inhalten füllten: Die Liberalen hielten an der Verteidigung des freiheitlich-demokratischen Bundesstaates von 1848 und der Menschenrechte fest, die Konservativen setzten sich für Föderalismus, die Rechte der Familie und die Freiheit der Kirchen ein, die Linke forderte eine solidarische Volksgemeinschaft mit sozialer Gerechtigkeit, die Rechte plante eine neue, ständestaatlich organisierte, autoritäre Demokratie.

Als Instrumente der Geistigen Landesverteidigung wirkten Institutionen wie die 1938 als private Kulturorganisation gegründete Pro Helvetia, die Neue Helvetische Gesellschaft (NHG) und ab November 1939 die neue Armeesektion Heer und Haus, welche vor allem der staatlich gelenkten Kulturpropaganda aus Deutschland und Italien entgegentraten. Die Ausschaltung der ausländischen Konkurrenz sowie die politische und militärische Einschliessung der Schweiz begünstigten ein autarkes Kulturschaffen, welches auch durch Rückkehrer und Emigranten bereichert wurde. Einige Kulturbereiche erlebten eine Blüte (Verlagswesen, Theater, Radio, Presse, Film) oder etablierten sich neu (Tanzschaffen, Swing, Jazz). Das Rätoromanische wurde als vierte Landessprache anerkannt.

Bei Kriegsende wurde Heer und Haus aufgelöst, und die Pro Helvetia wandte sich der Kulturförderung zu. Um die «nationale Schicksalsgemeinschaft», wie sie sich seit 1933 herausgebildet hatte, in die Nachkriegszeit hinüberzuretten, gründeten Exponenten der Geistigen Landesverteidigung in der Westschweiz 1945 die Rencontres Suisses, 1947 den Schweizerischen Aufklärungsdienst (SAD) und 1948 die Coscienza svizzera als zivile Nachfolgeorganisationen. Mit dem Beginn des Kalten Krieges wurde der sowjetische Totalitarismus Zielscheibe der wieder belebten Geistigen Landesverteidigung. Trotz der antikommunistischen Stossrichtung behielt die Geistige Landesverteidigung anfänglich ihren offenen Charakter bei und repräsentierte vorerst ein breites Spektrum von links bis rechts: So zählte der katholisch-konservative Tessiner Staatsrat und spätere Bundesrat Giuseppe Lepori 1952 die Öffnung der Schweiz gegenüber Europa sowie die Solidarität mit anderen Völkern zu den Hauptaufgaben der Geistigen Landesverteidigung. Für den Katalog schweizerischer Grundwerte standen fortan auch Rechts- und Sozialstaat, Neutralität und starke Milizarmee.

Im Balanceakt zwischen der Stärkung der eigenen demokratischen Werte und dem Antikommunismus nahm in den 1950er Jahren der Abwehrgedanke und damit ein enger geistiger und politischer Isolationismus überhand. 1956 wurde die Dienststelle Heer und Haus wieder errichtet, 1959 entstand die Arbeitsgemeinschaft für Geistige Landesverteidigung (AGGLV), welche beide die Geistige Landesverteidigung in Volk und Armee verstärken wollten. Gegen den Ausbau der Geistigen Landesverteidigung opponierten kulturelle und intellektuelle Kreise, welche wie etwa Jean Rudolf von Salis der Geistigen Landesverteidigung geistige Bevormundung und Gesinnungsschnüffelei vorwarfen und sie als überholt ablehnten. Da auch der Bundesrat sie nicht mehr fördern wollte, wurde sie schrittweise liquidiert: 1962 löste sich die AGGLV auf, und Pro Helvetia und NHG stellten ihre Zusammenarbeit mit der Sektion Heer und Haus ein, welche ihrerseits die Tätigkeit auf die Förderung des Wehrwillens und die psychologische Kriegsführung einschränkte.

Karikatur, erschienen im Nebelspalter, 1969, Nr. 48 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern; e-periodica).
Karikatur, erschienen im Nebelspalter, 1969, Nr. 48 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern; e-periodica). […]

In den ausgehenden 1960er Jahren wurde die Geistige Landesverteidigung von der Jungen Linken als Instrument der ideologischen Indoktrination und gesellschaftlichen Disziplinierung scharf kritisiert. Als im Zivilverteidigungsbuch des EJPD von 1969 die Bedeutung der Geistigen Landesverteidigung im revolutionären Krieg nochmals betont wurde, brach ein Sturm der Entrüstung los, worauf man von offizieller Seite von der Geistigen Landesverteidigung endgültig Abschied nahm.

In der Historiografie wurde die Geistige Landesverteidigung ab den 1970er Jahren negativ beurteilt und auf die rechtsbürgerliche Spielart reduziert. Sie wurde als «helvetischer Totalitarismus» oder als «demokratischer Totalitarismus» gar in Faschismusnähe gerückt und zur Chiffre für Réduit, Nationalismus, Engstirnigkeit und Heimattümelei. Rechtsbürgerliche, zuweilen sogar rechtsextreme Werte wurden mit der Geistigen Landesverteidigung konnotiert. Erst in den 1990er Jahren brach die Geschichtswissenschaft die Reduktion der Geistigen Landesverteidigung auf ihre rechtskonservative Variante auf und arbeitete die antitotalitäre Stossrichtung und ihr politisch breites Spektrum heraus. Eine Gesamtdarstellung der Geistigen Landesverteidigung steht noch aus.

Quellen und Literatur

  • P. Etter, Geistige Landesverteidigung, 1937
  • «Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die Aufgaben der schweiz. Kulturwahrung und Kulturwerbung vom 9.11.1938», in Bundesbl. 90, Bd. 2, 1938, 985-1053
  • «G. Lepori, La difesa spirituale del paese, nei suoi presuppositi e nei suoi metodi», in Civitas 7, 1952, 364-373
  • O.F. FritschiGeistige Landesverteidigung während des Zweiten Weltkrieges, 1972
  • A. Lasserre, Schweiz: Die dunkeln Jahre, 1992 (franz. 1989)
  • I. PerrigGeistige Landesverteidigung im Kalten Krieg, 1993
  • T. Mäusli, Jazz und Geistige Landesverteidigung, 1995
  • J. Mooser, «Die "Geistige Landesverteidigung" in den 1930er Jahren», in SZG 47, 1997, 685-708 (mit Bibl.)
  • M. Piattini, La Radio della Svizzera italiana al tempo della "difesa spirituale" (1937-1945), 2000
  • R. Löffler, «"Zivilverteidigung" - die Entstehungsgesch. des "roten Büchleins"», in SZG 54, 2004, 173-187
Weblinks

Zitiervorschlag

Marco Jorio: "Geistige Landesverteidigung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.11.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017426/2006-11-23/, konsultiert am 19.03.2024.